Cineneh

München2023

Immer wieder behandelt der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda komplexe Familienbeziehungen. Wobei “komplex” sicherlich mit “schwierig” Hand in Hand geht. In seinem letzten Film, Broker, eine südkoreanische Produktion, den er ebenso wie jetzt Die Unschuld in Cannes vorstellen durfte, ging es um die Adoption und den Kinderwunsch.

Noch bekannter war 2018 sein Film Shoplifters – Familienbande über eine prekäre Wahl-Familie in Tokio, die sich mit Ladendiebstählen über Wasser hält. Oder Nobody Knows von 2004, auch dieser Film wurde in Cannes vorgestellt. Hier wird nach einem wahren Fall die Geschichte von Geschwistern erzählt, die von der Nachbarschaft unbemerkt, allein in einer Wohnung ausharren und auf die Mutter warten. In Like Father, Like Son von 2013 erzählt der Regisseur von zwei Familien, die sich begegnen, als sie erfahren, dass ihre Kinder bei der Geburt vertauscht worden sind.

Die Unschuld hat zumindest im deutschsprachigen Raum eine Bedeutungsverschiebung erfahren. Kaibutsu, so heißt der Originaltitel auf Japanisch, bedeutet, so wie der internationale Titel es auch korrekt übersetzt: Monster. Die scheinbar konträren Titel liegen aber gar nicht so weit auseinander.

Hirokazu Kore-eda erzählt von einem Jungen, der sich selbst immer wieder als Monster sieht. Woher er diese fixe Idee hat, die er kindlich mit einer Horrorvorstellung untermalt, das wird natürlich auch angesprochen, aber der Reihe nach. Minato (gespielt von Soya Kurokawa) bereitet seiner alleinerziehenden, verwitweten Mutter Sorgen. Er wirkt zurückgezogen und unnahbar. Saori, die Mutter wird von Sakura Andô gespielt, wähnt die Ursache in der Schule zu finden. Ein besonders junger Lehrer habe ihren Sohn ungerecht behandelt und auch geschlagen. Hori (Eita Nagayama) wird zwar immer wieder zu einer Begegnung mit der Mutter ins Direktorat dazu geholt, schweigt sich aber aus. Die Direktorin (Yūko Tanaka) setzt auf Schadensbegrenzung und agiert aalglatt höflich und unverbindlich, so dass jede Aussprache und damit Klärung unmöglich scheint.

Hirokazu Kore-eda legt mehrere Fährten aus. Man ahnt, dass die Sicht auf die Figuren und ihre Handlungen trügerisch ist. Man ahnt, dass die Wahrheit eine andere ist. Aber werden die Figuren die Wahrheit finden? Dabei ist eine der frühen Fährten eine, die man kaum wahrnimmt. Der Junge kommt einmal nicht rechtzeitig nach Hause und die Mutter sucht verzweifelt nach ihm. Was geht nur in dem Jungen vor? Das Buch, das übrigens nicht vom Regisseur selbst, sondern von Yûji Sakamoto stammt, der sich bisher hauptsächlich im Serien-Bereich hervorgetan hat, öffnet hier eine Welt als Gegenentwurf für die der Erwachsenen und stellt diese parallel. Doch zuerst bleibt diese Welt für das Publikum verborgen.

Derweil setzt Hirokazu Kore-eda ein zweites Mal an, uns die Geschichte, die scheinbar in der Schule beginnt, zu erzählen. Dabei ist die Schule nur der Mikrokosmos einer Gesellschaft, in der eine Tradition der Höflichkeit Missstände überdeckt. In dem zweiten Drittel des Filmes erfahren wir, wie sich die Handlung aus der Sicht des Lehrers abspielt. Er ist jung, er ist engagiert, er hat Ambitionen und Ideale. Reicht es denn, ohne Fehl zu sein, um einer Anschuldigung gewachsen zu sein? Dabei ist Minato für ihn ein Schüler, von dem er annimmt, dass dieser einen anderen, schwächeren Klassenkameraden, Yori (Hinata Hiiragi), mobbt. Erst das letzte Drittel erzählt sich aus der Perspektive dieser zwei Kinder, gerade mal um die 10 Jahre alt. Kinder, die besonders Erwachsenen ihr Innerstes nicht preisgeben. Kinder, die schweigen, wenn die Erwachsenen sie mit Fragen bedrängen.

Das Monster, das im Titel beschworen wird, ist dabei sowohl Metapher als auch Charakterzug. Das vermeintliche Richtige, dass die Figuren tun, kann das Falsche sein und einem anderen das Leben zur Hölle machen. Das System an sich ist jedoch auch eines, was dieses Monströse begünstigt. Von Unschuld kann kaum die Rede sein. Nur Kinder besitzen noch eine Unschuld, wobei sie noch nicht einordnen können, wie weit Schuld und Unschuld auseinander liegen. Das Monströse der Gesellschaft ist es auch, dass diese Kinder und ihre Unschuld unter Druck setzt.

Hirokazu Kore-eda setzt darauf, dass das Publikum sich seiner Vorurteile bewusst wird und schubst es sanft an, Ereignisse und Beurteilungen zu hinterfragen. Die Unschuld führt die Zuschauenden dabei auf eine ähnliche Reise, wie die Figuren. Dabei hangeln sich die Erkenntnisse durch den Ablauf der Naturgewalten, die sowohl monströs geschehen als auch dabei keinerlei Schuldwert haben. Zwischen einem katastrophalen Feuer und einem alles verschlingenden Wassersturz werden die Figuren Kräften ausgesetzt, denen sie sich stellen müssen.

In Cannes gewann Die Unschuld den Preis für das beste Drehbuch. Darüber hinaus gab man ihm auch den “Queer-Palm”-Preis. Dazu sein erwähnt, dass der Regisseur die Kinder in einem noch bewusst “unschuldig” gehaltenen Alter angesetzt hat. In Deutschland wurde der Film zuerst auf dem Filmfest München vorgestellt. Übrigens handelt es sich bei Die Unschuld, dessen Filmmusik die Handlung überzeugend unterstützt, um die letzte Arbeit des Komponisten Ryūichi Sakamoto.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Kaibutsu Internationaler Titel: Monster Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Yūji Sakamoto Kamera: Ryûto Kondô Montage: Hirokazu Kore-eda Musik: Ryūichi Sakamoto Mit Sakura Andô, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata, Akihiro Kakuta, Shidô Nakamura, Yûko Tanaka Japan 2023 127 Minuten Kinostart: 21. März 2024 Verleih: Wild Bunch Germany Festivals: Cannes 2023 / Karlovy Vary 2023 / München 2023 / Toronto 2023 TMDB

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© Eneh

Ein gläserner Kasten, keine Black Box, wird in den Innenhof einer Mietskaserne mit Seilen herabgelassen. Hier wird jetzt Herr Horn (Felix Kramer) von der Hausverwaltung residieren und für seine Eigentumswohnungen, er ist Mitinhaber in Personalunion, Werbung machen. Ein offenes Büro zusagen. Es sind die Mietparteien, die hier die Unbekannten sein sollen. Fragt sich, für wen? Der Hausverwalter, das sei jetzt schon mal erwähnt, weiß mehr über die Mieter und Mieterinnen, als man annehmen könnte. Die Mietparteien kennen sich auch untereinander recht gut. Die große Unbekannte ist also das Publikum, das nicht in diese Figuren hineingucken kann. Was wird passieren, wenn man diese Leute unter Druck setzt? Wie reagieren die Zuschauenden auf dieses Experiment, das als sozialkritischer Spielfilm daherkommt?

Das Haus soll saniert werden. Es steht im Raum, dass aus den Wohnungen Eigentumswohnungen werden. Allerdings wird der Prozess durch ein paar Parteien erschwert. Wer die aktuelle Tagespresse, besonders auch in Berlin, besonders in der Startwoche, liest, wundert sich schon über gar nichts mehr. (Der Beispiel-Link führt zu RBB24.) Es fängt so simpel wie offensichtlich an. Die stinkenden Müllkästen, die dem Bürokasten weichen mussten, werden unter die Fenster des Lehrers Erik Behr (Christian Berkel) gestellt. Der findet das nicht so toll. Er wähnt den Mieter Karsten Jung (André Szymanski) als Freund und Verbündeten in seinem Kampf um Mietrechte. Insgeheim spekuliert der jedoch auf eine bessere Eigentumswohnung. So viel sei gesagt, Bündnisse sind hinfällig, wenn es ans Eingemachte geht. Als Herr Horn, ganz unrühmlich, mit einem Eierwurf empfangen wird, fällt die Frage “wer wars?” sogleich auf den querulanten Lehrer. Der wiederum behauptet, dass das Kind einer Mietpartei in den Hof pinkelt.

Die eigentliche Handlung setzt ein, als an einem x-beliebigen Morgen eine Polizeisperre den Hauseingang versperrt. Keiner darf rein, keiner darf raus. Eine Maßnahme wird durchgeführt, von der niemand weiß, wozu diese dient und wie lange die Situation anhält. Hier sind die Figuren nicht schlauer als das Publikum. Sie wehren sich jedoch. Auf unterschiedliche Art. Dabei wird den Figuren eine Vita beigegeben, die vermittelt, warum sie sich wehren. Eine Figur, die tatsächlich in Not gerät, weil sie zu einer medizinischen Behandlung muss, wird da schnell mal aus dem Spiel genommen. Eine andere Figur gerät dafür in den Mittelpunkt und schließlich zur Identifikationsfigur für das Publikum. Nicht die Studentin, die für eine Syrerin gehalten wird, nicht der politische Aktivist aus einem diktatorischen Land. Vielmehr ist es Henrike (Louise Heyer), die gut bürgerliche Hausfrau, die endlich wieder ein Jobinterview hat, zu dem sie dringend in Persona erscheinen soll. Ihre Probleme, ihr aufmüpfiges Kind, ihre Eheprobleme sprechen eine gutbürgerliche Schicht an, die sich hier wiedererkennen darf. Obwohl Henrikes Probleme im Vergleich zum Großen und Ganzen banal und hausgemacht wirken.

Die Regisseurin Aslı Özge erzählt in ihrer schematischen Anordnung jedoch nicht vom Klassenkampf und nur bedingt von Gentrifizierung, sondern setzt Typen in eine Malen-nach-Zahlen-Handlung, die genau die, um die es geht, zurücklässt. Bereits in ihrem letzten Film, Auf einmal, behandelte sie die Themen Vorverurteilung und Misstrauen.

In Black Box misstraut jeder jedem, aber für die Ursache, den Verursacher und die teilnehmenden Figuren interessiert sich ihr Drehbuch immer weniger, je mehr Episoden sie einbringt. So weiß das Publikum ziemlich bald, dass jede Figur nur eine Rolle in dem Stück spielt. Aber schon in der Ungleichgewichtung der Figuren kippt das Konzept. Echte Probleme werden durch scheinbare Probleme verwässert. Manche Figuren werden unsympathisch, andere der Lächerlichkeit preisgegeben. Die politischen und gesellschaftlichen Themen, die uns in den letzten Jahren beschäftigt haben und weiterhin beschäftigen: die Zuwanderung, die Kriege, Corona, die Gentrifizierung, Arbeitslosigkeit, bleiben hier Stichpunkte, denen die Erzählerin nicht auf den Grund geht. Dabei, und das macht nachdenklich, sind es die belgischen Brüder Dardenne, bekannt durch ihre nüchternen, genauen Sozialbetrachtungen, deren Produktionsfirma hier mit an Bord ist.

Mittendrin also der undurchsichtige Herr Horn, der wie das Kaninchen aus dem Hut plötzlich Sprachkenntnisse zaubert, die darauf deuten, dass er an all den Fässern, die dramaturgisch geöffnet werden, sehr wohl Anteil hat, wenn nicht gar mehr. Die Figuren werden aufeinander gehetzt, jeder misstraut schließlich dem anderen. Die Polizei vor der Tür könnte ja nicht grundlos da sein, all diese Elemente lassen das Konzept zerfasern. Da dreht sich die Handlung mitunter im Kreis und wiederholt sich.

Etwas mehr Tempo, etwas mehr tatsächliche Spannung und etwas Kürzung hätten dem Stoff gutgetan. Das Konzept, die Ereignisse aus der reinen Beobachtung und nur über die Reaktionen der Figuren, zu bewerten, bleibt schwierig. So ist aber auch Henrike, die die ganze Zeit nur für das Publikum anwesend ist, die einzige Figur, die sich entwickeln darf. Die das Ganze irgendwann in Frage stellen darf. Die und darauf läuft es auch hinaus, handeln darf. Warum ausgerechnet sie, fragt man sich. Auch dieser Handlung sind Grenzen gesetzt. Schließlich ist auch eine Hausgemeinschaft nur ein Ausschnitt einer Gesellschaft, der in dieser Form in immer größeren Kreisen, das gleiche widerfährt.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Black Box Regie: Aslı Özge Drehbuch: Aslı Özge Kamera: Emre Erkmen Montage: Patricia Rommel Mit Luise Heyer, Felix Kramer, Christian Berkel, Timur Magomedgadzhiev, Manal Issa, André Szymanski, Sascha Alexander Geršak, Jonathan Berlin, Anne Ratte-Polle, Christina Harting, Ali Bulgan, Deniz Orta, Noureddine Friedrich Chamari, Noémi Besedes, Inka Friedrich, Anna Brüggemann, Hanns Zischler, Toni Traum, Andrea Dietrich, Gitta Witzel Deutschland / Belgien 2022 120 Minuten Kinostart: 10. August 2023 Verleih: Port-au-Prince Pictures Festivals: München 2023 TMDB

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© Eneh