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Spielfilm

Es ist Geschichte, die das Heute und das Gestern verbindet. Die Archäologie ist, vereinfacht gesagt, eine Wissenschaft, die die Hinterlassenschaften vorangegangener Kulturen und Epochen aufspürt, einordnet und aufbereitet. Dabei geht es nicht nur um spektakuläre Funde wie Büsten, Vasen, Schmuck. Sondern auch darum, wie Menschen gelebt haben. Um ihr Klima, um ihr Handwerk, die Verbindungen untereinander, ihre Lebensgewohnheiten. Es geht um Befunde. Grabräuber zerstören die Grundlage, mit der Archäologen arbeiten. Viele denken auch nicht an Howard Carter, der das Grab von Tutenchamun gefunden hatte, oder Heinrich Schliemann, der nach Troja gesucht hatte, um zwei der berühmtesten Vertreter der Zunft zu nennen, die für ihre Funde bekannt wurden. Die meisten werden vielmehr an Lara Croft und Indiana Jones denken.

Das wird auch die Festivalmannschaft von Cannes erfreut haben. Cannes zeigte 2023, sicherlich um dem Mainstream-Hollywood-Kino eine Bühne zu geben, den letzten Indiana Jones-Film, der kläglich an der Kinokasse um seine Einspielkosten kämpfen musste. Aber eben auch La Chimera der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher. Von Cannes aus ging es auf ein Festival nach dem anderen. Im Kino der Berliner Kulturbrauerei konnte man im Dezember letzten Jahres La Chimera als Eröffnungsfilm des Filmfestivals Around the World in 14 Films bewundern.

Rohrwachers Hauptfigur ist der Brite Arthur. Dessen Darsteller Josh O'Connor ist bis dato dafür bekannt, dass er Prince Charles in der Serie The Crown gespielt hat. Nach La Chimera wird er sicherlich noch öfters rauf und runter besetzt werden. Noch in diesem Monat wird er zum Beispiel in dem Sportdrama Challengers – Rivalen von Luca Guadagnino in einer der Hauptrollen auftauchen. Sein Arthur ist ein Ritter ohne Rüstung, aber in einem hellen Anzug, der sicherlich irgendwann einmal was hergemacht hat, und jetzt von Szene zu Szene mehr und mehr Patina annimmt. Sein Arthur ist von trauriger Gestalt, doch unnahbar und entrückt. Und doch ist es diese Gestalt, die uns in ein Italien in den 80ern führt, und uns etwas über die Frauenschicksale und das Leben der Ärmsten unter den Armen erzählt.

Arthur wäre vielleicht gerne ein Archäologe, aber er ist nur ein Wünschelrutengänger, der die besondere Gabe hat, verborgene Schätze zu finden. Die Handlung führt ihn auf der Reise in ein italienisches Küstenstädtchen ein. Er kommt gerade aus dem Knast und ist immer noch in Trauer um seine Freundin, die aus dem Ort, in dem er nun landet, stammt. Mit seinen alten Kumpels möchte er nichts zu tun haben. Aber er ist für diese leichte Beute. Sie fangen ihn schon am Bahnhof ab.

Arthur ist eine traumwandelnde Gestalt, die zwischen dem Hier und Jetzt und dem Vergangenen feststeckt. Er gehört nun nirgendwo mehr richtig hin. Er hat noch nicht einmal eine Bleibe. Nur einen Bretterverschlag, der an der Stadtmauer klebt. Selbst diese Bleibe scheint sich weder innerhalb noch außerhalb der Stadt und der Geschichte zu befinden. Er besucht die Mutter seiner Freundin und deren zahlreiche Schwestern. Er dockt hier an eine Wahlfamilie nach der anderen an und bleibt doch suchend. Dabei ist es wohl seine Suche, die ihn an die Vergangenheit bindet. Aus der er nie wirklich erwachen kann. Die anderen Figuren wecken ihn scheinbar immer nur kurz auf.

Arthurs Kumpel brauchen ihn derweil, damit er weitere etruskischen Gräber aufspürt. Immer auf der Suche nach dem ultimativen Fund, der ihnen Reichtum oder auch weniger Armut beschere. Die kostbaren Funde wollen sie an einen dubiosen Kunsthändler verscherbeln. Das ist ihr primäres Einkommen und ihr Lebensinhalt. Es sind halt Grabräuber. La Chimera ist darum auch kein Psychogramm, sondern ein Abenteuerfilm und gleichzeitig ein Märchen mit einer Portion italienischem Neorealismus. Letztlich geht es auch Alice Rohrwacher darum, aufzuzeigen, wie wir gelebt haben und wie alles irgendwie zusammenhängt.

Alice Rohrwacher wurde vor 10 Jahren mit dem Film Land der Wunder bekannt. In Cannes gewann der Film über eine deutsch-italienische Familie, die sich abmüht, Honig zu produzieren, den großen Preis der Jury und in München den CineVision-Award. Es folgte 2018 der Film Glücklich wie Lazzaro, über einen jungen Mann, der die harten Bedingungen der Arbeiterschaft mit stoischer Gutmütigkeit erträgt. La Chimera ist nun der dritte Teil dieser Trilogie. Die Frage, ist auch hier, was Vergangenheit bedeuten kann. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeuten für die handelnden Figuren Verschiedenes. Es sind auch verschiedene Trugbilder, die im Titel angegeben Chimären, die sie durch die Handlung begleiten.

Arthur lebt in einer kaum vergangenen Vergangenheit, in der er noch mit seiner Freundin zusammen ist. Rohrwacher verbindet die Szenen der verschiedenen Zeiten so, dass auch das Publikum in ein Gefühl der Gleichzeitigkeit gerät, in dem seine Freundin noch lebt und in der seit Jahrhunderten verborgene Gräber sich ihm wie ein weiterer Weg auftun. Vieles ist hier Traum, vieles ist hier Trauer. Den verstorbenen Seelen, die ihm begegnen, bedeuten unsere Zeitbegriffe nichts. Arthur ist hier eine Orpheus-Gestalt, die uns durch einen magischen Realismus führt, wie ihn die Regisseurin, hier zusammen mit der Kamerafrau Hélène Louvart und der Cutterin Nelly Quettier, ganz eigen ist.

In La Chimera deuten zwar Aufnahmetechnik und Filmmaterial auf die einzelnen Stränge hin, aber das muss einem gar nicht groß auffallen. Vielmehr sollte man sich hier fallen lassen und auf die Geschichte vertrauen, die sich eher nicht rational zusammenfügt und dann erst ihre Frucht und Geschmack freigibt, wenn sie zu Ende gesponnen wurde.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: La chimera Regie: Alice Rohrwacher Drehbuch: Alice Rohrwacher Kamera: Hélène Louvart Montage: Nelly Quettier Mit Josh O'Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Lou Roy-Lecollinet, Giuliano Mantovani, Gian Piero Capretto, Melchiorre Pala, Ramona Fiorini, Luca Gargiullo, Yile Yara Vianello, Barbara Chiesa, Elisabetta Perotto, Chiara Pazzaglia, Francesca Carrain, Valentino Santagati, Piero Crucitti, Luciano Vergaro, Carlo Tarmati, Milutin Dapcevic, Luca Chikovani, Julia Vella, Agnese Graziani Italien / Frankreich / Schweiz 2023 132 Minuten Kinostart: 11. April 2024 Verleih: Piffl Medien Festivals: Cannes 2023 / Telluride 2023 / Toronto 2023 / Zürich 2023 / Around the World in 14 Films 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #PifflMedien #Cannes2023

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Es heißt im Talmud, “Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt”. Darauf bezieht sich der Titel von James Hawes' Biografie-Verfilmung. Der Brite Hawes, der bisher als Fernsehregisseur tätig war, von ihm stammen Episoden von Doctor Who oder Penny Dreadful, widmet sich der Lebensgeschichte des Handelsmaklers Nicholas Winton, der für unzählige jüdische Kinder in den 30er Jahren zum Lebensretter wurde. Hier greift der Vergleich zu Oskar Schindler, der zahlreiche, ihm zugewiesene Zwangsarbeiter rettete. Weit nach dem Krieg überreichten ihm die Geretteten einen Ring, in dem sie eben jenen Spruch eingraviert hatten.

Nicholas Winton reiste auf Einladung eines Freundes vom “British Committee for Refugees from Czechoslovakia” nach Prag. Die Stadt war nach der Sudetenkrise von Flüchtlingen überlaufen. Winton war ob seiner Familiengeschichte, seine Eltern hießen ursprünglich Wertheim und waren Anfang des 20. Jahrhunderts nach Großbritannien ausgewandert, sensibilisiert für das Schicksal anderer. Er wollte helfen. Zumindest den Kindern könnte er einen Weg aus dem Elend öffnen. Nach dem britischen Gesetz konnten Kinder unter 17 Jahren, sofern sich Bürgen fanden, die die Kinder aufnahmen und für Visa und Reisekosten aufkamen, ins Land kommen. Winton und zahlreiche Helfer sowohl in Prag also auch in Großbritannien taten genau das. Geld sammeln, Unterstützende und Adoptiveltern finden, Visa organisieren, Züge buchen. Innerhalb eines Jahres konnte sein Team über 600 Kinder nach Großbritannien bringen. Nur der letzte Transport scheiterte. Es war der 1. September 1939.

Jahrelang hatte Winton über die Zeit in Prag geschwiegen. Erst in den 80ern tauchen die alten Unterlagen in einem Koffer wieder auf. Ausgerechnet eine boulevardeske Talk-Show bringt Winton mit den inzwischen erwachsenen Kindern zusammen. Die legendäre TV-Show That's Life! schrieb mit dieser gewagten Zusammenführung auch ein Stück britischer Fernsehgeschichte, wenn man das glauben mag. Das Drehbuch von One Life von Lucinda Coxon und Nick Drake fußt auf der Biografie If It's Not Impossible… The Life of Sir Nicholas Winton von Wintons Tochter Barbara, die folglich die Produktion auch begleitete. Auf ihren Wunsch hin, trug man die Hauptrolle Anthony Hopkins an.

One Life erzählt sich in zwei gleichwertigen Zeitsträngen. Winton, gespielt also von Anthony Hopkins und hier eindeutig das Highlight des Filmes, versucht die alten Erinnerungsstücke in gute Hände zu geben. Dabei erinnert er sich an die Vergangenheit, reflektiert das Geschehene und bedauert, dass er nicht mehr Kinder hatte retten können. Die Erinnerungen, hier spielt Johnny Flynn den jüngeren Winton, setzen mit der ersten Reise nach Prag ein. Eher konventionell wird das Elend der Kinder gezeigt. Sein Enthusiasmus, dass man etwas tun müsse und könne, wird von den Hilfskräften vor Ort gedämpft. Da kommt jemand her, ist noch keine fünf Minuten vor Ort und meint schon alles besser zu wissen. Dadurch wird die Figur Wintons natürlich etwas erhöht. Aber die Hürden sind enorm und ohne Helfer wäre auch Winton gescheitert. Da greift der Film zum Beispiel die Rolle seiner Mutter auf, gespielt von Helena Bonham Carter. Sie steht im Kampf mit der britischen Bürokratie an vorderster Front und akzeptiert kein Nein.

Die Szenen, die sowohl Prag als auch London Ende der 30er zeigen mögen den Regeln der Spannungskurve folgen, aber sie sind in Zeiten, in denen wir uns ein ums andere Mal mit den Flüchtlingsströmen von heute auseinandersetzen müssen, bitter nötig. Wo ein Wille ist, ist nämlich ein Weg. One Life erfindet das Kino nicht neu. Es ist sogar recht konventionell gedreht. Es setzt auf Wirkung. Seiner Hauptfigur muss die Handlung gar kein Denkmal setzen. Bereits mehrmals wurde Wintons Leben filmisch angegangen. Aber die Wirkung, auf die One Life setzt, hat dieser Film auch. Da bleibt wohl kein Auge trocken, wenn Winton in einer von ihm eher nicht so geschätzten Fernsehsendung, plötzlich jemanden trifft, den er gerettet hatte. Eine Szene, die im Film übrigens mit zahlreichen Überlebenden besetzt wurde.

Ganz unumstritten ist One Life nicht. Nicht nur, dass die Nebenfiguren Nebenrollen bleiben, werden auch die Kinder und ihre Eltern auf ihre Rolle in Not reduziert. Auch kreidete man der BBC, die den Film mitproduzierte und bewarb, an, dass sie die Kinder als zentraleuropäische Kinder benannte. Die BBC nahm die Kritik an und änderte ihren Auftritt und erwähnte erst jetzt, dass es sich um hauptsächlich jüdische Kinder handelte. Auf der Gala der “Cinema for Peace”-Veranstaltung im Februar dieses Jahres in Berlin, zeichnete man One Life zusammen mit Golda, der demnächst ins Kino kommt, und The Zone of Interest aus.

One Life, besonders durch das leise und präzise Spiel von Anthony Hopkins, überzeugt eher durch die Darstellung der Organisation der Kindertransporte. Nur in Anklängen spricht der Film auch an, was es für die Eltern bedeutet haben muss, ihre Kinder in fremde Hände geben zu lassen. Die eigentliche Reise ist dabei weniger Thema. Mehr schon steht die Figur von Winton selbst im Mittelpunkt. Hier hebt der Film gerade das Gewöhnliche und die Bescheidenheit des Mannes hervor.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: One Life Regie: James Hawes Drehbuch: Lucinda Coxon, Nick Drake Vorlage: Barbara Winton Kamera: Zac Nicholson Montage: Lucia Zucchetti Musik: Volker Bertelmann Mit Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Lena Olin, Romola Garai, Alex Sharp, Jonathan Pryce Großbritannien 2023 109 Minuten Kinostart: 28. März 2024 Verleih: Square One Festivals: Toronto 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #SquareOne

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Immer wieder behandelt der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda komplexe Familienbeziehungen. Wobei “komplex” sicherlich mit “schwierig” Hand in Hand geht. In seinem letzten Film, Broker, eine südkoreanische Produktion, den er ebenso wie jetzt Die Unschuld in Cannes vorstellen durfte, ging es um die Adoption und den Kinderwunsch.

Noch bekannter war 2018 sein Film Shoplifters – Familienbande über eine prekäre Wahl-Familie in Tokio, die sich mit Ladendiebstählen über Wasser hält. Oder Nobody Knows von 2004, auch dieser Film wurde in Cannes vorgestellt. Hier wird nach einem wahren Fall die Geschichte von Geschwistern erzählt, die von der Nachbarschaft unbemerkt, allein in einer Wohnung ausharren und auf die Mutter warten. In Like Father, Like Son von 2013 erzählt der Regisseur von zwei Familien, die sich begegnen, als sie erfahren, dass ihre Kinder bei der Geburt vertauscht worden sind.

Die Unschuld hat zumindest im deutschsprachigen Raum eine Bedeutungsverschiebung erfahren. Kaibutsu, so heißt der Originaltitel auf Japanisch, bedeutet, so wie der internationale Titel es auch korrekt übersetzt: Monster. Die scheinbar konträren Titel liegen aber gar nicht so weit auseinander.

Hirokazu Kore-eda erzählt von einem Jungen, der sich selbst immer wieder als Monster sieht. Woher er diese fixe Idee hat, die er kindlich mit einer Horrorvorstellung untermalt, das wird natürlich auch angesprochen, aber der Reihe nach. Minato (gespielt von Soya Kurokawa) bereitet seiner alleinerziehenden, verwitweten Mutter Sorgen. Er wirkt zurückgezogen und unnahbar. Saori, die Mutter wird von Sakura Andô gespielt, wähnt die Ursache in der Schule zu finden. Ein besonders junger Lehrer habe ihren Sohn ungerecht behandelt und auch geschlagen. Hori (Eita Nagayama) wird zwar immer wieder zu einer Begegnung mit der Mutter ins Direktorat dazu geholt, schweigt sich aber aus. Die Direktorin (Yūko Tanaka) setzt auf Schadensbegrenzung und agiert aalglatt höflich und unverbindlich, so dass jede Aussprache und damit Klärung unmöglich scheint.

Hirokazu Kore-eda legt mehrere Fährten aus. Man ahnt, dass die Sicht auf die Figuren und ihre Handlungen trügerisch ist. Man ahnt, dass die Wahrheit eine andere ist. Aber werden die Figuren die Wahrheit finden? Dabei ist eine der frühen Fährten eine, die man kaum wahrnimmt. Der Junge kommt einmal nicht rechtzeitig nach Hause und die Mutter sucht verzweifelt nach ihm. Was geht nur in dem Jungen vor? Das Buch, das übrigens nicht vom Regisseur selbst, sondern von Yûji Sakamoto stammt, der sich bisher hauptsächlich im Serien-Bereich hervorgetan hat, öffnet hier eine Welt als Gegenentwurf für die der Erwachsenen und stellt diese parallel. Doch zuerst bleibt diese Welt für das Publikum verborgen.

Derweil setzt Hirokazu Kore-eda ein zweites Mal an, uns die Geschichte, die scheinbar in der Schule beginnt, zu erzählen. Dabei ist die Schule nur der Mikrokosmos einer Gesellschaft, in der eine Tradition der Höflichkeit Missstände überdeckt. In dem zweiten Drittel des Filmes erfahren wir, wie sich die Handlung aus der Sicht des Lehrers abspielt. Er ist jung, er ist engagiert, er hat Ambitionen und Ideale. Reicht es denn, ohne Fehl zu sein, um einer Anschuldigung gewachsen zu sein? Dabei ist Minato für ihn ein Schüler, von dem er annimmt, dass dieser einen anderen, schwächeren Klassenkameraden, Yori (Hinata Hiiragi), mobbt. Erst das letzte Drittel erzählt sich aus der Perspektive dieser zwei Kinder, gerade mal um die 10 Jahre alt. Kinder, die besonders Erwachsenen ihr Innerstes nicht preisgeben. Kinder, die schweigen, wenn die Erwachsenen sie mit Fragen bedrängen.

Das Monster, das im Titel beschworen wird, ist dabei sowohl Metapher als auch Charakterzug. Das vermeintliche Richtige, dass die Figuren tun, kann das Falsche sein und einem anderen das Leben zur Hölle machen. Das System an sich ist jedoch auch eines, was dieses Monströse begünstigt. Von Unschuld kann kaum die Rede sein. Nur Kinder besitzen noch eine Unschuld, wobei sie noch nicht einordnen können, wie weit Schuld und Unschuld auseinander liegen. Das Monströse der Gesellschaft ist es auch, dass diese Kinder und ihre Unschuld unter Druck setzt.

Hirokazu Kore-eda setzt darauf, dass das Publikum sich seiner Vorurteile bewusst wird und schubst es sanft an, Ereignisse und Beurteilungen zu hinterfragen. Die Unschuld führt die Zuschauenden dabei auf eine ähnliche Reise, wie die Figuren. Dabei hangeln sich die Erkenntnisse durch den Ablauf der Naturgewalten, die sowohl monströs geschehen als auch dabei keinerlei Schuldwert haben. Zwischen einem katastrophalen Feuer und einem alles verschlingenden Wassersturz werden die Figuren Kräften ausgesetzt, denen sie sich stellen müssen.

In Cannes gewann Die Unschuld den Preis für das beste Drehbuch. Darüber hinaus gab man ihm auch den “Queer-Palm”-Preis. Dazu sein erwähnt, dass der Regisseur die Kinder in einem noch bewusst “unschuldig” gehaltenen Alter angesetzt hat. In Deutschland wurde der Film zuerst auf dem Filmfest München vorgestellt. Übrigens handelt es sich bei Die Unschuld, dessen Filmmusik die Handlung überzeugend unterstützt, um die letzte Arbeit des Komponisten Ryūichi Sakamoto.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Kaibutsu Internationaler Titel: Monster Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Yūji Sakamoto Kamera: Ryûto Kondô Montage: Hirokazu Kore-eda Musik: Ryūichi Sakamoto Mit Sakura Andô, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata, Akihiro Kakuta, Shidô Nakamura, Yûko Tanaka Japan 2023 127 Minuten Kinostart: 21. März 2024 Verleih: Wild Bunch Germany Festivals: Cannes 2023 / Karlovy Vary 2023 / München 2023 / Toronto 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #WildBunch #Cannes2023 #München2023

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Franz Kafka lernt an der Ostsee die Erzieherin Dora Diamant kennen. Sie betreut eine Gruppe jüdischer Kinder. Er ist bei seiner Schwester zu Besuch. In einer Einstellung erzählt Kafka den Kindern eine Fabel, die nicht gut ausgeht. Es geht auch um den Tod. Man hält die Luft an. Aber: Die Kinder sind begeistert.

Sicherlich hat das Publikum die eine oder andere Kafka-Erzählung im Hinterkopf und auch seine Lebensgeschichte blitzt im Hinterkopf auf. Die Biografie, die der Regisseur Georg Maas (Zwei Leben) und in Co-Regie die Kamerafrau Judith Kaufmann (Räuberhände, Das Lehrerzimmer) hier erzählen, ist eigentlich eine Universelle.

Franz Kafka, gespielt von Sabin Tambrea, und Dora Diamant, sie wird von Henriette Confurius dargestellt, lernen sich kennen und sie verlieben sich, ohne Umschweife. Der Fokus liegt dabei auf der Kraft der Liebe angesichts einer Zukunftslosigkeit des Lebens. Franz Kafka ist bereits todkrank. Er litt an Tuberkulose. Das hindert die Beiden nicht, aus der verbliebenen Zeit das Beste herauszuholen. Dabei ist Die Herrlichkeit des Lebens zwar mit berühmten Figuren bevölkert, aber die eigentliche Geschichte wirkt von den Persönlichkeiten losgelöst.

Vorlage für die Verfilmung ist der gleichnamige Roman von Michael Kumpfmüller von 2011, der diese Liebesbeziehung, die in der Kafka-Forschung kaum mehr als eine Randnotiz ist, anhand von Tagebüchern und Briefen ausgearbeitet hatte.

Was fällt einem bei dem Namen Kafka ein? Sicherlich nicht eine Liebesgeschichte, und genau diese Facette beleuchtet der Roman. Die Verfilmung haucht, auch mit einer stimmigen Besetzung, diesen Figuren Leben ein. Das Drehbuch-Autorenteam Michael Gutmann und Georg Maas streichen die Gegensätze heraus und geben diesem Lebensbejahenden Abschnitt einer Biografie, die man gemeinhin von der düsteren Seite wahrnimmt, einen Raum.

Er ist der Introvertierte, der linkisch und komplett unpassend gekleidet am Strand steht. Sie ist die fröhliche, patente Lebendigkeit. Zwischen ihnen liegen viele Jahre, er ist 40 und sie 25. Andererseits ist sie die Unabhängige und er bräuchte dringend eine Abnabelung. Nicht nur ihr Temperament, auch ihre Herkunft und ihre Lebenssituation könnten nicht unterschiedlicher sein.

Ein ähnlich großer Gegensatz herrscht zwischen der Luftigkeit und Helle an der Ostsee und der kalten Tristesse in der Hauptstadt. Berlin ist hier nur ein zugiges Zimmer mit misstrauischer Wirtin, einem Kohleofen und der Armut der Wirtschaftskrise rundum. Vom Berlin in den Jahren 1923 und 1924 erkennt man kaum etwas und auch die Zwänge und Selbstzweifel, denen Kafka, abseits seiner Erkrankung ausgesetzt ist, kommen etwas zu kurz. Er ist finanziell von seiner Familie abhängig, die diese Beziehung nicht gutheißt. Sie dagegen übt einen Beruf aus und steht mit beiden Beinen fest im Leben.

Was er an ihr fasziniert haben mag, kann man nachvollziehen. Was sie an ihm fand, der hier wahrlich nicht als Autor von Weltliteratur gezeichnet wird, ist schon schwieriger zu deuten. Das schwierige Verhältnis Kafkas zu seiner Familie wird nicht näher beleuchtet und auch die Beziehung zu seinem Freund Max Brod (Manuel Rubey), der sich über seinen letzten Wunsch, seine Texte zu vernichten, hinweggesetzt hatte, bleibt vage. Die Herrlichkeit des Lebens, eine deutsch-österreichische Produktion, wirkt darum doch eher wie ein gut abgestimmtes Melodram für das Kafka-Jahr.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Die Herrlichkeit des Lebens Regie: Georg Maas, Judith Kaufmann Drehbuch: Georg Maas, Michael Gutmann Kamera: Judith Kaufmann Montage: Gisela Zick Musik: Paul Eisenach Mit Sabin Tambrea, Henriette Confurius, Daniela Golpashin, Manuel Rubey, Luise Aschenbrenner, Mira Griesbaum, Lionel Hesse, Leo Altaras, Michaela Caspar, Kristian Wanzl Nekrasov, Mia Klein Salazar, Caspar Stoltenberg, Klaus Huhle Deutschland / Österreich 2023 99 Minuten Kinostart: 14. März 2024 Verleih: Majestic TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #Majestic

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Irgendwo in den Bergen. Hier ist eine Seilbahn Dreh- und Angelpunkt für Begegnung, Verbindung und die Liebe. Zwei Gondeln fahren stetig hoch und runter zwischen einem Dorf oben in den Bergen und einem Dorf unten im Tal. Als der alte Seilbahnschaffner stirbt, trägt diese auch seinen Sarg hinunter in die Tiefe. Seine Tochter, die aus der Fremde zurückkehrt, übernimmt, aber da es nun einmal zwei Gondeln sind, braucht es noch einen zweiten Mitarbeiter oder eine zweite Mitarbeiterin. Die Entscheidung fällt für die Person, der die Uniform passt. Und so lernt das Publikum Iva (Mathilde Irrmann) und Nino (Nini Soselia) kennen, zwei junge Frauen, die fortan die Gondeln betätigen werden. Gondola von dem deutschen Regisseur Veit Helmer ist ein Kino-Märchen, zeitlos und verspielt. Humorvoll und aufmüpfig.

Viele Regisseure und Regisseurinnen haben eine unverkennbare Handschrift. So auch Veit Helmer. Schon in seinem ersten Kurzfilm. In Surprise! (1995) erzählte er seine Geschichten ohne Dialoge. Sein erster Langspielfilm, Tuvalu (1999) spielte in einem verfallenen Schwimmbad. Anton, der Bademeister und Martha, die Kassiererin, verwenden allerlei Tricks, um Antons blindem Vater den Eindruck zu vermitteln, das Schwimmbad wäre voller tobender Kinder. Eine Eifersuchtsgeschichte und eine Liebesgeschichte gibt es natürlich auch. Schon damals war für Veit Helmer ein Film mit Dialogen zu wenig Kino.

Eine Erzählung ohne Dialoge erfordere auch vom Publikum viel mehr Aufmerksamkeit, das war und ist sein Motto und er versucht stets, alle im Kinosaal mitzunehmen. Ohne Dialoge standen und stehen ihm auch alle Schauspieler und Schauspielerinnen zur Verfügung, ungeachtet ihrer Nationalität und ihrer Sprachkünste. Schon in Tuvalu wählte Helmer einen internationalen Cast. Er besetzte einen Franzosen, eine Rumänin und eine Tatarin. Die Möglichkeiten waren grenzenlos. Aber Helmer zog es doch immer wieder in den Osten. Die Drehorte von Tuvalu fand er damals in Bulgarien. Nach Absurdistan (2008), den er in Aserbaidschan, oder nach Baikonur (2011), den er in Kasachstan drehte, folgt jetzt Gondola, dessen Drehort, unschwer erkennbar durch die Hausaufschriften, in Georgien gedreht worden ist.

Hier fand Veit Helmer tatsächlich eine Seilbahn, die ihn zu einer Geschichte über zwei Frauen, die sich immer nur begegnen, wenn ihre Gondoln sich auf gleicher Höhe treffen, inspirierte. All die Einfälle, auf die die Beiden kommen, um die Aufmerksamkeit des jeweils anderen zu erlangen, möchte ich gar nicht aufzählen. Sicherlich ist die Form hier für den Spielfilm prägend und die Form bestimmt den Inhalt. Viel passiert da gar nicht. Veit Helmers Liebe zum “Analogen” im Gegensatz zu dem “Digitalen”, den man allgemein den Fortschritt zuschreibt, ermöglicht hier die kurze Begegnung. In einer Moderne, in der Seilbahnen viel schneller fahren würden, würde eine Begegnung, und sei sie noch so kurz, gar nicht stattfinden können.

Zudem es gibt noch den Seilbahnaufseher (Zviad Papuashvili), der die Gondeln in Betrieb hält, und der ist gar nicht erfreut, dass die zwei jungen Schaffnerinnen ihn so schnöde ignorieren. Ganz der Platzhirsch, versucht er es mit den tradiierten Mitteln, um dann ganz wütend auch mal das Spiel der beiden Frauen zu sabotieren. Da Veit Helmer gerne Liebesgeschichten erzählt, die sich aus ihrer Unschuld heraus entwickeln, fügt er der Geschichte noch zwei Kinder hinzu. Ein Junge sucht die Aufmerksamkeit eines gleichaltrigen Mädchens, die ihn erst einmal abweist. Aber auch hier geht es mehr um das Wie, als um das Warum. Helmer bleibt sich treu, auch wenn manche ihm vorwerfen mögen, sich nicht weiterzuentwickeln.

Veit Helmer glaubt mit unbändiger Kraft an diese Magie, die wir Kino nennen, und die sich auch nur dort entfalten kann. Er ist ein Träumer, für den das Stummfilmkino und der Slapstick der frühen Kinojahre die Welt bedeuten. Der magische Raum der engen Gondel weiß er mit Einfällen zu öffnen, die nicht nur der Phantasie Raum geben, sondern die Figuren auch nie in Passivität erstarren lassen. Helmers Figuren in Gondola sind klug und geschickt und gewitzt. Sie tauschen sich nicht nur in Blicken und Gesten aus, sondern sie hämmern und schweißen und man könnte denken, die Gondoln lösen sich von den Seilen und gleiten über die Berge hinweg, so wie sich Iva und Nino das erträumen, aber dann ist es nur die angeregte Phantasie, die hier auf teils absurde Einfälle reagiert. Gondola will das Kino gar nicht ändern, nur einen Raum zum Träumen schaffen.

Eneh

Aus dem Archiv: Interview mit dem Regisseur Veit Helmer zu seinem Debütfilm Tuvalu

Spielfilm Originaltitel: Gondola Regie: Veit Helmer Drehbuch: Veit Helmer Kamera: Goga Devdariani Montage: Iordanis Karaisaridis, Moritz Geiser, Nikoloz Gulua Musik: Malcolm Arison, Sóley Stefánsdóttir Mit Mathilde Irrmann, Nino Soselia, Zuka Papuashvili, Niara Chichinadze, Vachagan Papovian, Luka Tsetskladze, Elene Shavadze, Darejan Geperidze, Nino Pachkoria, Peride Kalandia Deutschland / Georgien 2023 82 Minuten Kinostart: 07. März 2024 Verleih: Jip Film Festivals: Tokio 2023 / Hof 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #JipFilm

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Ein Elite-Internat Anfang der 70er Jahre. Das Jahrzehnt ist noch jung. Und doch kann von Aufbruch keine Rede sein. Die Hoffnungen der 60er haben sich zerschlagen. Die verhärteten Strukturen an der fiktiven Barton-Schule lassen für einen Wandel keinen Raum. In dieses Setting setzt der Regisseur Alexander Payne (Sideways) und sein Drehbuchautor David Hemingson, drei Figuren, die hier das Alte, das Vergangene und die Verletzungen der Vergangenheit zurücklassen und sich neu orientieren werden. Es ist das Schauspiel dieser drei Figuren, das den Film über sein Setting, eben die Verortung in den 70er Jahren, hervorheben wird. Dabei ist The Holdovers zum Teil Weihnachtskomödie, zum Teil Gesellschaftsstudie. Komik und Trauer gehen hier Hand in Hand. Dazu ruft Payne eine gehörige Dosis Wehmut und Nostalgie hervor.

Zuerst sollte man den Filmtitel erklären. The Holdovers heißt so viel wie “die Zurückgelassenen”. Es ist Winter, die Weihnachtsferien stehen an. Nicht alle Schüler dürfen oder können in den Ferien nach Hause fahren. Es ist eine Schule für privilegierte Jungen, sowie die Staaten auch eine Gesellschaft für privilegierte Männer sind. Frauen sind hier, gemäß der Zeit, Objekt der Begierde, Mütter und Servicekräfte. Ein Lehrer wird stets ausgewählt, der vor Ort bleibt und eine Art Beschäftigungsplan durchzieht. Die Wahl vom Kollegium fällt auf den misanthropischen Paul Hunham (Paul Giammati), den eh niemand leiden kann. Weder die Schüler noch die Kollegen. Hunham hat sich zu sehr in seine Existenz als Lehrer ohne Achtung eingeigelt, als dass ihn die Sticheleien erreichen würden. Er lehrt, auch nicht ganz zufällig, die Geschichte des Römischen Reiches und seine Strenge, gepaart mit einer Freude, die zukünftige Elite der amerikanischen Gesellschaft ob ihrer Fehler abzustrafen, macht ihn berüchtigt. Es ist sicherlich nicht unbeabsichtigt, dass wir in diesen Schülern und ihrer Haltung die wiedererkennen, die heute die USA politisch lähmen.

Aus der Schar der Zurückgebliebenen, die nach und nach aus der Erzählung fallen, sobald sie ihre dramaturgische Funktion erfüllt haben, sticht ein Junge heraus. Angus Tilly ist der Exzentriker unter den Schülern und ihn trifft das Schicksal doppelt, als er nicht doch noch aus der Ferienstarre befreit wird. Seine Rolle wurde sehr gut besetzt mit Dominic Sessa. Auch er ist ein Internatsschüler, der sich für diese seine erste Rolle beworben hatte. Angus und Hunham sind Spiegelbilder ihrer selbst. Hunham erkennt sich in dem Jungen wieder und dem Jungen fehlt es an einer Vaterfigur, die er immer mehr in Hunham erkennt.

Die dritte Figur ist auch eine Zurückgelassene. Mary Lamb (Da'Vine Joy Randolph) ist Köchin in dem Internat. Sie hat die Stelle an der Schule nur angetreten, um ihrem Sohn die Möglichkeit zu geben, durch ein Stipendium eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Er durfte Schüler an dem Internat für die gehobene Klasse und die Gutverdienenden sein. Doch er ist es, der im Vietnam-Krieg gefallen ist und der bereits aus dem Gedächtnis der Mitschüler gelöscht wurde.

Diese drei Figuren sind eng in das Korsett der 70er geschnürt. Doch es ist ihre Darstellungskunst, die hier noch über dem Regietalent Payne herausragt und den Film, der sich zu sehr auf sein Setting verengt, die ihn sicherlich zum Klassiker machen wird. Eine Oscar-Nominierung für Paul Giamatti galt bereits früh als ausgemacht. Die stille Trauer der Mary Lamb brachte Da'Vine Joy Randolph, bekannt aus der Fernsehserie Only Murders in the Building und z.B. dem Film The United States vs. Billie Holiday, eine Nominierung als beste Darstellerin in einer Nebenrolle ein. Dominic Sessa ist ein unbeschriebenes Blatt. Bisher besuchte er die Deerfield Academy, eine der Schulen, die nicht so modern aussehen und darum als Drehort verwendet worden war. Zuvor spielte er mit Begeisterung am Schultheater. Für sein Spiel in The Holdovers setzte ihn das Branchenblatt Variety prompt in die Liste der “10 Actors to Watch”. Zurecht.

Alexander Payne wollte nicht nur einen Film drehen, der in den 70ern spielt, er sollte auch so wirken, als wäre er in den 70ern gedreht worden. Die 70er, die auch sein filmisches Coming-of-Age verorten, sollten nicht nur in Ausstattung und Kostüm lebendig werden, sondern auch den Zeitgeist der Figuren und ihrer Entwicklung widerspiegeln. Einer Zeit, in dem der junge amerikanische Film auf Geschichten von authentischen Figuren setzte, statt auf Action und Attitude. Für Payne sollte The Holdovers eine Art Zeitkapsel in diese Vergangenheit sein. Dabei stand ein viel älterer Film Pate. Das war Marcel Pagnols Merlusse (1935), über einen Lehrer, der die Weihnachtsferien mit seinen Schülern an einem Internat verbringt und diese besser kennen lernen wird.

Paul Giamattis Lehrerfigur ist kein Sympathieträger, er ist sogar in Statur und Haltung eher lächerlich. Und doch geht er einem irgendwann zu Herzen. Das gleiche gilt für den aufsässigen Widerpart in dem jungen Schüler Angus Tilly. Seine Leck-mich-am-A-Haltung wird nach und nach aufgebrochen. Mary Lamb ist eine Figur, der man das andere Amerika aufgebürdet hat, die als schwarze, alleinerziehende Frau auch noch alles verliert, man spürt ihren Schmerz, aber man bemitleidet sie nicht.

The Holdovers ist Kino aus einer Zeit, in der alles im Stillstand verharrte, wenn nicht sogar sich zurückwendete. Alexander Payne nimmt das Beste aus der New Hollywood-Zeit und versucht in dieser Zeit, die auch vom Stillstand und der Rückwende in eine schlechtere Zeit geprägt ist, dem Mainstream-Kino einen Impuls zu geben. Das ist ihm vielleicht nicht ganz gelungen. Aber seine Figuren werden bleiben.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: The Holdovers Regie: Alexander Payne Drehbuch: David Hemingson Kamera: Eigil Bryld Montage: Kevin Tent Musik: Mark Orton Mit Paul Giamatti, Dominic Sessa, Da 'Vine Joy Randolph, Carrie Preston, Andrew Garman, Tate Donovan, Gillian Yigman USA 2023 133 Minuten Kinostart: 25. Januar 2024 Verleih: Universal Festivals: Telluride 2023 / Toronto 2023 / Viennale 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

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Eine Familie sitzt im Flieger. Der Flug bringt sie nicht in die Ferien. Green Border, der aktuelle Film der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland (Hitlerjunge Salomon, zuletzt: Charlatan), begleitet ihre Akteure von der Kriegshölle in Syrien in eine ebenso brutale Hölle, in das Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen.

Lukaschenko, belarussischer Staatsoberster, hatte den Flüchtenden aus Syrien und Afghanistan den Weg von Belarus nach Polen schmackhaft gemacht. Eine Provokation des Westbündnisses unter der Prämisse, dieses zu schwächen. Der Białowieża-Wald, ein Urwald mitten in Europa, ist hier nun die Bühne für ein zynisches Ping-Pong-Spiel zwischen Grenzlern auf der polnischen und Grenzlern auf der belarussischen Seite. Die hohen Bäume verschlucken die Grausamkeit an dieser Grenze, die nicht nur das Grün, sondern alle Farbe verloren hat. Hier werden die Reisenden zum Spielball der politischen Mächte. Menschenrechte gelten hier nichts. Die EU zeigt sich hier als Festung, die nicht gewillt ist, von ihrem Reichtum etwas abzugeben.

Mutter, Vater, 3 Kinder, darunter ein Kleinkind, dazu noch der Großvater, sie sind auf der Reise zu Verwandten in Schweden. Alles ist gut geplant und die Schleuser bezahlt. Schweden ist weit, zuerst müssen sie das gelobte Land, die Europäische Union erreichen. Agnieszka Holland wählt immer wieder individuelle Schicksale und ordnet sie in einen größeren Kontext ein. Filmisch nimmt sie sich nicht zurück.

Ihr Green Border ist ihr ein Anliegen, das sie mit Laiendarstellern, die diese Hölle selbst kennen, inszeniert hat. Kino, das soll aufrütteln. Weltpremiere feierte ihr Film auf dem Festival in Venedig. In ihrem Heimatland Polen reagierte die, inzwischen ehemalige erste Riege des Staates mit einer Rufmordkampagne. Obwohl man zu dem Zeitpunkt, den Film noch gar nicht hatte sehen können, galt sie als Vaterlandsverräterin, die ihren Film mit faschistischer Propaganda versetzt hätte.

Ihr Urteil zu den Praktiken an der Grenze und der Europäischen Abschottung ist vernichtend. Green Border ist ein Herausbrüllen von Missständen, vor denen man, besonders mit privilegiertem EU-Mitgliedsstaatenpass gerne die Augen verschließt. Green Border schont das Publikum nicht. Die Lauflänge ist kaum auszuhalten, dabei sitzt man im sicheren Kinosessel und nicht auf dem nackten Waldboden. Man ist nicht am verdursten und muss ansehen, wie militarisierte Kräfte das vom letzten bißchen gekaufte Wasser vor einem ausschütten.

Die Familie schafft es tatsächlich die Grenze zu überwinden, landet in Polen, nur um dort aufgegriffen, und zurück nach Belarus gestoßen zu werden. Diese “Push-Backs” sind illegal, aber die Regel. Auf Verunsicherung folgt beim zigten Hin-und-Her die Entkräftung. Ist es zuerst Unverständnis, bangt man irgendwann um das nackte Leben. Resignation macht sich breit. Agnieszka Holland wechselt zweimal die Perspektive. Sie zeigt junge polnische Grenzsoldaten, die von ihren Ausbildern indoktriniert werden, dass sie ihr Land vor Terroristen und Vergewaltigern schützen müssen. Die, die da über die Grenze kommen, mögen harmlos erscheinen, aber sie gefährden die polnische Gesellschaft. Von Parolen aufgepeitscht und fest im Drill agieren sie ohne eine Unze Barmherzigkeit.

Es sind Protestgruppen, die zu helfen versuchen, soweit das legal möglich ist. Aktivisten und Aktivistinnen fahren in die Wälder, klären die Flüchtenden darüber auf, wo sie gelandet sind. Viel mehr können auch sie nicht tun. Holland spart nicht mit Hoffnung. Ein junger Soldat fühlt sich sichtbar unwohl in seiner Rolle. Splittergruppen von Aktivisten und Aktivistinnen loten den schmalen Pfad, was noch erlaubt ist, aus und übertreten diesen. Gerade dieser Schwenk auf diese andere Seite verstärkt das Gefühl der Ohnmacht und ruft nach einem Aufbegehren gegen diese Missstände. Dass es auch anders geht, das ist ein Epilog, den Holland setzt, obwohl er nicht unproblematisch ist. Dass wir Europäer Flüchtende unterschiedlich werten und dem einen helfen, während wir andere wortwörtlich verrecken lassen, ist eine bittere Erkenntnis. Wofür die, die dies betrifft, so gar nichts können. Was dieser Schwenk von 2021 auf 2022 jedoch auch aussagt, ist, dass die Flüchtenden nicht zwingend aus der Ferne kommen.

Im Aufbau ist Green Border streng gesetzt. Die Wahl, diese Hölle in schwarz-weißen Bildern zu zeigen, gibt dem Geschehen eine noch dringlichere Note. Gleichzeitig gibt es der Handlung auch eine Zeitlosigkeit. All das könnte auch aus einem Film über den I. oder II. Weltkrieg stammen. Das, was wir jetzt geschehen lassen, lastet aber an unseren Händen. Auch das zeigt Agnieszka Holland und sie will uns das Wegsehen austreiben. Bei den 80. Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2023 gewann Agnieszka Holland den Spezialpreis der Jury.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Green Border Regie: Agnieszka Holland Drehbuch: Maciej Pisuk, Gabriela Łazarkiewicz-Sieczko, Agnieszka Holland Kamera: Tomek Naumiuk Montage: Pavel Hrdlička Musik: Frédéric Vercheval Mit SJalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Atai, Mohamad Al Rashi, Dalia Naous, Tomasz Włosok Polen / Frankreich / Belgien / Tschechien 2023 153 Minuten Kinostart: 01. Februar 2024 Verleih: Piffl Medien Festivals: Venedig 2023 / Toronto 2023 / Zürich 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #PifflMedien #Venedig2023

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Seit kurzem ist Blaga (sehenswert intensiv: Eli Skorcheva) Witwe. Für ihren Mann, er war Polizist von Beruf, will sie einen würdigen Grabplatz erstehen und sie hat auch schon eine ganz genaue Vorstellung, wie das Grab aussehen soll. Der Platz soll auch bald ihre repräsentative Ruhestätte werden. Sie ist bereit ihr ganzes Geld da reinzustecken.

Wie schwierig dieser Plan umzusetzen ist, auch davon handelt Eine Frage der Würde von Stephan Komandarev (Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, 2009), der zeigt, dass der äußere Schein selbst auf dem Friedhof nur durch Korruption erkauft werden kann. Urotcite na Blaga, so der Originaltitel, ist der Abschluss einer Trilogie, die nach Directions – Geschichten einer Nacht (2017) und V krag (International: Rounds, 2019) hiermit ihren Abschluss findet. Komandarev zeichnet mit diesen drei Filmen ein Bild der sozialen und gesellschaftlichen Lage im heutigen Bulgarien.

Die ehemalige Lehrerin hält sich mit Nachhilfestunden über Wasser. Zurzeit hat sie nur eine einzige Schülerin (Rozalia Abgarian), eine junge Frau aus Syrien, die für ihre Einbürgerungsprüfung paukt.

Zur Etablierung der Figur lernen wir Blaga in ihrem Element kennen. Sie lehrt Praxis orientiert und effektiv. Sie reagiert auf Fehler und grammatikalische Regelverstöße streng und gnadenlos. All dies sind Eigenschaften, die sie kaum sympathisch machen. Die auf ihre Stärken und gleichzeitig ihre Schwächen verweisen. Denn im handfesten Alltag hatte sie sich immer auf ihren Mann verlassen, doch nun kommt sie zu Fall. Dass die Welt keine gute ist, ist ein Allgemeinplatz. Blaga wird jedoch all ihres Ersparten und ihrer Würde beraubt. Über das Telefon. Es ist die Trickbetrüger-Masche mit dem Anruf eines vermeintlichen Kriminalbeamten, der sie anweist, bei der Überführung von Dieben mitzuwirken. Dafür braucht es aber ihren monetären Einsatz. Geld, dass sie selbstverständlich zurückbekommen würde. Von wegen.

Es ist kein Zufall, dass der Film in der ostbulgarischen Stadt Schumen spielt. Zu den Sprachlektionen erhält die junge Schülerin auch einen Einblick in die Landeskunde und ihren Heldengeschichten, die direkt an das Publikum weitergereicht werden. Es heißt, dass Bulgarien von hier aus entstanden sei. Die realsozialistische Architektur der Stadt korrespondiert folglich mit der Handlung. Täglich läuft die alte Frau, immerhin schon jenseits der 70, die unzähligen Stufen hinauf zum Denkmal für “1300 Jahre Bulgarien”, dem wohl Größten dieser brutalistischen Gedenkbauten. Es geht bis auf 300 m in die Höhe. Die ganze Stadt ist von dort oben überschaubar, das Denkmal ist bis aus 30 km Entfernung zu sehen. Das Monument feiert jede wichtige Person der bulgarischen Geschichte. Es ist ein Monster von einem Bau und wirkt herrisch mit der Tendenz ins Böse. Wie klein dagegen ist Blaga. Aber sie lässt sich nicht klein machen.

Die bulgarische Einreichung für die internationale Filmauswahl bei den Oscars (er wurde allerdings nicht nominiert), der seine Weltpremiere in Karlovy Vary feierte und auch auf dem Filmfest Hamburg gezeigt wurde, wählte für den internationalen Markt den Titel Blaga's Lessons. Es bleibt eine Frage der Interpretation, ob es wichtiger ist, dass Blaga hier ihren Mitmenschen Lektionen erteilt oder ob ihr solche zuteilwerden.

Treffender ist der deutsche Titel. Dieser lautet Eine Frage der Würde und hebt genau diese hervor. Was ist der Mensch wert in einem kaputten System? Wie kann Blaga ihre Würde verteidigen? Es ist die Stärke des Films, dass diese Frage ambivalent beantwortet wird. Dabei schönt die Geschichte nichts. Das Drehbuch dekliniert einen aussichtslosen Kampf konsequent bis zum Ende und demaskiert dabei auch jede vermeintliche Attitüde.

Unbekannte haben Blaga nicht nur ihr Geld gestohlen, sondern auch ihren guten Ruf. Wie konnte sie nur auf diese Masche hereinfallen? Blaga, die anderen stets ihre Fehler vorhielt, muss nicht nur ihr Weltbild überdenken. Sie hat nichts mehr zu verlieren und wagt einen abseitigen Weg.

Sie setzt eine Anzeige auf, bietet sich als Kurierfahrerin an, und wird tatsächlich von den Schurken kontaktiert, die sie ausgeraubt hatten. Mehr soll gar nicht verraten werden. Blaga ist keine Heldin. Es geht Komandarev und seinem Co-Drehbuchautor Simeon Ventsislavov sichtlich nicht um die Erlösung von dem Bösen und der Überführung seiner Täter. Er zeichnet ein Porträt einer Frau in einem System, das jeden kaputt macht. Auch moralisch. Blaga wähnt sich als gute, aufrechte Bürgerin, die stets das Richtige und das Rechte tut. Das Leben lehrt sie eines Besseren.

Eine Frage der Würde wandelt sich vom gesellschaftlichen Porträt hin zu einem Krimi. Dabei ist es besonders das Schauspiel der Hauptfigur, was heraussticht.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Urotcite na Blaga Regie: Stephan Komandarev Drehbuch: Simeon Ventsislavov, Stephan Komandarev Kamera: Vesselin Hristov Montage: Nina Altaparmakova Musik: Kalina Vasileva Mit Eli Skorcheva, Gerasim Georgiev, Rozalia Abgarian, Ivan Barnev, Stefan Denolyubov, Ivaylo Hristov Bulgarien / Deutschland 2023 114 Minuten Kinostart: 25. Januar 2024 Verleih: Jip Film Festivals: Karlovy Vary 2023 / Sarajevo 2023 / Hamburg 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #JipFilm #Hamburg2023

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Bella Baxter (Emma Stone) ist das arme Wesen, dass erst lernen muss, Besteck zu gebrauchen. Wie eine Ente watschelt sie durch das Herrenhaus ihres Ziehvaters, Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe). Der heißt nicht zufällig so. Er trägt den Schöpfer, Gott, im Namen, und ist entstellt, während sie die Schöne und die Unschuld ist. Nur eben noch ganz un-erzogen und Kind-gleich.

Dennoch lebt dieses Wesen im Körper einer erwachsenen Frau. Trotz einer Kamera, die hier zu Beginn einen subjektiven, wenn nicht gar verzerrten Blick auf den Raum gibt, der hier zum Ausgangspunkt von Bella Baxters Geschichte wird, bemerkt man, dass so einiges seltsam ist. Als hätte man Körperteile auseinandergenommen und sie nicht wieder “richtig” zusammensetzen können. Doch in der Veränderung liegt der Schlüssel zu neuen Erkenntnissen. Bella ist sich zuerst nur “Gott” bewusst, der sie, zugegeben mit viel Hingabe und auch Zärtlichkeit, zu erziehen trachtet. Dafür holt er auch einen Assistenten (Ramy Youssef) ins Haus, der ihre Entwicklung minuziös protokollieren soll.

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos galt 2009 mit seinem Film Dogtooth als Entdeckung. Mit The Lobster, Untertitel Hummer sind auch nur Menschen, eine skurrile Verwandlungsfantasie, etablierte sich Lanthimos im Arthouse-Bereich. Weit zugänglicher war sein Porträt von Queen Anne in The Favourite – Intrigen und Irrsinn, der Humor mit Traurigkeit (oder umgekehrt) zu verbinden wusste. Neben zahlreichen Auszeichnungen konnte The Favourite in seinem Jahrgang fast alle Europäischen Filmpreise für sich verbuchen. Bereits hier hatte Lanthimos Emma Stone eine Nebenrolle gegeben. Dass weit mehr in ihr steckt, beweist sie mit Poor Things. Womit Lanthimos für Emma Stone wohl genauso gern ein Dr. Baxter wäre.

Emma Stones Bella, ein frankensteinisches Geschöpf, saugt Wissen auf, wie ein verdorrter Schwamm. Vor unseren Augen erstrahlen ihre Augen, wann immer sie etwas entdeckt. Abgeschottet von der Welt, will sie hinaus aus dem Herrenhaus. Einmal hinausgekommen, kann man sie nicht mehr halten.

Mitnichten begnügt sie sich mit einem Assistenten. Sie lernt den Lebemann Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) kennen und brennt mit ihm durch. Noch ein Mann, der sie formen will nach seinem Ermessen und noch ein Mann, dessen Fassade sie einreißt, dessen Charakter sie entlarvt und den sie an sich selbst zerbrochen zurück lassen wird.

Konventionen und Gepflogenheiten, die guten Sitten und die Regeln des Zeitalters, hier die Viktorianische Zeit, gelten aus der Sicht eines Wesens, das frei von all diesen Hemmschuhen sich aus sich heraus entwickelt hat, nichts. Das darf man sich mal vorstellen. Natürlich entdeckt sie auch ihren Körper. Und was man damit anstellen kann. Und sie hat Freude daran. London hat sie da schon längst verlassen und nachdem sie über die Meere geschippert ist, landet sie dort, wo böse Mädchen weiterkommen. Es ist ein Spaß.

Yorgos Lanthimos hat sich für Poor Things das Buch des Schottischen Autors Alasdair Gray vorgenommen. Sein Roman Arme Dinger: Episoden aus den frühen Jahren des schottischen Gesundheitsbeamten Dr. med Archibald McBandless, ursprünglich 1992 veröffentlicht und 2000 auch auf Deutsch übersetzt, ist die Vorlage, aus der Lanthimos zusammen mit dem australischen Drehbuchautoren Tony McNamara, der auch schon für The Favourite verantwortlich war, dem Kanon der Frankenstein-Adaptionen ein neues Kapitel hinzufügt.

Bella weiß zuerst nichts von ihrer Herkunft. Aber Herkunft ist hier nur ein weiterer Puzzlestein im großen Ganzen. Bella auf ihrer Reise zur Selbstermächtigung und Erkenntnis zu begleiten ist das eine. Poor Things, den man gerne mehrmals anschauen möchte, um mehr und mehr der Referenz- und Zitat-Kaskaden einfangen zu können, handelt von der Lust an der Erforschung und der Freunde am Wissen. Das ist in einer vermehrt wissensfeindlichen Mainstreamzeit schon mal außergewöhnlich. Poor Things funktioniert als Komödie genauso gut, wie auf der Metaebene, die die Vorlagen aufgreift und das Publikum damit anlockt.

Aber machen wir uns nichts vor. Es ist ein männlicher Blick, der hier Bella Baxter ein- und vorführt. Bella hält in ihrer offenen und ehrlichen Art und ohne Worte zu verklausulieren den anderen Figuren zwangsläufig den Spiegel vor. Das filmische Geschöpf aus Vorlage, Umsetzung und Inszenierung wiederum sollte nun uns den Spiegel vorhalten. Nur Bedenken kommen hier nicht auf. Wissen ist Lust, Lust ist gut. Bella optimiert sich ohne auch nur einmal auf die Bremse zu treten. Da lässt der Film keinen Raum mehr übrig, etwas Zweifel ist also schon angebracht.

Poor Things feierte seine Premiere 2023 auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig und gewann dort prompt den “Goldenen Löwen” als besten Film. Seitdem sammelt auch dieser Film in allen darstellerischen als auch künstlerischen Gewerken die Preise ein. Damit gilt Poor Things als einer der besten und wichtigsten Filme des Kinojahres 2023 mit hohen Chancen für eine Nominierung am 21. Januar 2024 auf den vordersten Plätzen bei den 96. Academy Awards, die am 10. März 2024 verliehen werden.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Poor Things Regie: Yorgos Lanthimos Drehbuch: Tony McNamara Vorlage: Alasdair Gray Kamera: Robbie Ryan Montage: Yorgos Mavropsarides Musik: Jerskin Fendrix Mit Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Suzy Bemba, Jerrod Carmichael, Kathryn Hunter, Vicki Pepperdine, Margaret Qualley, Hanna Schygulla Großbritannien / Irland / USA 2023 142 Minuten Kinostart: 18. Januar 2024 Verleih: Walt Disney Studios Festivals: Telluride 2023 / Toronto 2023 / Viennale 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #WaltDisneyStudios

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Ob Rock'n'Roll, Rock oder Pop, die Musikbranche lebt vom Skandal.

Elvis Presleys Hüftschwung erregte in den 50ern die Gemüter. Jimi Hendrix verbrannte in den 60ern seine Gitarre auf der Bühne, die Sex Pistols galten in den 70ern an sich schon als Skandal. Ihr Song God Save The Queen spaltete das Heimatland Großbritannien. Es war in den 80ern, als Ozzy Osbourne auf der Bühne einer Fledermaus den Kopf abgebissen hatte. Sicherlich, es gibt positive Skandale und negative Skandale. Skandale, die eine Band oder eine Performance cooler machen und Skandale, bei denen man heute “canceln” würde.

John Lennon könnte ein Lied davon singen. Als er die Beatles für populärer als Jesus benannte, in den USA wohl gemerkt, da war aber die Hölle los. Madonna war auf Skandale abonniert. Sie brachte nicht nur die prüde Kirche gegen sich auf. Dieses Jahr hatte der Berliner Radiosender Radioeins in seiner Sommersonntagsreihe nach den 100 skandalösesten Songs gefragt. Die Sex Pistols gewannen mit God Save The Queen und Milli Vanillis Girl You Know It's True erreichte nur den 47ten Platz. Der Skandal um Milli Vanilli ist also mitnichten der größte in der Popgeschichte.

Eigentlich ist es ein Skandal, dass eine Inszenierung eines Acts wie Milli Vanilli mit den beiden Tänzern Fab Morvan (Elan Ben Ali) und Rob Pilatus (Tijan Njie) überhaupt erst ein Skandal werden konnte. Hat denn niemand richtig hingehört? Wer Playback spielt, weicht doch keine Unze von dem eingespielten Track ab. Ist das denn niemandem aufgefallen bei den Konzerten?

Oder die Tatsache, dass die Zwei zwar akzentfrei singen, aber keine Unterhaltung führen konnten, das kann man doch nicht nicht-merken. Das amerikanische Publikum fühlte sich jedoch betrogen, der Hype legte den Rückwärtsgang ein, und man gab diesem Gefühl mit der Dampfwalze ein Ventil. Es war sicherlich auch das damals junge Medium MTV, dass die attraktive Band in jeden Haushalt gebracht hatte. Ein Skandal ist wahrscheinlich eher, wie die zwei von Milli Vanilli von der Branche ausgepresst und vermarktet wurden. Waren sie wirklich so naiv zu glauben, dass sie den Erfolg, den sie als Tänzer erreichten, auch mit ihrem Gesang hätten reproduzieren können?

Simon Verhoeven nutzt das Etikett Skandal, gerne auch mit dem Hinweis auf Superlative, um die Band aus der Versenkung zu holen. Dabei stellt er schon die richtige Frage: Waren die zwei von Milli Vanilli nicht doch eher die Opfer? Durch einen Trick erzählen sie uns ihre Geschichte selbst.

Als Klammer durchbrechen die Beiden die vierte Wand und erzählen uns damit die Ereignisse aus ihrer eigenen Sicht, auch mit dem Hinweis, dass man sie ja gar nicht mehr kennen würde. Dabei gibt es nur einen kleinen Schönheitsfleck. Rob Pilatus, und damit verrate ich ja nichts, zerbrach an dem Erfolg und an dem Niedergang des Erfolges. Er kann seine Geschichte nicht mehr selbst erzählen. Fabrice Morvan könnte es, darf es aber nicht. Er verkaufte die Rechte an seiner Geschichte an die Produktionsfirma von Bret Ratner, der in Folge von Vorwürfen der sexuellen Belästigung von der filmwirtschaftlichen Landkarte verschwand und damit auch seine entsprechenden Filmprojekte.

Was war denn passiert? Laut Verhoevens Drehbuch beschränkten sich die Ambitionen der beiden Tänzer, die von Frank Farian gecastet wurden, nicht darauf, nur die Lippen zu bewegen. Sie wollten höher hinaus, sich selbst verwirklichen, raus aus der Provinz, raus aus Deutschland. In der großen weiten Welt war aber auch das Fischbecken größer und fortan diktierte ihnen nicht nur der Produzent im fernen Deutschland, was sie zu tun und zu lassen hätten.

Milli Vanilli wollten eine eigene Platte mit eigenen Songs. Bei einem Konzert flogen sie theoretisch auf. Das Playbackband kam ins Stottern. Ops. Doch damit war ihre Karriere noch nicht am Ende. Erst als Frank Farian die Bombe platzen ließ, dass alles nur ein Fake war, dass ganz andere Sänger den Song eingespielt haben, da trat er eine Lawine los, die den beiden Milli Vanillis den Boden unter den Füßen wegriss. Und das ist auch die Moral der Geschichte. Vertraue niemandem, und wenn du auffliegst, dann schiebe die Verantwortung ab. “Blame It On The Rain” quasi.

Ja, die Musikbranche lügt. Nicht nur diese. Junge Acts wurden schon immer übers Ohr gezogen. Wie man es anders als Fab Morvan und Rob Pilatus machen kann, zeigt Girl You Know It's True auch, aber viel versteckter.

Es könnte auch der Film über Numarx sein. Bitte wer, bitte was? Numarx waren eine US-amerikanische Hip-Hop-Band aus Baltimore und sie hatten den Song ursprünglich geschrieben. Frank Farian “klaute” den Song und Milli Vanilli haben ihn dann gecovert. Während die eine Band nun in Saus und Braus lebt und weltweit gefeiert wird, gucken die Jungs von Numarx blöd aus der Wäsche und erfahren quasi erst via MTV von dem Siegeszug ihres Songs. Woraufhin Numarx-Mitglied Kevin Liles (gespielt von Stevonté Hart) sich hinter die Bücher klemmt, sich in Sachen Urheberrecht schlau macht (ganz dröges, kompliziertes Zeug und überhaupt nicht cool) um die rechtlichen Möglichkeiten auszuloten. So macht man das.

Liles blieb scheinbar auf der Schiene und machte Karriere in den höchsten Kreisen bei Def Jam Recordings und der Warner Music Group. Das Billboard Magazine kürte ihn 2020 sogar zum “R&B/Hip-Hop Executive of the Year”. Bei Verhoevens Girl You Know It's True fungierte er dann auch als Executive Producer.

Taugt denn Girl You Know It's True als Film etwas? Sicherlich hängt das davon ab, was man erwartet. Es ist ein Flashback in die 80er, an die man sich doch nicht bis ins Detail erinnert. (Hat man damals wirklich noch Bluna getrunken?)

Die beiden Darsteller Elan Ben Ali und Tijan Njie sind exzellent gecastet und von der Choreographie lebt dann auch der Film. Das sieht einfach klasse aus. Matthias Schweighöfer gibt den berühmt, berüchtigten Produzent Frank Farian und da Farian eh fast eine Karikatur seiner selbst ist, überzeugt Schweighöfer mit vermeintlicher Zurückhaltung.

Sicherlich, Verhoeven strebte ein Publikumsfilm an und er war sich sicherlich bewusst, dass er eine Altersgruppe in die Kinos locken möchte, die Milli Vanilli, wenn sie denn für sie ein Begriff sind, eher nur als oberpeinliche Nummer der Elterngeneration wahrnehmen. Die Biographien der beiden Tänzer vermittelt er nur über ein paar wenige Eckdaten. Die Chemie zwischen den Beiden ist auch nicht wirklich erkennbar. Für die Unterhaltung werden Szenen auf ihr Potential für Komik abgeklopft. Die Musikindustrie selbst ist der pure Moloch.

Eine Auseinandersetzung oder gar Kritik an den Strukturen bleibt hier aus. Es bleibt bei den Schauwerten.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Girl You Know It's True Regie: Simon Verhoeven Drehbuch: Simon Verhoeven Kamera: Jo Heim Montage: Felix Schmerbeck, Alexander Berner, Elena Schmidt Musik: Segun Akinola Mit Tijan Njie, Elan Ben Ali, Matthias Schweighöfer, Bella Dayne, Graham Rogers, Tijan Marei, Ashley Dowds, Thomas Bading, Ulrike Arnold, Ben Felipe, Joshua Kantara, David Mayonga, Nico Ehrenteit, Samuel S. Franklin, Sebastian Kempf, Penelope Frego, James Flynn, Michael Mertens, David Baalcke, Ikko Masuda, Cornell Adams, Ivy Quainoo, Roxanne Rittmann, Lina Maruyama, Mitsou Jung, Bonita Lubliner, Lara Mandoki, Eva Nürnberg, Caprice Crawford, Romeo Guy Da Silva, Natasha Loring, Darlene Tejeiro Deutschland / Frankreich / USA 2023 124 Minuten Kinostart: 21. Dezember 2023 Verleih: Leonine TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Leonine

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