Cineneh

Ich schreibe über Filme – unter anderem

Am 5. Juli 2024 wird der Musikdokumentarfilm Crossing The Bridge – The Sound of Istanbul von Mubi in restaurierter Fassung wieder ins Kino gebracht bzw. online angeboten. Hier ein Interview, dass ich damals zum Kinostart 2005 mit Fatih Akin führen durfte.

Aus dem Archiv von 2005

Sie vermitteln die Musikkultur Istanbuls in den Westen, ähnlich wie Wim Wenders das mit der kubanischen Musik getan hat. Wie gehen Sie mit der damit verbundenen Verantwortung um, wie war die Zusammenarbeit mit den Künstlern?

Die Basis ist gegenseitiges Vertrauen. Man hat sich kennen gelernt, man hat sich miteinander unterhalten, dann haben die angefangen zu spüren, daß wir das schon ernst meinen und sie auf keinen Fall durch den Kakao ziehen wollen. Diese Künstler, besonders die Großen, Orhan Gencebay und Sezen Aksu, machen sowas nicht fürs türkische Fernsehen – die haben eigentlich eine Abneigung dagegen.

Tatsächlich?

Ja, Sezen Aksu trifft niemanden vom Fernsehen, und Orhan Gencebay spielt zum Beispiel nicht live für irgendjemanden, der hat noch nie ein Konzert gegeben. Ich würde mal sagen: Die mochten uns. Und die haben vielleicht die Mission darin gesehen. Ich habe versucht alle Künstler so gleichwertig wie möglich zu behandeln, ob das nun die Musiker von der Straße sind oder ob das Orhan Gencebay ist. Ich wollte allen den selben Raum geben und alle auch so würdevoll wie möglich filmen. Würde war so ein Schlüsselding. Die haben begriffen, daß das Ganze für mich auch so eine Art Hommage ist.

Wie geht man an das Projekt ran? Was wählt man aus, was läßt man weg?

Es fing eigentlich damit an, daß wir nur Künstler treffen wollten oder porträtieren wollten, die Musik aus Ost und West vermischen und etwas Neues machen. Wie Orient Expressions und Baba Zula. Dann haben wir die Bands nach den Recherchen getroffen und sie nach ihren Ursprüngen gefragt, und die haben sie genannt – das waren Sezen Aksu oder Orhan Gencebay, Erkin Koray und so.

Wir fanden das noch viel interessanter. Wir wollten die Wurzeln aufspüren und einbauen. Es war sehr chaotisch. Welche Bands jetzt im Film sind und vor allem, welche Bands nicht im Film sind, hat am Ende auch mit persönlichem Geschmack zu tun. Wir wußten von Anfang an: Wir wollen keinen Pop.

Warum sind nicht Athena dabei? Weil die vielleicht schon zu populär sind. Wenn Pop, dann Sezen Aksu, aber das ist so eine andere Art Pop und auch sie vermischt ja türkische traditionelle Musik mit Pop. Das hat sie ja zu dem gemacht, was sie heute ist.

Sie geben auch Straßenmusikern Raum. Die schaffen es jetzt damit auf ein Majorlabel. Dabei ist doch die Straße eher etwas, das den Plattenfirmen, die mit Kopierschutz und ähnlichem arbeiten, völlig entgegensteht.

Wir haben schon so eine Art Abmachung mit allen Künstlern: »Hört mal, es wird eine Vermarktung geben.« Das bewegte sich in dem Bereich, daß wir mit dem Team von Anwälten von Orhan Gencebay handelten und feilschten, bis dahin, daß wir die Straßenmusiker überzeugen wollten, dabei zu sein. Das war für mich wichtig. Die Stadt ist auch ein Mosaik, ein Chaos.

Wir haben es eh nicht geschafft, das gesamte Klangbild von Istanbul zu vermitteln. Wir kratzen nur einen ganz kleinen Teil an. In Istanbul sind die Stimmen eher kritisch: Warum sind die nicht dabei und die nicht dabei. Aber mir ging’s darum, dieses Puzzle so breit wie möglich zu fächern. Dazu gehört halt die Stimme von der Strasse. Genauso wie die Kurdin ein Teil des Klangbilds der Stadt ist.

Ich finde es eigentlich recht positiv, wenn sich ein Label, das ja nur allein dazu dient, Musik zu verbreiten, darauf einläßt. Daß damit Geld verdient wird, sei mal dahingestellt, denn ob das passiert, weiß man ja nicht.

Je mehr Geld damit verdient wird, desto mehr wird diese Musik auch verbreitet, das ist halt einfach so. Und wir haben an Warner Music bestimmte Bedingungen geäußert. Das sind Bedingungen wie die, daß es auch eine Vinylausgabe des Albums gibt; und wir hätten gerne eine Remix Platte, wenn sich die erste gut verkauft. Die haben zugestimmt und geben uns einen ziemlich großen Freiraum, ein Forum, diese Musik zu präsentieren.

Man könnte sagen, der Film zeigt jede Menge Volksmusik im besten Sinne.

Ich habe das als kleines Kind gehört, ja. Das lief bei uns auf Tonband, und ich habe es gehaßt. Vor allem auf dem Weg in die Türkei im Autoradio. Kassettenkultur. Also traditionelle Musik habe ich erst einmal gehaßt – so wie der Typ von Replikas das beschreibt: Erst mit 19, 20 habe er angefangen, diese Musik zu verstehen und anzunehmen. So ähnlich war das bei mir auch.

Was fällt Ihnen da ein, wenn Sie an deutsche Musik denken oder gar deutsche Volksmusik? Warum haben wir nicht diese Art von Musik, die das Traditionelle und den Pop verbindet?

Hier ist das Traditionelle und sich dazu zu bekennen, verpönt. Das hat mit vielen Sachen zu tun. Der größte Unterschied ist, wie Musik allgemein konsumiert wird. In Istanbul hat Musik, also jenseits der Charts, etwas total Existenzielles. Da wird Musik aus ähnlichen Gründen gekauft, wie Leute Brot beim Bäcker kaufen. Musik ist wie ein Grundnahrungsbedürfnis. Diesen Stellenwert gibt es hier bedingt auch, aber ich finde, hier in Deutschland ist eher Untergrundmusik leidenschaftlich. So, daß ich es ernst nehmen kann.

Vieles hier ist eine einzige Marktstruktur, die Charts dominieren. Es geht darum, daß so viel wie möglich verkauft wird um das Verkaufs willen. Jemand wie Sezen Aksu ist so beliebt, weil die Frau meint, was sie singt. Es wird als ehrlich und aufrichtig empfunden, und deswegen wird es auch so von den Jungen beschützt, man bekennt sich dazu.

Warum haben Sie Alexander Hacke ausgewählt?

Alex Hacke war bereits für Gegen die Wand nach Istanbul gekommen und hatte für die Filmmusik den Chor aufgenommen. Damals sind wir uns das erste Mal begegnet, und damals wurde die Idee auch geboren. Man spricht kein Deutsch, man spricht kein Türkisch, und man spricht kein Englisch – diese gemeinsamen Sprachen werden nicht gesprochen, aber man musiziert und interagiert mit Musik.

Ich glaube, ich hätte den Film mit niemand anderem machen können als mit Alex Hacke. Mir fällt kein anderer Musiker ein, und es mußte ein Musiker sein. Es war wichtig, daß ein Musiker auf Musiker trifft. Ich selbst bin keiner, darum mache ich das nicht.

Ich brauchte einen, der die Virtuosität hat, mit 13 total verschiedenen Musikern umzugehen, teilweise mit ihnen mitzuspielen. Alex Hacke ist ja nicht nur ein Teil der Einstürzenden Neubauten, er macht ja auch Solosachen. So ist er für ein Album durch die ganze Welt gereist. Er hat mit Countrygrößen, mit Gianna Nannini, und mit schwedischen Bands, überall auf der Welt mit Künstlern vor Ort gearbeitet. Das fand ich erst einmal sehr beeindruckend. Dann fand ich es auch sehr wichtig, daß er aus dem Westen ist, daß nicht jemand wie ein Fremdenführer die ganze Musikkultur dort zeigt, sondern er das so entdeckt.

Wie haben Sie das während der Dreharbeiten ausgelotet?

Wir haben Hacke ein bißchen beobachtet. Dann hat der Spielfilmregisseur in mir gesagt: Das hat was. Auch er so als Erscheinung. Auf einer ironischen Ebene hat der Film etwas film-noirmäßiges. Er ist wie so ein Detektiv. Er geht durch die Häuserschluchten, mit dem langen Mantel, wie ein Schnüffler, der den Sound der Stadt sucht. Dieses Bild hatte ich halt: Jemand kommt in die Stadt und jemand fährt auch wieder weg.

Wie spontan konnten Sie beim Dreh sein?

Es war eine Mischung aus sehr intensiver Vorbereitung und Spontaneität. Die Vorbereitung war vielleicht psychologischer Natur. Wir suchten nicht nur die Künstler, sondern auch die entsprechenden Räume. Wir hörten Aynur und dachten, die hat so eine gute Stimme, es wäre gut, wenn wir eine Akustik hätten, die diese Stimme so wiedergeben kann. Da ist uns das Hamam eingefallen. Wir waren im türkisches Bad, schwitzten und klatschten so in die Hand, hörten den Schall und dachten »Laß uns was im Hamam machen.

Eine ganz spontane Aktion war der Dreh mit Sezen Aksu. Die Szene hat etwas von einem Videoclip, sie sieht sehr inszeniert aus, doch so war es. Wir gingen in die Wohnung, haben uns das angeguckt, den Vorhang zugezogen, zufällig ging die Sonne gerade unter und hat das in so ein Gold getaucht: »Laß uns das schnell filmen!«

Der Dreh auf dem Dach mit Siyasiyabend, die Straßenmusiker, war auch spontan. Und die Szene mit dem Mädchen, was da auf der Straße spielt: Eigentlich war unser erster Drehtag zwei Tage später gedacht. Wir liefen gerade herum, da sah ich das Mädchen unter der Unterführung in einem schönen Licht – »Wartest du mal einen kleinen Moment hier?« Dann bin ich schnell zur Crew, wir packten die Kamera ein und drehten.

Wie bereiten Sie die DVD-Veröffentlichung vor?

Die DVD wird eine A- und eine B-Seite haben. Auf der A-Seite ist der Hauptfilm, und die B-Seite besteht aus dem, was wir rausschneiden mußten. Mit vielen Musikern haben wir mehr als nur einen Track aufgenommen – mit einigen haben wir ganze Platten aufgenommen.

Eneh

Das Interview wurde von Elisabeth Nagy am 18. März 2005 in Berlin geführt. Der Text wurde nicht verändert und ist darum auch nicht gegendert.

Dokumentarfilm Originaltitel: Crossing the Bridge Regie & Konzept: Fatih Akin Kamera: Hervé Dieu Montage: Andrew Bird Musik: Alexander Hacke Mitwirkende: Alexander Hacke, Baba Zula, Orient Expressions, Duman, Replikas, Erkin Koray, Ceza, Ayben, Istanbul Style Breakers, Mercan Dede, Selim Sesler, Brenna MacCrimmon, Siyasiyabend, Aynur Doğan, Orhan Gencebay, Müzeyyen Senar, Sezen Aksu Deutschland 2004 90 Minuten Wiederaufführung: 5. Juli 2024 Verleih: Mubi TMDB

#AusDemArchiv #Interviews #Filmgespräche #Mubi

Zuerst veröffentlicht in der Ausgabe Cinearte 083 vom 9. Juni 2005. Der Link führt auf das Archiv von Cinearte und öffnet ein pdf.

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Ruhrgebiet. Bergbau-Gebiet. Der Kohleabbau prägte die Region und die, die hier lebten und arbeiteten. Über 40 Jahre lang haben die Filmemacher Christoph Hübner und Gabriele Voss sozusagen Land und Leute begleitet.

Immer schon war das Thema Strukturwandel im Vordergrund. Die damals jungen Chronisten zogen 1979 in eine Zechensiedlung, um mit der Kamera nicht immer wieder disruptiv zu kommen und zu gehen, sondern um inklusiv immer nahe dran zu sein. Ein paar Jahre blieben sie vor Ort. In den 90ern kehrten sie zurück. Dabei waren ihnen auch immer Einzelschicksale wichtig. Geschichte, Zeitgeschichte, Lokalgeschichte, diese fügt sich eben aus vielen Geschichten zusammen.

Aus diesem Fundus bedient sich auch Vom Ende eines Zeitalters. Der Dokumentarfilm, der gerade im Kinoformat funktioniert, weil er das Publikum mit in das Geschehene und den Wandel hineinzieht. Dabei werden vielleicht nicht alle Ereignisse in diesen Jahren abgehandelt. Doch ein Gefühl für Zeit und Wandel überträgt sich auf die Zuschauenden. Vom Ende eines Zeitalters verbindet als Film Fragmente und Episoden. Oft gibt es ein Gefühl der Wehmut, aber dieser bleibt nicht ohne einen Blick in die Zukunft. Abschiedsschmerz und Hoffnung liegen in der Dramaturgie nahe beieinander.

Das Regie-Duo konzentriert sich auf Ebel. Ein Stadtteil von Bottrop. Einst als das “Tal der fliegenden Messer” verschrien. Auch im Ruhrgebiet gab es bessere und weniger geschätzte Wohnorte. Der Ort wurde im nördlichen Ruhrgebiet sozusagen auf grüner Wiese errichtet und wurde schnell von der Industrie umschlossen. Das Ruhrgebiet funktioniert durch den Zusammenhalt ihrer Bewohner. Tradition und Vereine hatten eine Funktion. Mit dem Wegfall der alten Arbeit müssen sich auch die Menschen neu orientieren. Mit der Modernisierung und Renaturierung wird der Ort aber auch attraktiver. Es ziehen Familien zu. Menschen, die mit der Geschichte des Ortes nichts verbindet. Der Zusammenhalt muss neu austariert werden. Auch das ist ein Prozess. Sicherlich.

Der Bergbau ist Geschichte. Die letzte Zeche, Prosper-Haniel in Bottrop, wurde 2018 geschlossen. Seit 1863 wurde hier Steinkohle gefördert. Einst arbeiteten etwas über 300 Leute vor Ort. Zum Schluss waren es 2600. Die Geschichte des Ruhrgebiets war auch immer eine Geschichte der Migration. Was die Menschen verband, war die Arbeit.

Mit der Kamera geht es noch einmal hinunter in einen Schacht. Es begann ein Rückbau. Eine Arbeit, die wichtig und schwierig ist, aber auch notwendig. Wir betrachten die Maschinen, die nach und nach auseinandergenommen werden. Bei diesem Ende gleich am Anfang endet die Chronik jedoch nicht. Es entsteht etwas Neues, weil etwas Neues entstehen muss. Und somit ist Vom Ende eines Zeitalters auch die Chronik eines Beginns und erzählt von einer neuen Nutzung. Räume werden zu Museen, Landschaften zu Parks. Das konstant abgepumpte Wasser lässt Seen entstehen. Gerne dürfen jetzt auch Touristen kommen.

Einer, der uns durch den Film begleitet, tut dies auch beruflich. Thomas Schwarzer arbeitet für die Stadt und ist quasi ein Touristenführer für das Postindustrielle. Damals, als die Kameras kamen, war er noch ein Kind. Damals reagierte er neugierig auf das Team, das alles filmte. Seit den 70ern bis in die 90er hinein entstand ein Zyklus an Dokumentationen. Erst vor wenigen Jahren wurde dieser ins Nationale Filmerbe der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen und in Folge mit der Unterstützung der Filmförderungsanstalt (FFA) auch digitalisiert. Für Interessierte: der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat die sieben Stunden Filmzeit unter dem Titel Prosper/Ebel. Chronik einer Zeche und ihrer Siedlung (1979 – 1998) hier auf sieben DVD's für 29,90 € zugänglich gemacht.

Christoph Hübner und Gabriele Voss zogen damals in eine Bergbauwohnung. Sie stimmten sich mit den Bewohnern ab. Hinterfragten dadurch auch immer wieder ihren dokumentarischen Ansatz. Auch dieses Suchen und sich Hinterfragen prägt jetzt diesen vielleicht vorläufigen Schlusspunkt.

Wir begegnen einem ehemaligen Bergarbeiter, der seine Kumpels überlebt hat. Betrachten Gräber, deren Liegezeit auch schon wieder abläuft. Es ist auch nicht schlimm, wenn nichts für die Ewigkeit gleichbleibt. Erinnerung sitzt im Herzen derer, die sich für sie interessieren. Wir begegnen aber auch einem Pfarrer, der seine Gemeinde in einen kleineren Raum umsiedeln muss. Weil sich auch die Rolle der Kirche geändert hat. Und auch der Sportplatz soll sich ändern. Heute ist Individualsport angesagt, der alte Fußballverein nicht mehr zeitgemäß. Melancholie und Empathie ist somit immer mit dabei.

Wer mehr von Christoph Hübner und Gabriele Voss sehen möchte, kann das ganz aktuell auf dem Online-Portal der Deutschen Kinemathek tun. Mit wechselndem Programm zeigt das Archiv seine Schätze frei zugänglich. Seit dem 1. Mai (und bis Ende Juli) geht es um “Working Class Heroes”. Zu der aktuellen Auswahl gehört die achtteilige Dokumentation über die Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S..

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Vom Ende eines Zeitalters Regie & Konzept: Gabriele Voss, Christoph Hübner Kamera: Christoph Hübner, Sebastian Behler, Jochen Balke Montage: Gabriele Voss Deutschland 2022 155 Minuten Kinostart: 25. April 2024 Verleih: Film Kino Text TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Dokumentarfilm #FilmKinoText

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Bürgerkrieg: Ein bewaffneter Kampf zwischen Gruppierungen eines Staates. Der britische Regisseur Alex Garland (Ex Machina, Auslöschung) setzt das Publikum mitten hinein in einen fatalen Kampf. Hintergrundinformationen, wie es zu dem Konflikt kam, welche Gruppierung für was steht, das gibt er uns nicht in die Hand.

Seine Erzählfiguren sind die, die unparteiisch sein müssen, JournalistInnen. Genauer gesagt, Kriegsberichterstattende. Noch genauer gesagt: Kriegsfotografierende.

Alex Garland eröffnet die Figurenzeichnung mitten in einem Straßenkampf, bei der die Fotografin Lee Smith gefährlich nahe ran geht. Vielleicht ist ihr Name eine Referenz an Lee Miller, der britischen Kriegsfotografin, die im zweiten Weltkrieg, unter anderem, Bilder vom Londoner Blitz und der Invasion der Alliierten lieferte. Lee, gespielt von Kirsten Dunst, ist sowohl forsch, als auch abgeklärt und besonnen. Sie beschützt gleich noch eine junge Kollegin, die noch zu jung und zu unerfahren ist, um ohne eine Portion Glück aus der Szene herauszukommen. Jessie, gespielt von Cailee Spaeny (Priscilla), wird sich instinktiv an Lees Fersen heften und mit ihrer Figur spricht sie nicht nur ein junges Publikum an, sondern verweist auch auf eine unbestimmte Zukunft.

Der erste Abend nach dieser Einführung führt die Handlung natürlich an die obligatorische Hotelbar, den Treffpunkt aller Kriegsberichterstattenden. Mehrere Generationen treffen hier aufeinander und schließen sich zusammen. Lee will nach Washington, um dem Präsidenten ein Interview abzuringen, bevor seine Zeit abläuft. Es scheint klar, dass sein Regime sich nicht wird halten können. Garland etabliert damit ein Endziel, das zu erreichen zwar ein Höhepunkt zu sein verspricht, aber eigentlich ist die Reise quer durch das Land sein Ziel.

In den 1980ern gab es eine Reihe von Hollywood-Filmen, die sich dem Beruf Kriegsreporter widmeten. Zu den bekanntesten Filmen gehören folgende. The Killing Fields (Roland Joffé, 1984) behandelte die Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha Ende der 70er.

Ein Jahr in der Hölle von Peter Weir (1982) spielt in Indonesien in den 60ern, als sich der Präsident Sukarno gegen den Westen positionierte. Darin spielte Mel Gibson einen Reporter, der den Kriegsfotografen Billy Kwan, unvergesslich in der Rolle: Linda Hunt, an seiner Seite weiß.

Und auch Salvador von Oliver Stone (1986) greift reale Ereignisse auf, in dem er den Reporter Richard Boyle (eine reale Figur) in den salvadorianischen Bürgerkrieg von El Salvador schickt, wo er erkennt, dass der US-amerikanische Geheimdienst CIA seine Finger mit im Spiel hat. Richard Boyle fällt in dem stark verdichteten Plot die Aufgabe zu, die Bilder eines Kriegsfotografen, der im Kampf um Bilder gestorben ist, aus dem Land zu schaffen. Vorbild für den Fotografen war hier John Hoagland, von dem der Satz stammt:

Um die Wahrheit zu finden, musst du nah rangehen. Gehst du zu nah ran, gehst du drauf.

Tatsächlich stand John Hoagland auf einer der “Todeslisten”, er und noch 16 andere.

Einen anderen Fokus auf den Beruf setzt der Thriller Under Fire von 1983 (Regie: Roger Spottiswoode), der während des sandinistischen Befreiungskampfes in Nicaragua Ende der 70er spielt. Nick Nolte spielt einen Kriegsfotografen, dessen Figur an dem realen Fotografen Matthew Naythons angelehnt war. Under Fire stellt seine Hauptfigur zwischen die Fronten und fragt nach der eigenen Haltung. Hier schlägt der moralische Kompass den beruflichen Eid.

Civil War dagegen greift keine realen Konflikte auf, auch wenn es zahlreiche referenzielle Bilder gibt. Alex Garlands Hauptfigur Lee Smith stellt klar, was die Aufgabe der Presse und damit ihre als Fotografin ist. Ihre Rolle sei es folglich keine Fragen zu stellen, sondern zu zeigen, was ist, damit andere sich ein Bild machen und in Folge Fragen aufwerfen können.

Alex Garland verortet die Handlung in einer nahen Zukunft. Doch die Spaltung der US-Amerikanischen Gesellschaft ist für uns so greifbar, dass wir reale Ereignisse wiederzuerkennen glauben.

Ob Alex Garlands Blick auf Amerika und seine Presse Bestand haben wird, wird sich zeigen. Eine persönliche Agenda fehlt den Figuren. Sie werden aus sich selbst heraus angetrieben. Dabei ist Lee Smith die integre, aber aufgeriebene Figur, die zwischen dem Zynismus der Abgeklärten und der Resignation der Älteren und dem waghalsigen Draufgängertum der Jugend steht. Alex Garland und sein Stammkameramann Rob Hardy bedienen sich dabei einer glatten Werbeästhetik, die vielleicht für unsere Zeit steht. Eine Zeit, in der Ehrgeiz um seiner selbst willen ausreicht.

Letztendlich folgen die Figuren keiner Moral und keinem Ethos, sondern der Selbstverwirklichung. Hier gilt es schon als Coming-of-Age-Moment, wenn die junge Jessie feststellt, dass sie noch nie in ihrem Leben so viel Angst gehabt und sich gleichzeitig so lebendig gefühlt habe. Der abgeklärte einsame Cowboy, Lees Kollege Joel (gespielt von Wagner Moura), wirft seine Lethargie auch nur für den ultimativen “Moneyshot” über Bord.

Ob Alex Garland darüber hinaus eine Position einnehmen will, ist so nicht klar auszumachen. Um Positionen geht es eh nur am Rande. Zumal die Parteien im Kampf selbst gar nicht mehr wissen, wofür sie stehen. Über weite Strecken ist Civil War ein generischer Action-Film, der zu sehr auf Distanz zu den Motiven der Figuren geht, als dass man sich involviert. Es bleiben wenige Episoden auf dem langen Weg nach Washington, die sich einbrennen werden. Hier gibt es keine Todeslisten, hier wird aus reinem Hass getötet. Das ist vielleicht der erschreckendste Moment, der sogar ohne Action auskommt und umso eindringlicher aufzeigt, wo wir in der Geschichte der Bürgerkriegskonflikte stehen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Civil War Regie: Alex Garland Drehbuch: Alex Garland Kamera: Rob Hardy Montage: Jake Roberts Musik: Ben Salisbury, Geoff Barrow Mit Kirsten Dunst, Wagner Moura, Cailee Spaeny, Stephen McKinley Henderson, Sonoya Mizuno, Nick Offerman, Jessie Plemons USA / Großbritannien 2023 109 Minuten Kinostart: 18. April 2024 Verleih: DCM Festivals: SXSW 2024 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #DCM

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Es ist Geschichte, die das Heute und das Gestern verbindet. Die Archäologie ist, vereinfacht gesagt, eine Wissenschaft, die die Hinterlassenschaften vorangegangener Kulturen und Epochen aufspürt, einordnet und aufbereitet. Dabei geht es nicht nur um spektakuläre Funde wie Büsten, Vasen, Schmuck. Sondern auch darum, wie Menschen gelebt haben. Um ihr Klima, um ihr Handwerk, die Verbindungen untereinander, ihre Lebensgewohnheiten. Es geht um Befunde. Grabräuber zerstören die Grundlage, mit der Archäologen arbeiten. Viele denken auch nicht an Howard Carter, der das Grab von Tutenchamun gefunden hatte, oder Heinrich Schliemann, der nach Troja gesucht hatte, um zwei der berühmtesten Vertreter der Zunft zu nennen, die für ihre Funde bekannt wurden. Die meisten werden vielmehr an Lara Croft und Indiana Jones denken.

Das wird auch die Festivalmannschaft von Cannes erfreut haben. Cannes zeigte 2023, sicherlich um dem Mainstream-Hollywood-Kino eine Bühne zu geben, den letzten Indiana Jones-Film, der kläglich an der Kinokasse um seine Einspielkosten kämpfen musste. Aber eben auch La Chimera der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher. Von Cannes aus ging es auf ein Festival nach dem anderen. Im Kino der Berliner Kulturbrauerei konnte man im Dezember letzten Jahres La Chimera als Eröffnungsfilm des Filmfestivals Around the World in 14 Films bewundern.

Rohrwachers Hauptfigur ist der Brite Arthur. Dessen Darsteller Josh O'Connor ist bis dato dafür bekannt, dass er Prince Charles in der Serie The Crown gespielt hat. Nach La Chimera wird er sicherlich noch öfters rauf und runter besetzt werden. Noch in diesem Monat wird er zum Beispiel in dem Sportdrama Challengers – Rivalen von Luca Guadagnino in einer der Hauptrollen auftauchen. Sein Arthur ist ein Ritter ohne Rüstung, aber in einem hellen Anzug, der sicherlich irgendwann einmal was hergemacht hat, und jetzt von Szene zu Szene mehr und mehr Patina annimmt. Sein Arthur ist von trauriger Gestalt, doch unnahbar und entrückt. Und doch ist es diese Gestalt, die uns in ein Italien in den 80ern führt, und uns etwas über die Frauenschicksale und das Leben der Ärmsten unter den Armen erzählt.

Arthur wäre vielleicht gerne ein Archäologe, aber er ist nur ein Wünschelrutengänger, der die besondere Gabe hat, verborgene Schätze zu finden. Die Handlung führt ihn auf der Reise in ein italienisches Küstenstädtchen ein. Er kommt gerade aus dem Knast und ist immer noch in Trauer um seine Freundin, die aus dem Ort, in dem er nun landet, stammt. Mit seinen alten Kumpels möchte er nichts zu tun haben. Aber er ist für diese leichte Beute. Sie fangen ihn schon am Bahnhof ab.

Arthur ist eine traumwandelnde Gestalt, die zwischen dem Hier und Jetzt und dem Vergangenen feststeckt. Er gehört nun nirgendwo mehr richtig hin. Er hat noch nicht einmal eine Bleibe. Nur einen Bretterverschlag, der an der Stadtmauer klebt. Selbst diese Bleibe scheint sich weder innerhalb noch außerhalb der Stadt und der Geschichte zu befinden. Er besucht die Mutter seiner Freundin und deren zahlreiche Schwestern. Er dockt hier an eine Wahlfamilie nach der anderen an und bleibt doch suchend. Dabei ist es wohl seine Suche, die ihn an die Vergangenheit bindet. Aus der er nie wirklich erwachen kann. Die anderen Figuren wecken ihn scheinbar immer nur kurz auf.

Arthurs Kumpel brauchen ihn derweil, damit er weitere etruskischen Gräber aufspürt. Immer auf der Suche nach dem ultimativen Fund, der ihnen Reichtum oder auch weniger Armut beschere. Die kostbaren Funde wollen sie an einen dubiosen Kunsthändler verscherbeln. Das ist ihr primäres Einkommen und ihr Lebensinhalt. Es sind halt Grabräuber. La Chimera ist darum auch kein Psychogramm, sondern ein Abenteuerfilm und gleichzeitig ein Märchen mit einer Portion italienischem Neorealismus. Letztlich geht es auch Alice Rohrwacher darum, aufzuzeigen, wie wir gelebt haben und wie alles irgendwie zusammenhängt.

Alice Rohrwacher wurde vor 10 Jahren mit dem Film Land der Wunder bekannt. In Cannes gewann der Film über eine deutsch-italienische Familie, die sich abmüht, Honig zu produzieren, den großen Preis der Jury und in München den CineVision-Award. Es folgte 2018 der Film Glücklich wie Lazzaro, über einen jungen Mann, der die harten Bedingungen der Arbeiterschaft mit stoischer Gutmütigkeit erträgt. La Chimera ist nun der dritte Teil dieser Trilogie. Die Frage, ist auch hier, was Vergangenheit bedeuten kann. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeuten für die handelnden Figuren Verschiedenes. Es sind auch verschiedene Trugbilder, die im Titel angegeben Chimären, die sie durch die Handlung begleiten.

Arthur lebt in einer kaum vergangenen Vergangenheit, in der er noch mit seiner Freundin zusammen ist. Rohrwacher verbindet die Szenen der verschiedenen Zeiten so, dass auch das Publikum in ein Gefühl der Gleichzeitigkeit gerät, in dem seine Freundin noch lebt und in der seit Jahrhunderten verborgene Gräber sich ihm wie ein weiterer Weg auftun. Vieles ist hier Traum, vieles ist hier Trauer. Den verstorbenen Seelen, die ihm begegnen, bedeuten unsere Zeitbegriffe nichts. Arthur ist hier eine Orpheus-Gestalt, die uns durch einen magischen Realismus führt, wie ihn die Regisseurin, hier zusammen mit der Kamerafrau Hélène Louvart und der Cutterin Nelly Quettier, ganz eigen ist.

In La Chimera deuten zwar Aufnahmetechnik und Filmmaterial auf die einzelnen Stränge hin, aber das muss einem gar nicht groß auffallen. Vielmehr sollte man sich hier fallen lassen und auf die Geschichte vertrauen, die sich eher nicht rational zusammenfügt und dann erst ihre Frucht und Geschmack freigibt, wenn sie zu Ende gesponnen wurde.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: La chimera Regie: Alice Rohrwacher Drehbuch: Alice Rohrwacher Kamera: Hélène Louvart Montage: Nelly Quettier Mit Josh O'Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Lou Roy-Lecollinet, Giuliano Mantovani, Gian Piero Capretto, Melchiorre Pala, Ramona Fiorini, Luca Gargiullo, Yile Yara Vianello, Barbara Chiesa, Elisabetta Perotto, Chiara Pazzaglia, Francesca Carrain, Valentino Santagati, Piero Crucitti, Luciano Vergaro, Carlo Tarmati, Milutin Dapcevic, Luca Chikovani, Julia Vella, Agnese Graziani Italien / Frankreich / Schweiz 2023 132 Minuten Kinostart: 11. April 2024 Verleih: Piffl Medien Festivals: Cannes 2023 / Telluride 2023 / Toronto 2023 / Zürich 2023 / Around the World in 14 Films 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #PifflMedien #Cannes2023

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Eines vorweg: Der Dokumentarfilm über den 1. FC Union Berlin ist kein klassischer Fußballfilm. Die treuen “eisernen” Fans werden den Fußball nicht vermissen, der ist schon präsent. Das nicht so Fußball affine Publikum wird trotzdem viel mitnehmen können. In Annekatrin Hendels Porträt über den Köpenicker Außenseiterverein, der sich plötzlich mitten auf dem internationalen Parkett behaupten möchte, geht es um die Basics und wie man wächst, ohne seine Ideale zu verraten oder zu verkaufen. Ein Aspekt, der sich durch das Schaffen der Berliner Filmemacherin zieht.

Annekatrin Hendel ist bekannt für stimmige Porträts. 2011 kam Vaterlandsverräter über den Schriftsteller Paul Gratzik ins Kino. 2014 folgte ein Porträt über den Schriftsteller Sascha Anderson, der in der Literaturszene beliebt war, bis er nach der Wende als Informant der Staatsicherheit enttarnt wurde. Im Jahr darauf folgte Hendels Film über Rainer Maria Fassbinder. Sie arbeitete unter anderem die Geschichte der Familie Brasch auf und in “Schönheit & Vergänglichkeit spürt sie dem Zeitgefühl vor und nach der Wende in einem Porträt des Fotografen und langjährigen Türstehers von Technoclubs, Sven Marquardt, nach (unter anderem). Sie hatte auch einst eine Dokumentation über Chistian Lorenz a.k.a Flake gedreht, Keyboarder bei Rammstein. Flake steuert hier nun die Filmmusik bei. (Ein Wehmutstropfen, dass seine Musik hier uninspiriert rüberkommt.)

Hendel ist eine Regisseurin, die eine Figur oder ein Thema begleitet, aber nicht formt. Ganz sicherlich konnte sie nicht voraussehen, wie weit der 1. FC Union Berlin es bringen würde. Einst wollte man nur spielen, des Spielens wegen. Nun geht es stramm auf die UEFA-Champions League zu.

Die Geschichte des Fußballclubs wird hier nicht erst aufbereitet. Die Konkurrenz zu dem Westberliner Club Hertha BSC wird nur am Rande gestreift. Die Regisseurin stößt hinzu, als sich der 1. FC Union Berlin in die erste Bundesliga gekickert hat. Die Mitgliederzahlen wachsen, wachsen stark, explodieren fast. Das Stadion “An der Alten Försterei” kann die Fans gar nicht mehr alle aufnehmen. Den Regularien der gehobenen Ligen genügt der ausschließlich als Fußballstadion betriebene Sportplatz auch nicht mehr. Da baut man halt mal hier und mal dort an oder “versetzt Wände”.

Da der Film im Hauptteil die Saison 2022/23 begleitet, sind die aktuellen Erweiterungspläne noch arg zukünftig. Vertragsverhandlungen mit Sponsoren laufen nun auch eine Klasse schärfer ab. Da weiß auch der langjährige Präsident des Vereins erst einmal nicht, ob er nun einen guten Deal auf dem Papier hat.

Dirk Zingler, Vorstandspräsident seit 2004, arbeitet übrigens ehrenamtlich. Da staunt man, wenn man um die Geldsucht der großen Fußballverbände weiß. Geld ist unterschwellig ein Thema. Nach Jahren der Kontinuität muss man sich von Spielern, weil diese abgeworben werden, trennen. Gleichzeitig wird man für andere Spieler attraktiv. Das allgemeine Karussell der Anwerbung und Verhandlung spielt man noch mit, wenn es in die Verlängerung bzw. zu einer Nachverhandlung kommt, wird der Verein doch wieder zum hemdsärmeligen Underdog, der seine Linie verteidigt.

Die Spieler stehen hier nicht im Fokus, sondern die Mannschaft um Dirk Zingler. Wenn man den klassischen Begriff von Stars anwenden möchte, im Sinne von Leuchten und Funken sprühen, dann überlässt die Regie die Bühne diesem Team. Dem Stadionsprecher, die Kommunikationsleiterin, die Leiterin der Kommunikation zwischen Verein und ihrer Außendarstellung und der Mannschaftsbetreuerin. Unter anderem. Annekatrin Hendel geht es um die Dynamik im Vereinshaus. Die Mitarbeitenden lieben ihren Job und diese Hingabe ist mit Geld eh nicht aufzuwiegen. Das macht Union – Die Besten aller Tage fast zu einem Märchen.

Dirk Zingler ist sich im Klaren darüber, dass sein Verein wachsen muss. Er erkennt aber auch die Gefahr, die davon ausgeht. Die Bodenständigkeit, die er vermittelt und der Enthusiasmus seiner Mitarbeitenden wirkt sich auf den Dokumentarfilm, der sich auch visuell vor keiner Kinoleinwand verstecken muss, positiv aus.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Union – Die Besten aller Tage Regie: Annekatrin Hendel Drehbuch: Annekatrin Hendel, Jörg Hauschild Kamera: Martin Farkas, Roman Schauerte, Annekatrin Hendel Montage: Jörg Hauschild Musik: Flake Mit Dirk Zingler, Christian Arbeit, Stefanie Vogler, Katharina Brendel, Susanne Kopplin, Christopher Trimmel Deutschland 2024 120 Minuten Kinostart: 04. April 2024 Verleih: Weltkino TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Weltkino

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Es heißt im Talmud, “Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt”. Darauf bezieht sich der Titel von James Hawes' Biografie-Verfilmung. Der Brite Hawes, der bisher als Fernsehregisseur tätig war, von ihm stammen Episoden von Doctor Who oder Penny Dreadful, widmet sich der Lebensgeschichte des Handelsmaklers Nicholas Winton, der für unzählige jüdische Kinder in den 30er Jahren zum Lebensretter wurde. Hier greift der Vergleich zu Oskar Schindler, der zahlreiche, ihm zugewiesene Zwangsarbeiter rettete. Weit nach dem Krieg überreichten ihm die Geretteten einen Ring, in dem sie eben jenen Spruch eingraviert hatten.

Nicholas Winton reiste auf Einladung eines Freundes vom “British Committee for Refugees from Czechoslovakia” nach Prag. Die Stadt war nach der Sudetenkrise von Flüchtlingen überlaufen. Winton war ob seiner Familiengeschichte, seine Eltern hießen ursprünglich Wertheim und waren Anfang des 20. Jahrhunderts nach Großbritannien ausgewandert, sensibilisiert für das Schicksal anderer. Er wollte helfen. Zumindest den Kindern könnte er einen Weg aus dem Elend öffnen. Nach dem britischen Gesetz konnten Kinder unter 17 Jahren, sofern sich Bürgen fanden, die die Kinder aufnahmen und für Visa und Reisekosten aufkamen, ins Land kommen. Winton und zahlreiche Helfer sowohl in Prag also auch in Großbritannien taten genau das. Geld sammeln, Unterstützende und Adoptiveltern finden, Visa organisieren, Züge buchen. Innerhalb eines Jahres konnte sein Team über 600 Kinder nach Großbritannien bringen. Nur der letzte Transport scheiterte. Es war der 1. September 1939.

Jahrelang hatte Winton über die Zeit in Prag geschwiegen. Erst in den 80ern tauchen die alten Unterlagen in einem Koffer wieder auf. Ausgerechnet eine boulevardeske Talk-Show bringt Winton mit den inzwischen erwachsenen Kindern zusammen. Die legendäre TV-Show That's Life! schrieb mit dieser gewagten Zusammenführung auch ein Stück britischer Fernsehgeschichte, wenn man das glauben mag. Das Drehbuch von One Life von Lucinda Coxon und Nick Drake fußt auf der Biografie If It's Not Impossible… The Life of Sir Nicholas Winton von Wintons Tochter Barbara, die folglich die Produktion auch begleitete. Auf ihren Wunsch hin, trug man die Hauptrolle Anthony Hopkins an.

One Life erzählt sich in zwei gleichwertigen Zeitsträngen. Winton, gespielt also von Anthony Hopkins und hier eindeutig das Highlight des Filmes, versucht die alten Erinnerungsstücke in gute Hände zu geben. Dabei erinnert er sich an die Vergangenheit, reflektiert das Geschehene und bedauert, dass er nicht mehr Kinder hatte retten können. Die Erinnerungen, hier spielt Johnny Flynn den jüngeren Winton, setzen mit der ersten Reise nach Prag ein. Eher konventionell wird das Elend der Kinder gezeigt. Sein Enthusiasmus, dass man etwas tun müsse und könne, wird von den Hilfskräften vor Ort gedämpft. Da kommt jemand her, ist noch keine fünf Minuten vor Ort und meint schon alles besser zu wissen. Dadurch wird die Figur Wintons natürlich etwas erhöht. Aber die Hürden sind enorm und ohne Helfer wäre auch Winton gescheitert. Da greift der Film zum Beispiel die Rolle seiner Mutter auf, gespielt von Helena Bonham Carter. Sie steht im Kampf mit der britischen Bürokratie an vorderster Front und akzeptiert kein Nein.

Die Szenen, die sowohl Prag als auch London Ende der 30er zeigen mögen den Regeln der Spannungskurve folgen, aber sie sind in Zeiten, in denen wir uns ein ums andere Mal mit den Flüchtlingsströmen von heute auseinandersetzen müssen, bitter nötig. Wo ein Wille ist, ist nämlich ein Weg. One Life erfindet das Kino nicht neu. Es ist sogar recht konventionell gedreht. Es setzt auf Wirkung. Seiner Hauptfigur muss die Handlung gar kein Denkmal setzen. Bereits mehrmals wurde Wintons Leben filmisch angegangen. Aber die Wirkung, auf die One Life setzt, hat dieser Film auch. Da bleibt wohl kein Auge trocken, wenn Winton in einer von ihm eher nicht so geschätzten Fernsehsendung, plötzlich jemanden trifft, den er gerettet hatte. Eine Szene, die im Film übrigens mit zahlreichen Überlebenden besetzt wurde.

Ganz unumstritten ist One Life nicht. Nicht nur, dass die Nebenfiguren Nebenrollen bleiben, werden auch die Kinder und ihre Eltern auf ihre Rolle in Not reduziert. Auch kreidete man der BBC, die den Film mitproduzierte und bewarb, an, dass sie die Kinder als zentraleuropäische Kinder benannte. Die BBC nahm die Kritik an und änderte ihren Auftritt und erwähnte erst jetzt, dass es sich um hauptsächlich jüdische Kinder handelte. Auf der Gala der “Cinema for Peace”-Veranstaltung im Februar dieses Jahres in Berlin, zeichnete man One Life zusammen mit Golda, der demnächst ins Kino kommt, und The Zone of Interest aus.

One Life, besonders durch das leise und präzise Spiel von Anthony Hopkins, überzeugt eher durch die Darstellung der Organisation der Kindertransporte. Nur in Anklängen spricht der Film auch an, was es für die Eltern bedeutet haben muss, ihre Kinder in fremde Hände geben zu lassen. Die eigentliche Reise ist dabei weniger Thema. Mehr schon steht die Figur von Winton selbst im Mittelpunkt. Hier hebt der Film gerade das Gewöhnliche und die Bescheidenheit des Mannes hervor.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: One Life Regie: James Hawes Drehbuch: Lucinda Coxon, Nick Drake Vorlage: Barbara Winton Kamera: Zac Nicholson Montage: Lucia Zucchetti Musik: Volker Bertelmann Mit Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Lena Olin, Romola Garai, Alex Sharp, Jonathan Pryce Großbritannien 2023 109 Minuten Kinostart: 28. März 2024 Verleih: Square One Festivals: Toronto 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #SquareOne

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Immer wieder behandelt der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda komplexe Familienbeziehungen. Wobei “komplex” sicherlich mit “schwierig” Hand in Hand geht. In seinem letzten Film, Broker, eine südkoreanische Produktion, den er ebenso wie jetzt Die Unschuld in Cannes vorstellen durfte, ging es um die Adoption und den Kinderwunsch.

Noch bekannter war 2018 sein Film Shoplifters – Familienbande über eine prekäre Wahl-Familie in Tokio, die sich mit Ladendiebstählen über Wasser hält. Oder Nobody Knows von 2004, auch dieser Film wurde in Cannes vorgestellt. Hier wird nach einem wahren Fall die Geschichte von Geschwistern erzählt, die von der Nachbarschaft unbemerkt, allein in einer Wohnung ausharren und auf die Mutter warten. In Like Father, Like Son von 2013 erzählt der Regisseur von zwei Familien, die sich begegnen, als sie erfahren, dass ihre Kinder bei der Geburt vertauscht worden sind.

Die Unschuld hat zumindest im deutschsprachigen Raum eine Bedeutungsverschiebung erfahren. Kaibutsu, so heißt der Originaltitel auf Japanisch, bedeutet, so wie der internationale Titel es auch korrekt übersetzt: Monster. Die scheinbar konträren Titel liegen aber gar nicht so weit auseinander.

Hirokazu Kore-eda erzählt von einem Jungen, der sich selbst immer wieder als Monster sieht. Woher er diese fixe Idee hat, die er kindlich mit einer Horrorvorstellung untermalt, das wird natürlich auch angesprochen, aber der Reihe nach. Minato (gespielt von Soya Kurokawa) bereitet seiner alleinerziehenden, verwitweten Mutter Sorgen. Er wirkt zurückgezogen und unnahbar. Saori, die Mutter wird von Sakura Andô gespielt, wähnt die Ursache in der Schule zu finden. Ein besonders junger Lehrer habe ihren Sohn ungerecht behandelt und auch geschlagen. Hori (Eita Nagayama) wird zwar immer wieder zu einer Begegnung mit der Mutter ins Direktorat dazu geholt, schweigt sich aber aus. Die Direktorin (Yūko Tanaka) setzt auf Schadensbegrenzung und agiert aalglatt höflich und unverbindlich, so dass jede Aussprache und damit Klärung unmöglich scheint.

Hirokazu Kore-eda legt mehrere Fährten aus. Man ahnt, dass die Sicht auf die Figuren und ihre Handlungen trügerisch ist. Man ahnt, dass die Wahrheit eine andere ist. Aber werden die Figuren die Wahrheit finden? Dabei ist eine der frühen Fährten eine, die man kaum wahrnimmt. Der Junge kommt einmal nicht rechtzeitig nach Hause und die Mutter sucht verzweifelt nach ihm. Was geht nur in dem Jungen vor? Das Buch, das übrigens nicht vom Regisseur selbst, sondern von Yûji Sakamoto stammt, der sich bisher hauptsächlich im Serien-Bereich hervorgetan hat, öffnet hier eine Welt als Gegenentwurf für die der Erwachsenen und stellt diese parallel. Doch zuerst bleibt diese Welt für das Publikum verborgen.

Derweil setzt Hirokazu Kore-eda ein zweites Mal an, uns die Geschichte, die scheinbar in der Schule beginnt, zu erzählen. Dabei ist die Schule nur der Mikrokosmos einer Gesellschaft, in der eine Tradition der Höflichkeit Missstände überdeckt. In dem zweiten Drittel des Filmes erfahren wir, wie sich die Handlung aus der Sicht des Lehrers abspielt. Er ist jung, er ist engagiert, er hat Ambitionen und Ideale. Reicht es denn, ohne Fehl zu sein, um einer Anschuldigung gewachsen zu sein? Dabei ist Minato für ihn ein Schüler, von dem er annimmt, dass dieser einen anderen, schwächeren Klassenkameraden, Yori (Hinata Hiiragi), mobbt. Erst das letzte Drittel erzählt sich aus der Perspektive dieser zwei Kinder, gerade mal um die 10 Jahre alt. Kinder, die besonders Erwachsenen ihr Innerstes nicht preisgeben. Kinder, die schweigen, wenn die Erwachsenen sie mit Fragen bedrängen.

Das Monster, das im Titel beschworen wird, ist dabei sowohl Metapher als auch Charakterzug. Das vermeintliche Richtige, dass die Figuren tun, kann das Falsche sein und einem anderen das Leben zur Hölle machen. Das System an sich ist jedoch auch eines, was dieses Monströse begünstigt. Von Unschuld kann kaum die Rede sein. Nur Kinder besitzen noch eine Unschuld, wobei sie noch nicht einordnen können, wie weit Schuld und Unschuld auseinander liegen. Das Monströse der Gesellschaft ist es auch, dass diese Kinder und ihre Unschuld unter Druck setzt.

Hirokazu Kore-eda setzt darauf, dass das Publikum sich seiner Vorurteile bewusst wird und schubst es sanft an, Ereignisse und Beurteilungen zu hinterfragen. Die Unschuld führt die Zuschauenden dabei auf eine ähnliche Reise, wie die Figuren. Dabei hangeln sich die Erkenntnisse durch den Ablauf der Naturgewalten, die sowohl monströs geschehen als auch dabei keinerlei Schuldwert haben. Zwischen einem katastrophalen Feuer und einem alles verschlingenden Wassersturz werden die Figuren Kräften ausgesetzt, denen sie sich stellen müssen.

In Cannes gewann Die Unschuld den Preis für das beste Drehbuch. Darüber hinaus gab man ihm auch den “Queer-Palm”-Preis. Dazu sein erwähnt, dass der Regisseur die Kinder in einem noch bewusst “unschuldig” gehaltenen Alter angesetzt hat. In Deutschland wurde der Film zuerst auf dem Filmfest München vorgestellt. Übrigens handelt es sich bei Die Unschuld, dessen Filmmusik die Handlung überzeugend unterstützt, um die letzte Arbeit des Komponisten Ryūichi Sakamoto.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Kaibutsu Internationaler Titel: Monster Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Yūji Sakamoto Kamera: Ryûto Kondô Montage: Hirokazu Kore-eda Musik: Ryūichi Sakamoto Mit Sakura Andô, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata, Akihiro Kakuta, Shidô Nakamura, Yûko Tanaka Japan 2023 127 Minuten Kinostart: 21. März 2024 Verleih: Wild Bunch Germany Festivals: Cannes 2023 / Karlovy Vary 2023 / München 2023 / Toronto 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #WildBunch #Cannes2023 #München2023

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Eine Anekdote: Noel Gallagher kommt nach Hause und seine Tochter fragt ihn, wo er denn gewesen wäre. Er wäre auf einem Meeting gewesen, antwortete er. Auf was für ein Meeting müsse er denn gehen, fragte die Tochter. Es wäre um ein Cover gegangen. Was ist denn ein Cover?

Wie erklärt man einem Kind in der heutigen Zeit, was ein Cover ist? Das kleine Bild auf deinem Telefon, sagte er also. Ach und für so etwas gibt es Meetings? Um es gleich vorwegzunehmen: Noel Gallagher ist zwar Teil der Runde, die in Squaring the Circle interviewt werden und die dann hauptsächlich Anekdoten erzählen. Aber eigentlich ist er gar nicht Teil der Geschichte.

Es bleibt Anton Corbijns Geheimnis, warum ein Spätgeborener in der illustren Runde von Altstars wie Jimmy Page, Roger Waters, Paul McCartney und so weiter, alles Kunden bzw. Auftraggeber der Grafik-Design-Firma »Hipgnosis«, dabei sein darf. Oasis, die Band, die Noel Gallagher berühmt machte, wurde erst 1991 gegründet. Hipgnosis war ein Kind der 60er und war Mitte der 80er bereits Schnee von gestern. Die Musikszene erfindet sich schließlich immer wieder neu.

Bei dem G in Hipgnosis handelt es sich nicht um einen Tippfehler. Das Wort setzt sich aus Hip und Gnosis zusammen. Einmal kurz nachschlagen, Gnosis heißt Wissen. Wie »Hipgnosis« zu seinem Namen gekommen ist, wird natürlich erzählt. Ich möchte aber nicht alles vorwegnehmen. Wobei Squaring the Circle wahrscheinlich gerade das Publikum anspricht, das deren Output kennt. Dazu gehört sicherlich auch Anton Corbijn, der ja nicht nur Photograph ist, sondern selbst Bands photographiert hat und somit Plattencover verantwortet. Zum Beispiel von der Band U2.

Fangen wir anders an. Was für eine Musik vermutet man, wenn auf dem Cover eine Kuh steht? Und sonst nichts. Ehrlich gesagt, kann man das gar nicht beantworten, denn die Nachgeborenen denken gleich an Pink Floyd. Damals muss der Einfall, eine Kuh auf den Plattenumschlag zu setzen ungleich erschütternder gewesen sein. Die Kuh auf dem Album Atom Heart Mother (1970) war auch eher ein Non-Cover. Es gab keinen Bezug zu der Musik. Pink Floyd wollte jedoch ein Artwork, dass sie aus der psychedelischen Ecke herausholte. Hipgnosis spielte mit Collagen, mit Doppelbelichtungen, mit chemischen Prozessen. Zu ihren Einflüssen zählten die surrealistischen Künstler.

Damals, dieses ominöse Damals, waren Plattencover geradezu Kunst. Man hielt das Cover noch in den Händen, während die Platte sich drehte. Über die Verbindung von dem Bild mit der sich die Band und der oder die Interpreten sich präsentierten, gab es einen Zusammenhang oder auch nicht.

Im Vordergrund stand stets die Idee, die dem Publikum vermittelt wird. Anton Corbijn, der seit seinem Film über Ian Curtis von Joy Division (Control, 2007) auch im Regie-Fach anerkannt wird, lässt nicht nur die allseits bekannten Musiker zu Wort kommen. Wie gesagt: Roger Waters, Paul McCartney, Robert Plant, Peter Gabriel, sondern er holt auch die Leute vom Fach vor die Kamera. Photographen, Photographinnen, Art-Designer, Graphik-Designer und so weiter.

Allen voran Aubrey Powell, die eine Hälfte von Hipgnosis. Er und Storm Thorgerson hatten die Firma auf die Beine gestellt. Storm Thorgerson, der mehr für die Vision und Integrität verantwortlich war, ist bereits verstorben. Die Beiden gingen damals, Mitte der 80er, nicht im Guten auseinander, aber Corbijn war der künstlerische Output und die Bedeutung von Plattencovern allgemein wichtiger, als etwas aufzuarbeiten, an dem eh nur noch einer der Beteiligten etwas dazu sagen kann.

Vielleicht fehlt etwas die Einordnung der Bedeutung von Plattencovern im Hier und Heute. Vielleicht ist Squaring the Circle, der Zusatz Die Geschichte von Hipgnosis fehlt in der deutschen Auswertung, auch etwas zu zahm. Die Anekdoten, soweit man sie nicht kennt, machen das aber über die moderate Filmlänge wieder wett und die offene, ehrliche Art von Aubrey Powell ist erfrischend.

Corbijn arbeitete viel mit Archivmaterial. Nicht alles an Aufnahmen war nach heutigem Standard ausreichend. Corbijn behalf sich. Er hält seine Dokumentation weitgehend in Schwarz-Weiß. Er behält aber die Plattencover in Farbe. Ein Effekt, der genau das hervorhebt, worauf es ihm ankommt. Eine Bewunderung für die Zeit, die Hipgnosis ermöglichte und die deren Kunst um der Kunst und der Freude daran aufleben lässt, ist sicherlich spürbar. Corbijn hält sich aber zurück. Der Umbruch in den 80ern mit Einsätzen der Synthiepop-Bands wie Depeche Mode wird noch mit eingeflochten. Eine Anekdote, dass damit auch Cobijns Zeit als Photograph von Depeche Mode anbrach, muss noch erzählt werden.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Squaring the Circle: The Story of Hipgnosis Regie: Anton Corbijn Drehbuch: Trish D. Chetty Kamera: Stuart Luck, Martijn van Broekhuizen Montage: Andrew Hulme Animation: Matt Curtis Mit Aubrey Powell, Robert Plant, Jimmy Page, Roger Waters, David Gilmour, Nick Mason, Paul McCartney, Peter Gabriel, Noel Gallagher, Glen Matlock, Merck Mercuriadis, David Gale, Jenny Lesmoir-Gordon, Storm Thorgerson, Roger Dean, Jill Furmanovsky, Richard Manning, Alex Henderson, George Hardie, Peter Saville, Humphrey Ocean, Graham Gouldman, Andrew Ellis, Carinthia West, Richard Evans Großbritannien 2022 101 Minuten Kinostart: 14. März 2024 Verleih: Splendid Film Festivals: Telluride 2022 / Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Dokumentarfilm #SplendidFilm #Sundance2023

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Franz Kafka lernt an der Ostsee die Erzieherin Dora Diamant kennen. Sie betreut eine Gruppe jüdischer Kinder. Er ist bei seiner Schwester zu Besuch. In einer Einstellung erzählt Kafka den Kindern eine Fabel, die nicht gut ausgeht. Es geht auch um den Tod. Man hält die Luft an. Aber: Die Kinder sind begeistert.

Sicherlich hat das Publikum die eine oder andere Kafka-Erzählung im Hinterkopf und auch seine Lebensgeschichte blitzt im Hinterkopf auf. Die Biografie, die der Regisseur Georg Maas (Zwei Leben) und in Co-Regie die Kamerafrau Judith Kaufmann (Räuberhände, Das Lehrerzimmer) hier erzählen, ist eigentlich eine Universelle.

Franz Kafka, gespielt von Sabin Tambrea, und Dora Diamant, sie wird von Henriette Confurius dargestellt, lernen sich kennen und sie verlieben sich, ohne Umschweife. Der Fokus liegt dabei auf der Kraft der Liebe angesichts einer Zukunftslosigkeit des Lebens. Franz Kafka ist bereits todkrank. Er litt an Tuberkulose. Das hindert die Beiden nicht, aus der verbliebenen Zeit das Beste herauszuholen. Dabei ist Die Herrlichkeit des Lebens zwar mit berühmten Figuren bevölkert, aber die eigentliche Geschichte wirkt von den Persönlichkeiten losgelöst.

Vorlage für die Verfilmung ist der gleichnamige Roman von Michael Kumpfmüller von 2011, der diese Liebesbeziehung, die in der Kafka-Forschung kaum mehr als eine Randnotiz ist, anhand von Tagebüchern und Briefen ausgearbeitet hatte.

Was fällt einem bei dem Namen Kafka ein? Sicherlich nicht eine Liebesgeschichte, und genau diese Facette beleuchtet der Roman. Die Verfilmung haucht, auch mit einer stimmigen Besetzung, diesen Figuren Leben ein. Das Drehbuch-Autorenteam Michael Gutmann und Georg Maas streichen die Gegensätze heraus und geben diesem Lebensbejahenden Abschnitt einer Biografie, die man gemeinhin von der düsteren Seite wahrnimmt, einen Raum.

Er ist der Introvertierte, der linkisch und komplett unpassend gekleidet am Strand steht. Sie ist die fröhliche, patente Lebendigkeit. Zwischen ihnen liegen viele Jahre, er ist 40 und sie 25. Andererseits ist sie die Unabhängige und er bräuchte dringend eine Abnabelung. Nicht nur ihr Temperament, auch ihre Herkunft und ihre Lebenssituation könnten nicht unterschiedlicher sein.

Ein ähnlich großer Gegensatz herrscht zwischen der Luftigkeit und Helle an der Ostsee und der kalten Tristesse in der Hauptstadt. Berlin ist hier nur ein zugiges Zimmer mit misstrauischer Wirtin, einem Kohleofen und der Armut der Wirtschaftskrise rundum. Vom Berlin in den Jahren 1923 und 1924 erkennt man kaum etwas und auch die Zwänge und Selbstzweifel, denen Kafka, abseits seiner Erkrankung ausgesetzt ist, kommen etwas zu kurz. Er ist finanziell von seiner Familie abhängig, die diese Beziehung nicht gutheißt. Sie dagegen übt einen Beruf aus und steht mit beiden Beinen fest im Leben.

Was er an ihr fasziniert haben mag, kann man nachvollziehen. Was sie an ihm fand, der hier wahrlich nicht als Autor von Weltliteratur gezeichnet wird, ist schon schwieriger zu deuten. Das schwierige Verhältnis Kafkas zu seiner Familie wird nicht näher beleuchtet und auch die Beziehung zu seinem Freund Max Brod (Manuel Rubey), der sich über seinen letzten Wunsch, seine Texte zu vernichten, hinweggesetzt hatte, bleibt vage. Die Herrlichkeit des Lebens, eine deutsch-österreichische Produktion, wirkt darum doch eher wie ein gut abgestimmtes Melodram für das Kafka-Jahr.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Die Herrlichkeit des Lebens Regie: Georg Maas, Judith Kaufmann Drehbuch: Georg Maas, Michael Gutmann Kamera: Judith Kaufmann Montage: Gisela Zick Musik: Paul Eisenach Mit Sabin Tambrea, Henriette Confurius, Daniela Golpashin, Manuel Rubey, Luise Aschenbrenner, Mira Griesbaum, Lionel Hesse, Leo Altaras, Michaela Caspar, Kristian Wanzl Nekrasov, Mia Klein Salazar, Caspar Stoltenberg, Klaus Huhle Deutschland / Österreich 2023 99 Minuten Kinostart: 14. März 2024 Verleih: Majestic TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #Majestic

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Aus dem Archiv von 2000

Anlässlich des Kinostarts von Gondola teile ich ein Interview mit dem Regisseur Veit Helmer zu seinem ersten Langspielfilm Tuvalu.

Ein Ort in einer anderen Welt. In einer verlassenen Stadt steht ein verfallenes Schwimmbad. Anton, der Bademeister und Martha, die Kassiererin, verwenden allerlei Tricks, um dem blinden Vater von Anton den Eindruck zu vermitteln, das Schwimmbad wäre voller tobender Kinder. Deren Lachen und Plantschen kommt vom Band. Doch es gibt noch mehr zu tun. Das Dach leckt, die Rohre schwitzen, die Kacheln fallen von den Wänden. Antons Bruder Gregor hat sich fest vorgenommen, der Stadt den Fortschritt zu bringen und das alte Schwimmbad abzureißen. Als sich Anton in die junge Eva verliebt, die regelmäßig das Schwimmbad besucht, da ist Gregors Ehrgeiz, gegen Anton zu intrigieren, noch größer. Bis sich Anton und Eva auf einem alten Schleppkahn Richtung Tuvalu aufmachen können, passiert so einiges.

Tuvalu ist ein Traum. Ein Märchen, das man sich gerne jeden Abend erzählen läßt. Veit Helmer hat sich allerhand einfallen lassen, um seinem ersten langen Spielfilm eine eindeutige Handschrift zu geben und den Zuschauer in eine andere Welt zu versetzen, die auch spannend bleibt, wenn die Handlung selbst nicht so kompliziert ist.

Helmer wurde 1968 in Hannover geboren. Bereits als 14jähriger drehte er mit einer Super-8-Kamera und nach der Schule arbeitete er sogleich als Regieassistent. Noch vor dem Mauerfall ging Helmer nach Ost-Berlin um dort mit einem DAAD-Stipendium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch zu studieren. Später besuchte er die Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mit seinen Kurzfilmen besuchte er fast alle Festivals der Welt. Mit Veit Helmer sprach ich Ende April, kurz bevor er nach Ungarn auf ein Filmfestival reiste, von wo er erwartungsgemäß mit dem Hauptpreis abreisen konnte.

In den meisten Filmen ist sehr wenig Kino. Ich nenne das “fotografieren von redenden Leuten”. Wenn man im Kino eine Geschichte erzählt, sollte man nur Dialog verwenden, wenn es nicht anders geht. Man sollte dem Visuellen immer den Vorrang vor dem Dialog geben. – Alfred Hitchcock

Gerade hat man Dich nach Győr zum Mediawave Festival eingeladen. Was hältst Du von Filmfestivals?

Als ich das letzte Mal in Győr war, habe ich einen Ausstatter kennengelernt, den Cristi Niculescu. Der war auch der Ausstatter von Train de Vie. Damals suchte er deutsche Wehrmachts-LKWs. Ich recherchierte für ihn hier in Deutschland, und er hat im Gegenzug für mich rumänische Schwimmbäder abgeklappert. Ich habe dann letztendlich in Bulgarien gedreht, aber er hatte gute Arbeit geleistet. Er hat mir auch den Kontakt zu einem Casting-Direktor, Todor Giorgu, vermittelt. Durch Todor fand ich wiederum die Darstellerin für die Kassiererin in Tuvalu, Cătălina Murgea. So kommen Sachen zustande, man schließt Freundschaften. Ich freue mich auf Festivals, weil es da noch Möglichkeiten gibt, Leute kennenzulernen.

Im Presseheft zu Tuvalu zitierst Du Truffaut, Rossellini und Hitchcock. Wer sind Deine Vorbilder?

Ich hätte auch Zitate von Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone nehmen können. Es ging mir um die Bedeutung der Zitate, die haben natürlich, da sie von Hitchcock und so stammen, einen größeren Wert. Es geht um das Visuelle. Ich möchte keine Diskussion darüber führen, warum der Film keine Dialoge hat. Das interessiert mich nicht. Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, und das besagen die Zitate. Wenn so bedeutende Filmschaffende so etwas sagen, braucht man vielleicht gar nicht mehr groß darüber debattieren.

Filme sollten gedreht werden, um zu zeigen, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die unsere Freunde sein könnten, mit denen wir uns wunderbar verstehen könnten. – Roberto Rossellini

Das, was Rossellini gesagt hat, geht noch auf eine ganz andere Sache zurück. Es ist der Aspekt, daß ich mit Menschen aus vielen verschiedenen Ländern zusammengearbeitet habe. Der Film kann, um es mal in nostalgisch real-sozialistischen Worten auszudrücken, der Völkerverständigung dienen. Eigentlich etwas Wunderschönes. Wir haben in Sofia gedreht und die Crew kam aus Amerika, aus Russland, aus Deutschland und aus Bulgarien. Drei Monate waren wir auf engstem Raum in einem kleinen Schwimmbad tätig und haben uns wunderbar verstanden.

Du bezeichnest Osteuropa als eine große Chance für den deutschen Film. Ist das nicht ein bißchen idealistisch gedacht?

Das ist überhaupt nicht idealistisch, das ist rein praktisch ausgedrückt. Lass es mich so sagen: der deutsche Film hat auf dem Weltmarkt ein recht schlechtes Ansehen. Man kennt noch Rainer Maria Fassbinder, Werner Herzog, Wim Wenders oder Volker Schlöndorff. Tom Tykwer hat jetzt etwas bewegt, und vielleicht wird der Ruf des deutschen Filmes jetzt wieder besser, aber der französische Verleiher von Tuvalu wird meinen Film als bulgarischen Film herausbringen. Ein bulgarischer Film wird in Frankreich besser angesehen als ein deutscher. Zum Teil hat der Weltmarkt auch recht. In Deutschland ist so viel Schlechtes entstanden, Filme, die kein Mensch im Ausland sehen möchte. Dem gegenüber hat in Osteuropa eine Umwälzung stattgefunden, die interessante Geschichten ermöglicht. Das wäre wesentlich interessanter, als Filme über irgendwelche Wohngemeinschaften, Designerliebhabereien und ähnliche Marotten. Mich interessiert es im Moment, mit Autoren aus Osteuropa zusammenzuarbeiten. Dort spricht man noch über die Dinge, die das Leben stärker tangieren.

Was bedeutete Dein Film für die bulgarische Filmwirtschaft?

Na ja, so zynisch das klingen mag, mein Film gab dort 50 Leuten Lohn und Brot. Das bedeutete für Menschen, daß sie erst mal zu essen hatten. Es ist zum Teil traurig, daß, wenn man Komparsen sucht, die ganze Straße voll mit Leuten ist. Sogar Schauspieler und Regieassistenten bewerben sich für einen Job als Komparse. Zur gleichen Zeit hat Régis Wargnier in Bulgarien Teile von Est-Ouest gedreht, aber im Unterschied zu ihm habe ich den Bulgaren auch zugetraut, Hauptrollen zu spielen. Ich habe den Leuten vor Ort die Kameraführung, die Kostümgestaltung und die gesamte Tongestaltung anvertraut. Ich habe keine Assistenten gesucht und deren Position dann mit den Chefs besetzt. Nein, statt dessen habe ich kein Team von hier mitgenommen, sondern habe mit Leuten von dort gearbeitet. Bevor ich den Film gedreht habe, habe ich dort gelebt und die Leute kennengelernt. Ich habe mir ihre Filme angeschaut. Ich habe Kameraleute nach Deutschland eingeladen und mit ihnen hier Werbeclips gedreht. So habe ich mir ein Team zusammengesucht, mit dem ich menschlich gut klarkomme. Eine Grundvoraussetzung allerdings war, und viele Bulgaren konnten dem nicht genügen, daß meine Mitarbeiter Sprachen konnten. Man hatte mich gewarnt. Ich würde betrogen und beklaut werden, und die Leute wären faul. Ich wurde nicht betrogen, ich wurde nicht belogen, ich wurde nicht beklaut, die Leute haben sehr hart gearbeitet und die Mafia hat sich bei mir auch nie vorgestellt. Im Rückblick habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Und, daß manchmal die Dinge nicht so laufen, weil man dort den Dingen gegenüber eine andere Haltung hat, das ist klar. Darauf muß man sich einstellen. Das sind aber auch Dinge, die dem Film zugute kommen. Zum Beispiel ist eine bestimmte Technik nicht vorhanden. Also muß man sich mit Dingen behelfen, die vor Ort vorhanden waren.

Ich kenne noch Deinen Kurzfilm Surprise!. Du hast einen sehr eigenen Humor, die Handlung hat etwas Slapstickhaftes.

Eigentlich habe ich auf Deine Frage nach den Vorbildern nicht geantwortet. Ich meine, seitdem ich sechs Jahre alt war, gehe ich leidenschaftlich gerne ins Kino. In den 70er Jahren wurden die ganzen Charlie Chaplin-Filme restauriert ins Kino gebracht. Ich habe sie mir damals alle angeguckt. Ich sehe sehr gerne die Filme von Alfred Hitchcock und von François Truffaut. Ich schaue mir auch gerne Filme aus Osteuropa an. Momentan sind es die Filme von Emir Kustorica, die für mich Kino spannend machen, und nicht die Filme aus Amerika. Luna Papa, der demnächst bei uns ins Kino kommt, halte ich für absolut sehenswert. Ein Film wie dieser bereichert mich auch als Menschen. Aber als ich Tuvalu gemacht habe, gab es für mich kein direktes Vorbild. Ich hatte eine Idee für eine Geschichte, und ich wußte schon sehr früh, daß diese Geschichte eine besondere Form benötigen würde. Ich wollte eine visuelle Form, in der kein Dialog zum Transport der Handlung beitragen sollte. Dialog sollte eher eine lautmalerische Funktion innehaben. Ich wollte mit dieser Form vielleicht Erinnerungen an das bisherige Kino wachrufen, aber das Kino an sich noch ein Stückchen nach vorne bringen. Ich möchte mich eher als Visionär bezeichnen, als einer, der zurückblickt.

Erzähle mir von der Arbeit am Drehbuch!

Die Idee zu dem Film hatte ich schon vor 12 Jahren. Dann habe ich erst einmal meine Kurzfilme gemacht. Vor fünf Jahren lernte ich die Autorin Michaela Beck kennen und ihr stellte ich verschiedene Ideen vor. Sie war von der Geschichte mit dem Schwimmbad am meisten begeistert. Damals war die Story noch anders. Erst in der Zusammenarbeit mit Michaela Beck entstand das eigentliche Drehbuch zu Tuvalu. Sehr früh entstand auch ein Storyboard. Der Film wurde komplett gezeichnet, noch vor dem ersten Drehtag wurden 1200 Bilder angefertigt. Jetzt sind aber Dreharbeiten immer mit Tücken verbunden. Permanent muß man umdenken, weil Dinge nicht so sind, wie man sie haben wollte. Vögel fliegen nicht so wie sie sollen. Die alte Frau im Becken konnte nicht schwimmen. Der Polizist konnte nicht Radfahren und der Chauffeur konnte nicht Auto fahren. Im technischen Bereich wäre ein Beispiel, daß es für die Unterwasseraufnahmen in Bulgarien keine Cinemascope-Optiken gab. Daraus entwickelt man eine Lösung, die vielleicht viel schöner ist, als das, was man sich im vorhinein überlegt hatte. Eins darf ich nicht vergessen: der Einfluß der Schauspieler ist ungemein wichtig. Ich hatte eine Vorstellung von den Figuren, aber die waren sehr zweidimensional. Erst die Schauspieler bringen eine Lebendigkeit hinein. Mit den Darstellern hatte ich großes Glück. Ich habe in 14 Städten gecastet, habe über 1200 Schauspieler gesehen. Da stehen ganze Aktenordner mit Photos im Regal.

Mit Deinen Kurzfilmen hattest Du eine große Resonanz, aber im Grunde genommen bist Du ein Debütfilmer. Du kommst aus Deutschland, hast nicht viel Geld. Wie hast Du das alles auf die Beine stellen können?

Also, der Schlüssel zum Erfolg ist sicherlich, daß man besessen ist. Es ist ganz wichtig, daß man an etwas glaubt und sich selbst nicht davon abbringen läßt, daß das, was man macht, gut ist. Wenn man anfängt zu zweifeln, wird man nicht mehr nach außen hin transportieren können, daß es Sinn macht, dafür tätig zu sein. Man muß die Leute begeistern und sie motivieren, für einen zu arbeiten. Ich mache ja keine Animationsfilme, wo ich allein in meiner Kammer zeichne. An diesem Film haben über 100 Leute in den verschiedensten Funktionen mitgewirkt.

Aus vielen Ländern.

Das war ein absolute Pluspunkt. Jemand wie Denis Lavant sucht das Ungewöhnliche und Schwierige. Ich denke, daß es Leute gab, die nicht an dem Film mitarbeiten wollten, denen das Projekt zu riskant erschien, auch künstlerisch. Es gab Schauspieler-Agenturen, die nicht mit mir zusammenarbeiten wollten, weil sie meinten, ich würde die Schauspieler zu lange vom Markt nehmen. Die Dreharbeiten dauerten ja doppelt so lange, wie andere Filme. Deutsche Schauspieler können in der Zeit drei Fernsehfilme abdrehen.

Es kommen natürlich ein paar Flugtickets zusammen, wenn man durch 14 Länder reist, aber wenn ich in Deutschland einen Casting-Direktor beauftragt hätte, wäre mir das teurer gekommen. So habe ich meine Videokamera genommen und in den Goethe-Instituten Schauspieler aufgenommen. Wenn mich zum Beispiel ein Goethe-Institut eingeladen hat, meine Kurzfilme zu zeigen, dann konnte ich nachmittags die Zeit nutzen und Schauspieler treffen. Mit Surprise! bin ich auf 130 Festivals gewesen. Da kann man ab und zu für seinen nächsten Film Kontakte klar machen. Während ich jetzt mit Tuvalu unterwegs bin, habe ich auch schon mein nächstes Drehbuch im Reisegepäck.

Hattest Du mit der Entscheidung, in Bulgarien zu drehen, auch schon beschlossen, auf moderne Technik zu verzichten?

Der Film erzählt ja von dem Verschwinden des Alten. Eigentlich ist es fast schon ein Pamphlet für das Analoge, für das Aussterbende. Es bringt den alten Dingen eine große Liebe entgegen. Die Moderne wird mehr in ein lächerliches Licht geworfen. Mich interessiert dieses unmenschliche Digitale nicht. Eine digitale Information ist immer Null oder Eins. Das Analoge ermöglicht Zwischentöne. Ich ziehe einen handgeschriebenen Brief einer E-mail vor, ich freue mich über jede alte Vinylschallplatte und ärgere mich über den Klang von Compact Discs.

Welche Schwierigkeiten hattest Du dann vor Ort, und welche Chancen ergaben sich durch die alte Technik?

Wir benutzten Arg-Scheinwerfer, die machen wunderschönes Licht und sind viel weicher als die modernen Kompakt-Brut-Scheinwerfer. Die muß man noch mit Kohle laden und dafür braucht es zwei Beleuchter. Alle 20 Minuten muß man sie ausstellen und dann wieder neu feuern. Solche Scheinwerfer wurden in Hollywood in den 30er Jahren benutzt und seitdem auch dort nicht mehr, weil es sehr arbeitsintensiv ist, aber das Licht ist seit Sternberg nie mehr so schön gewesen. Mein Film hält den Vergleich nicht stand, aber mit Arg-Scheinwerfern kann man tatsächlich wieder das Licht erreichen, das alle seit 50 Jahren wieder hinzukriegen versuchen.

Du hast zudem mit Schwarzweißmaterial gearbeitet.

Kodak und Illford sind die einzigen Hersteller, die das noch haben. Es ist nicht so kompliziert, das zu bestellen. Und in Osteuropa gibt es eine bessere Infrastruktur, was die Kopierwerksarbeiten betrifft, als in Deutschland. Hier gilt das als Rarität und es wird ein Aufpreis bei der Entwicklung verlangt. Ich kam in der Hinsicht also günstiger weg.

Hinterher hast Du den Film eingefärbt. Wodurch hast Du dich dabei leiten lassen?

Wie so vieles, entstand das nicht einem kreativen Mastermind, sondern es waren Zwänge und Notwendigkeiten, die mich darauf gebracht haben. Ich wollte mit Chulpan Сhamatova drehen, die ich in Moskau entdeckt hatte. 1998 lief ein Film mit ihr, Strana Gluchich (Das Land der Gehörlosen) von Waleri Todorowski, auf der Berlinale, und über Nacht wurde sie zum Star. Damals wurde sie auch von Bachtijor Chudoinasarow für Luna Papa verpflichtet und so konnte ich nur drei Monate im Sommer mit ihr arbeiten. Der Sommer war aber für das Konzept des Filmes äußerst abträglich. Ich suchte doch eine kalte graue Stimmung. Ich wollte diese Tristesse im Kontrast zu dem warmen Schwimmbad setzen. Nach einigen Tests meines Kameramannes haben wir uns für Schwarzweiß entschieden, doch wir wollten keinen retro-nostalgischen Film machen noch dazu ohne Dialoge und dann auch noch in Schwarzweiß. Das wäre der Idee des Visionären total schädlich gewesen. Darum haben wir das Schwarzweiß-Negativ auf Farb-Positiv umkopiert. Auf einmal hat man dann die totale Freiheit, wie ein Maler kann man mit allen Farbtönen auf der Palette spielen. Ehrlich gesagt, habe ich erst nach dem Dreh, sogar nach dem Schnitt entschieden, welche Szene welchen Ton bekommen sollte. Ich habe hier ein kleines Arbeitszimmer mit einer kleinen Videoschnittanlage, im Kopierwerk wäre das teuer gewesen, und da habe ich Szene für Szene verschiedenfarbig eingefärbt. Ich kam dann auf die Idee, daß ich den Räumen Farben zuordne. Draußen sollte es eine kühl gräulich-bläuliche Tönung geben, der Keller sollte rötlich sein, dem bösen Bruder ordnete ich eine grünliche Farbe zu und so weiter. Eine Menge Arbeit, und dann mußte das auf Film nachvollzogen werden. Da haben wir hier in Berlin bei Geyer mehrere Wochen gesessen, bis auf der Leinwand das zu sehen war, was ich mir im Kopf ausgedacht hatte.

Zuerst merkt man es nicht, doch dann setzt sich dieses monotone Pochen im Hinterkopf fest. Der Klang der Imperial-Maschine, das Herzstück des Schwimmbades und des Filmes.

Die Maschine ist fast schon ein Hauptdarsteller des Filmes. Sie ist die Seele des Schwimmbades, und am Ende wird sie auch mitgenommen. Das hat eine fast schon religiöse Bedeutung. Der Körper des Schwimmbades stirbt, aber die Seele lebt auf dem Boot von Eva weiter. Diese Maschine wurde mit viel Liebe gestaltet und sie hat sich beim Dreh wunderschön bewegt, aber sie hatte einen Elektromotor. Ihr Klang wurde tatsächlich erst in der Postproduktion von einem Sounddesigner kreiert. Da haben wir dann mit Computern arbeiten müssen. Es war ein ungeheurer Aufwand, über 100 Minuten eine komplexe Tonebene zu gestalten, die einen vergessen macht, daß nicht geredet wird. Wir hatten unzählige Tonspuren mit Musik, Geräuschen, Atmosphären, Sprache, Sprachsynchro, Töne vom Drehort. Der Ton hat länger gedauert als die Dreharbeiten.

Eine Frage zu Eva. Die Geschichte ist ja nicht höllisch kompliziert. Da gibt es den guten und den bösen Bruder. Dann ist da Eva, und ich fragte mich, warum sie jetzt so gemein ist, und dem guten Bruder das für ihn Allerwichtigste zu stehlen und dabei hat sie noch nicht einmal Gewissensbisse.

Muß ich jetzt etwas dazu sagen? Ich finde, das macht die Schönheit der Figur aus. Chulpan hat etwas, was viele mit Audrey Hepburn vergleichen. Schau Dir Wie klaut man eine Million von William Wyler an. Chulpan ist immer dann am Verführerischsten, wenn sie zu lügen und betrügen anfängt.

Hast Du ihr die Rolle auf den Leib geschrieben?

Die Rolle stand bereits im Buch, aber erst beim Drehen setzt man Akzente. Da wird aus einer kurzen Nebenhandlung etwas Größeres, wenn man sieht, mit welcher Lust sie ins Schwimmbad einsteigt und den Kolben klaut. Chulpan entwickelt eine wahnsinnige Aura, wenn die Kamera sich auf sie richtet, sie versetzt den ganzen Raum unter Elektrizität, nimmt alle Umstehenden in ihren Bann. Das kann man als Regisseur später am Schneidetisch entdecken und es verwenden. Ich habe sehr früh gemerkt, daß Chulpan für diese Rolle fantastisch geeignet ist, darum habe ich auch sehr viel um sie gekämpft. Sie hatte viele Angebote, für meinen Film hat sie eine Theaterrolle bei Peter Stein ausgeschlagen, obwohl sie eine absolute Theaterfanatikerin ist. Ich hatte andere Schauspielerinnen gecastet, in Amerika und in Frankreich, und trotzdem denke ich, daß ich mit ihr einen absoluten Glücksgriff gemacht habe.

Dein nächstes Projekt hast Du mit Emir Kustoricas Drehbuchautoren Gordan Mihić erarbeitet. Erzähl mal was davon!

Gordan Mihić habe ich vor fünf Jahren getroffen. Ich war nach Belgrad geflogen, um Kurzfilme zu zeigen. Damals hatte ich ihn angerufen und ihm ein Projekt vorgeschlagen. Er hat sich dann meine Kurzfilme angeschaut und war eigentlich sehr angetan, wollte aber erst einmal eine längere Zeit mit mir verbringen, um meine künstlerischen Intentionen kennenzulernen. Wir waren dann beide zufälligerweise im gleichen Jahr in Cannes. Er mit Someone Else's America von Goran Paskaljević und ich mit Surprise!. Wir haben beide damals den Publikumspreis bekommen. Das haben wir damals als glückliches Zeichen gedeutet und wir haben uns dann eine Woche lang zusammengetan und an Geschichten gearbeitet. Es war ganz schnell klar, daß wir einen Film machen wollten, der an einem Flughafen spielt. Wir gehen in den Untergrund des Flughafens, dort wo die Maschinen stehen, wo die Arbeiter, Gepäckträger und Putzfrauen arbeiten. Wo sich Menschen aus Indien, Russland und Afrika treffen und versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Wir zeigen den Flughafen, so wie ihn Passagiere nicht kennen. Fließbänder und Rohre. Grundsätzlich mag ich es, an einem Ort zu drehen, diesen Ort dann, wie dieses Schwimmbad in Tuvalu, von allen möglichen Seiten zu beleuchten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Eneh

Tuvalu Deutschland 1999 Regie & Produktion: Veit Helmer Drehbuch: Veit Helmer & Michaela Beck Kamera: Emil Christov Produktionsdesign: Alexander Manasse Ausstattung: Prolet Georgieva Kostüme: Boriana Mintcheva Schnitt: Araksi Muhibian Ton: Svetlozar Georgiev Tondesign: Jörg Theil Musik: Jürgen Knieper Mit Denis Lavant, Chulpan Сhamatova, Philippe Clay, Terrence Gillespie, E.J. Callahan, Djoko Rossich, Cătălina Murgea, Todor Georgiev. 92 Minuten Verleih: Buena Vista International

Das Interview wurde von Elisabeth Nagy am 26. April 2000 in Berlin geführt.

Aus dem Archiv: Das Gespräch wurde 2000 unter anderem im [030] Magazin (in gekürzter Form) und im Fanzine May Way, Ausgabe #49, publiziert. Online sind die Artikel nicht verfügbar. Der Text wurde bis auf Verlinkungen nicht verändert und ist darum auch nicht gegendert.

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