Cineneh

Filmjahr2023

Ob Rock'n'Roll, Rock oder Pop, die Musikbranche lebt vom Skandal.

Elvis Presleys Hüftschwung erregte in den 50ern die Gemüter. Jimi Hendrix verbrannte in den 60ern seine Gitarre auf der Bühne, die Sex Pistols galten in den 70ern an sich schon als Skandal. Ihr Song God Save The Queen spaltete das Heimatland Großbritannien. Es war in den 80ern, als Ozzy Osbourne auf der Bühne einer Fledermaus den Kopf abgebissen hatte. Sicherlich, es gibt positive Skandale und negative Skandale. Skandale, die eine Band oder eine Performance cooler machen und Skandale, bei denen man heute “canceln” würde.

John Lennon könnte ein Lied davon singen. Als er die Beatles für populärer als Jesus benannte, in den USA wohl gemerkt, da war aber die Hölle los. Madonna war auf Skandale abonniert. Sie brachte nicht nur die prüde Kirche gegen sich auf. Dieses Jahr hatte der Berliner Radiosender Radioeins in seiner Sommersonntagsreihe nach den 100 skandalösesten Songs gefragt. Die Sex Pistols gewannen mit God Save The Queen und Milli Vanillis Girl You Know It's True erreichte nur den 47ten Platz. Der Skandal um Milli Vanilli ist also mitnichten der größte in der Popgeschichte.

Eigentlich ist es ein Skandal, dass eine Inszenierung eines Acts wie Milli Vanilli mit den beiden Tänzern Fab Morvan (Elan Ben Ali) und Rob Pilatus (Tijan Njie) überhaupt erst ein Skandal werden konnte. Hat denn niemand richtig hingehört? Wer Playback spielt, weicht doch keine Unze von dem eingespielten Track ab. Ist das denn niemandem aufgefallen bei den Konzerten?

Oder die Tatsache, dass die Zwei zwar akzentfrei singen, aber keine Unterhaltung führen konnten, das kann man doch nicht nicht-merken. Das amerikanische Publikum fühlte sich jedoch betrogen, der Hype legte den Rückwärtsgang ein, und man gab diesem Gefühl mit der Dampfwalze ein Ventil. Es war sicherlich auch das damals junge Medium MTV, dass die attraktive Band in jeden Haushalt gebracht hatte. Ein Skandal ist wahrscheinlich eher, wie die zwei von Milli Vanilli von der Branche ausgepresst und vermarktet wurden. Waren sie wirklich so naiv zu glauben, dass sie den Erfolg, den sie als Tänzer erreichten, auch mit ihrem Gesang hätten reproduzieren können?

Simon Verhoeven nutzt das Etikett Skandal, gerne auch mit dem Hinweis auf Superlative, um die Band aus der Versenkung zu holen. Dabei stellt er schon die richtige Frage: Waren die zwei von Milli Vanilli nicht doch eher die Opfer? Durch einen Trick erzählen sie uns ihre Geschichte selbst.

Als Klammer durchbrechen die Beiden die vierte Wand und erzählen uns damit die Ereignisse aus ihrer eigenen Sicht, auch mit dem Hinweis, dass man sie ja gar nicht mehr kennen würde. Dabei gibt es nur einen kleinen Schönheitsfleck. Rob Pilatus, und damit verrate ich ja nichts, zerbrach an dem Erfolg und an dem Niedergang des Erfolges. Er kann seine Geschichte nicht mehr selbst erzählen. Fabrice Morvan könnte es, darf es aber nicht. Er verkaufte die Rechte an seiner Geschichte an die Produktionsfirma von Bret Ratner, der in Folge von Vorwürfen der sexuellen Belästigung von der filmwirtschaftlichen Landkarte verschwand und damit auch seine entsprechenden Filmprojekte.

Was war denn passiert? Laut Verhoevens Drehbuch beschränkten sich die Ambitionen der beiden Tänzer, die von Frank Farian gecastet wurden, nicht darauf, nur die Lippen zu bewegen. Sie wollten höher hinaus, sich selbst verwirklichen, raus aus der Provinz, raus aus Deutschland. In der großen weiten Welt war aber auch das Fischbecken größer und fortan diktierte ihnen nicht nur der Produzent im fernen Deutschland, was sie zu tun und zu lassen hätten.

Milli Vanilli wollten eine eigene Platte mit eigenen Songs. Bei einem Konzert flogen sie theoretisch auf. Das Playbackband kam ins Stottern. Ops. Doch damit war ihre Karriere noch nicht am Ende. Erst als Frank Farian die Bombe platzen ließ, dass alles nur ein Fake war, dass ganz andere Sänger den Song eingespielt haben, da trat er eine Lawine los, die den beiden Milli Vanillis den Boden unter den Füßen wegriss. Und das ist auch die Moral der Geschichte. Vertraue niemandem, und wenn du auffliegst, dann schiebe die Verantwortung ab. “Blame It On The Rain” quasi.

Ja, die Musikbranche lügt. Nicht nur diese. Junge Acts wurden schon immer übers Ohr gezogen. Wie man es anders als Fab Morvan und Rob Pilatus machen kann, zeigt Girl You Know It's True auch, aber viel versteckter.

Es könnte auch der Film über Numarx sein. Bitte wer, bitte was? Numarx waren eine US-amerikanische Hip-Hop-Band aus Baltimore und sie hatten den Song ursprünglich geschrieben. Frank Farian “klaute” den Song und Milli Vanilli haben ihn dann gecovert. Während die eine Band nun in Saus und Braus lebt und weltweit gefeiert wird, gucken die Jungs von Numarx blöd aus der Wäsche und erfahren quasi erst via MTV von dem Siegeszug ihres Songs. Woraufhin Numarx-Mitglied Kevin Liles (gespielt von Stevonté Hart) sich hinter die Bücher klemmt, sich in Sachen Urheberrecht schlau macht (ganz dröges, kompliziertes Zeug und überhaupt nicht cool) um die rechtlichen Möglichkeiten auszuloten. So macht man das.

Liles blieb scheinbar auf der Schiene und machte Karriere in den höchsten Kreisen bei Def Jam Recordings und der Warner Music Group. Das Billboard Magazine kürte ihn 2020 sogar zum “R&B/Hip-Hop Executive of the Year”. Bei Verhoevens Girl You Know It's True fungierte er dann auch als Executive Producer.

Taugt denn Girl You Know It's True als Film etwas? Sicherlich hängt das davon ab, was man erwartet. Es ist ein Flashback in die 80er, an die man sich doch nicht bis ins Detail erinnert. (Hat man damals wirklich noch Bluna getrunken?)

Die beiden Darsteller Elan Ben Ali und Tijan Njie sind exzellent gecastet und von der Choreographie lebt dann auch der Film. Das sieht einfach klasse aus. Matthias Schweighöfer gibt den berühmt, berüchtigten Produzent Frank Farian und da Farian eh fast eine Karikatur seiner selbst ist, überzeugt Schweighöfer mit vermeintlicher Zurückhaltung.

Sicherlich, Verhoeven strebte ein Publikumsfilm an und er war sich sicherlich bewusst, dass er eine Altersgruppe in die Kinos locken möchte, die Milli Vanilli, wenn sie denn für sie ein Begriff sind, eher nur als oberpeinliche Nummer der Elterngeneration wahrnehmen. Die Biographien der beiden Tänzer vermittelt er nur über ein paar wenige Eckdaten. Die Chemie zwischen den Beiden ist auch nicht wirklich erkennbar. Für die Unterhaltung werden Szenen auf ihr Potential für Komik abgeklopft. Die Musikindustrie selbst ist der pure Moloch.

Eine Auseinandersetzung oder gar Kritik an den Strukturen bleibt hier aus. Es bleibt bei den Schauwerten.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Girl You Know It's True Regie: Simon Verhoeven Drehbuch: Simon Verhoeven Kamera: Jo Heim Montage: Felix Schmerbeck, Alexander Berner, Elena Schmidt Musik: Segun Akinola Mit Tijan Njie, Elan Ben Ali, Matthias Schweighöfer, Bella Dayne, Graham Rogers, Tijan Marei, Ashley Dowds, Thomas Bading, Ulrike Arnold, Ben Felipe, Joshua Kantara, David Mayonga, Nico Ehrenteit, Samuel S. Franklin, Sebastian Kempf, Penelope Frego, James Flynn, Michael Mertens, David Baalcke, Ikko Masuda, Cornell Adams, Ivy Quainoo, Roxanne Rittmann, Lina Maruyama, Mitsou Jung, Bonita Lubliner, Lara Mandoki, Eva Nürnberg, Caprice Crawford, Romeo Guy Da Silva, Natasha Loring, Darlene Tejeiro Deutschland / Frankreich / USA 2023 124 Minuten Kinostart: 21. Dezember 2023 Verleih: Leonine TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Leonine

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L.o.l.a. ist eine Maschine. Genauer gesagt: L.o.l.a. ist eine Zeitmaschine. Sie wurde von den Schwestern Hanbury konstruiert.

Nach dem Tod der Eltern leben Thomasina (Emma Appleton) und Martha (Stefanie Martini) allein in einem Landhaus und sind sich selbst genug. Und dann ist da noch “Lola” oder auch L.o.l.a. Die Maschine besteht aus einer großen aufgehängten Platte, auf der man Bilder empfangen kann.

Unterhaltungssendungen aus der Zukunft entfachen plötzlich mitten im Weltkrieg die David-Bowie-Manie bei ihren Erfinderinnen. Doch was zuerst Vergnügen bereitet, bedeutet alsbald Verantwortung von den Beiden. Der Krieg fordert seinen Tribut, Luftgeschwader der Deutschen bedrohen auch die Zivilbevölkerung. Mit Hilfe der Zeitmaschine wissen die Schwestern, wann und wo es zu Angriffen kommen wird. Rechtzeitig übermitteln sie Warnungen via Funk.

Es heißt aber nicht von ungefähr, dass man sich bei Zeitreisen nicht in den Verlauf der Geschichte einmischen sollte. Jetzt ist die Implikation, wie die Zukunft verlaufen wird, für die Schwestern nur eine wage Möglichkeit, die ihnen bis zu einem gewissen Punkt nur Vergnügen bereitet hat.

Das Drehbuchteam von Regisseur Andrew Legge und Angeli Macfarlane bindet das Wissen des Publikums über den Verlauf des II. Weltkrieges und der Pop-Geschichte der Nachkriegszeit mit ein. Ohne zuerst zu wissen, inwiefern sich die Zukunft durch ihre Einmischung verändert, fuschen sie der Weltgeschichte “as wie know it” gehörig ins Handwerk. So sehr, dass sie zwar anfangs Menschenleben retten, aber Großbritannien mehr und mehr den Krieg zu verlieren droht.

Es kommt noch ärger: Insbesondere Thomasina verfällt ihrer Maschine und ihr gefällt die Macht, die sie erlangt. Andrew Legge versucht sein Gedankenexperiment, das visuell aufwendig gestaltet wurde und wahrlich fasziniert, hier auf einen philosophischen Kurs zu bringen. Ab wann verliert man die Kontrolle über das, was man tut, und ab welchem Punkt verliert man den ethischen und den moralischen Kompass? Was ist eine Zukunft wert, wenn es Stanley Kubrick, Bob Dylan und David Bowie so nie gegeben haben wird? Wenn alle Popsongs lyrisch stattdessen feuchte Nazi-Träume bedienen?

Lola ist als Mockumentary aufgezogen. Zum einen drehte das Filmteam über weite Strecken mit einer Bolex 16 mm, damit alles so aussieht, als wären wir wirklich in den 40er Jahren. Jede Menge Found Footage wurde erstellt. Handfestes Archivmaterial wurde mit eingebunden und teilweise verfremdet und es passt höllisch genau.

Andererseits bricht das Material auch immer wieder den Erzählfluss. Legge variiert hier einen seiner Kurzfilme. In The Chronoscope von 2009 hatte er einen Wissenschaftler erfunden, der mit einer Maschine in die Vergangenheit schauen konnte. Was Andrew Legge aber auch ausklammert, ist, dass seine alternative Wirklichkeit eigentlich mehr als ein paar handelnde Figuren haben müsste. Er konzentriert sich auf die Maschine und die beiden Schwestern. Es gibt keine Bevölkerung im Widerstand. Es gibt scheinbar überhaupt keinen Widerstand.

Die Ereignisse bedrohen schließlich auch das Schicksal der Schwestern. Eine Figurenentwicklung aus sich selbst heraus bleibt halbherzig. Eine angedachte Romanze überzeugt wenig. Dass ausgerechnet eine queere Figur auf die falsche Seite geraten könnte, verärgert sogar ein bisschen. Dass angedachte Fragestellungen nach der Wichtigkeit von Kultur und Wissenschaft irgendwann zugunsten von Spionage-Allerlei und Actionszenen vernachlässigt werden, ist bedauernswert. Andrew Legge möchte aus der Nummer herauskommen, indem er alle Änderungen rückgängig macht. Alles auf Anfang sozusagen. Nach Zeitreiselogik sollte das aber nur in parallele Wirklichkeiten führen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Lola Regie: Andrew Legge Drehbuch: Andrew Legge, Angeli Macfarlane Kamera: Oona Menges Montage: Colin Campbell Musik: Neil Hannon Mit Stefanie Martini, Emma Appleton, Hugh O'Connor, Rory Fleck Byrne, Aaron Monaghan, Ayvianna Snow, Philip Condron, Shaun Boylan Irland / Großbritannien 2021 79 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Neue Visionen Festivals: Hamburg 2023 / Sitges 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #NeueVisionen #Hamburg2023 #Sitges2023

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Augusto Góngora ist ein bekannter chilenischer Journalist. Seine Frau Paulina Urrutia ist Schauspielerin (z.B. in Fuga von Pablo Larraín) und war sogar ein paar Jahre lang im ersten Kabinett der Präsidentin Michelle Bachelet Ministerin für Kultur und Medien des Landes. Vor einigen Jahren wurde bei Góngora die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert, seitdem kümmert sie sich um ihn. Alzheimer ist nicht nur eine perfide und grausame Krankheit. Góngora kämpfte seit Jahrzehnten gegen das Vergessen der Untaten des Pinochet-Systems. Nun droht ihm seine Biografie zu entgleiten. Die Regisseurin Maite Alberdi vermittelt auch mit dem Material, das Urrutia von ihrem Mann aufgenommen hat, in einer Langzeitstudie die Stationen dieser Krankheit. Sie bringt uns den schwierigen Zusammenhalt eines Paares nahe, und sie zeigt uns, wie wichtig Erinnerungen im Privaten als auch in der Gesellschaft sind.

Für Góngora war Erinnerung alles, es war seine Lebensaufgabe. Sein Motto “Erinnerung ist Identität” bezog er auf die Erinnerung eines Landes. Er wirkte zum Beispiel bei dem Sammelband Chile, die verbotene Erinnerung mit. Nichts, was dieses mörderische Regime verbrochen hatte, sollte verdrängt und vergessen werden. Ein grausamer Scherz, dass er nun kaum noch weiß, wer die Frau ist, die ins Zimmer kommt, der sich vor dem Hochzeitsbild an der Wand fürchtet und nicht mehr weiß, wer er selbst ist. Die Diagnose, 2014 gestellt, hat die Beiden, die über 20 Jahre zusammen waren, sicherlich auch zusammengeschweißt. Bereits damals griff sie zur Kamera und man kann davon ausgehen, dass er damals auch seine Einwilligung gab. Sicherlich berühren einige Momente auch schamhaft, die kurze Lauflänge weist aber darauf hin, dass das Material, das über so lange Zeit entstanden ist, mit Bedacht ausgewählt wurde.

Viele Dokumentarfilme widmen sich Biografien oder behandeln das Schicksal von bekannten Persönlichkeiten. Die unendliche Erinnerung der Regisseurin Maite Alberdi vermittelt uns das Schicksal zweier Persönlichkeiten, die in ihrem Heimatland Chile sehr, bei uns vielleicht eher nicht so bekannt sind. Gleichzeitig behandelt es auch das Schicksal eines ganzen Landes und darüber hinaus berichtet es von den Tücken einer Krankheit. Es ist sicherlich nicht einfach, diese schweren Themen so zu verknüpfen, dass Würde, Liebe und auch die Erinnerung, auf die der Titel anspielt, zugänglich, wenn nicht gar mit Leichtigkeit verknüpft werden.

Alberdis letzter Film war eine deutsche Co-Produktion: Der Maulwurf – Ein Detektiv im Altersheim sollte eine Mischung aus Dokumentar- und Spionagefilm sein. Ein verdeckter Ermittler sollte von der Einsamkeit in einem chilenischen Altersheim berichten. Alberdis aktueller Film debütierte in Sundance am Anfang des Jahres 2023 und gewann in seiner Kategorie den Hauptpreis. Darauf folgte die Festivalvorstellung auf der Berlinale in der Sektion Panorama, später lief der Film unter anderem auf dem DOK.Fest München.

Es ist natürlich schwierig. Die Aufnahmen, die Paulina Urrutia von ihrem Mann macht und mit der sie gemeinsame Momente, sozusagen für die Erinnerung, einfängt, sind derart intim, dass man sich als Publikum stark berührt fühlt und vielleicht den Einblick als zu persönlich deutet. Überwiegt hier der Wille des Dokumentierens der Regisseurin oder der des Paares, das auch auf Grund der Pandemie, sich am Ende nur in seiner Zweisamkeit darstellen kann? Überwiegt das Festhalten des Gedächtnisses eines Einzelnen, das mehr und mehr verfällt, die Dringlichkeit, ein nationales Gedächtnis zu bewahren? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Der Film existiert und seine Hauptfigur, Augusto Góngora, ist im Mai diesen Jahres verstorben. Vielleicht ist Die unendliche Erinnerung auch einfach nur ein Film über die Liebe.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: La memoria infinita Regie & Konzept: Maite Alberdi Kamera: Pablo Valdés Montage: Carolina Siraqyan Musik: Miguel Miranda, José Miguel Tobar Mitwirkende: Paulina Urrutia, Augusto Góngora Chile 2023 85 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Piffl Medien TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #PifflMedien #Sundance2023 #Berlinale2023 #DokFestMünchen2023

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Venedig ist die Stadt der Lagunen. Venedig ist damit auch der Sehnsuchtsort eines stetig fließenden Stroms von Touristen. Kreuzfahrtschiffe spucken immer mehr von ihnen aus. Zahlreiche Dokumentarfilme widmen sich sowohl der Geschichte als auch der Bedrohung durch ihren Ruhm und ihrem Ruf.

Der Venezianer Giovanni Pellegrini betrachtet seine Stadt, in der er, so sagt er, in einem Boot geboren wurde, sowohl aus der Distanz als auch aus seinem Inneren heraus. Bevor Pellegrini die Stadt aus der Perspektive eines Dokumentarfilmers betrachtete, führte er Touristen in die abgelegensten Winkel. Auch hier ist sein Blick der eines Einheimischen, der jeden Kanal kennt. Aus der Vogelperspektive zeigt uns Pellegrini zuerst nur die Leere, die Weite und das Wasser. Eine kleine Insel, eine Sandbank, eine Kate. Erst dann wechselt er die Perspektive ins Jetzt, in der Venedig aus der Höhe sich wie eine Patchworkdecke präsentiert. Das Wasser ist fast das Hauptelement von Lagunaria und dann es geht hinein in die Kanäle und damit gelangen die Probleme der Stadt und ihrer Bewohner immer mehr in den Fokus.

Bereits 2020 hatte Pellegrini Venedig zum Thema genommen. In Citta' delle sirene berichtete Pellegrini aus erster Hand, wie eine Flut an Wasser die Stadt traf und zum Katastrophengebiet machte. Im November 2019 kämpften die Bewohner gegen das Hochwasser und in einem nachdenklichen Essay behandelte der Regisseur die Auswirkungen des Klimawandels auf die, die die Auswirkungen zuerst erleben werden.

Lagunaria ist quasi eine Fortsetzung. Noch dazu versiegte der Touristenandrang, als die Covid 19-Pandemie alles in einen Lockdown versetzte. Bilder der Leere stehen im Kontrast mit Bilder von eng beisammen stehenden Touristen auf den bekannten Stadtmarken.

Venedig ist in Lagunaria nur noch eine Erinnerung. Vielleicht gab es diese Stadt nie. Die Off-Stimme von Irene Petris erzählt aus der Zukunft von einer Stadt, die einmal war. Von einer “unsichtbaren Stadt”, so wie der von den Italienern so sehr verehrte Italo Calvino, sie behandelte. Mit den Booten und den Gondeln gleiten wir hinein in den Stadtraum und durch die engen Wasserwege. Die Kamera nimmt diesen Rhythmus auf. Ein Ruderschlag, noch ein Ruderschlag. Ein Gondoliere erklärt dem Nachwuchs den Weg des Wassers und wie man ihn sich zunutze macht. Restaurateure und Handwerker behandeln die Wunden, die das Wasser dem Boden, den Bodenmosaiken und den Wänden zufügt hat. Denn kampflos ergeben sich die Venezianer nicht.

Szenen vom Alltag der Bewohner sind dokumentarisch und doch ist Lagunaria mehr ein Essay und eine mahnende Betrachtung. Es steht zu befürchten, dass Venedig eines Tages wirklich vom Wasser verschlungen wird. Es ist ein Schicksal, das auch andere Städte, Küstenregionen, Inseln bedroht. Pellegrini erinnert an das, was gewesen sein wird, an die Würde und die Schönheit. Seine Mahnung an uns setzt er poetisch um. Wir sollten ihn trotzdem ernst nehmen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Lagunaria Regie & Konzept: Giovanni Pellegrini Kamera: Giovanni Pellegrini Montage: Chiara Andrich Musik: Filippo Perocco Mitwirkende: Romano Zen, Nicola Ebner, Daniele Serio, Giorgio Molin, Guido Jaccarino, Ada Stevelich, Emiliano Simon, Maria Fiano, Francesco Penzo, Christian Badetti, Andrea Berton, Luca Manprin, Uma de Polo, Davide de Polo, Chiara Pluchinotta, Marco Bassi, Melissa Mc Gill, Federico Mantovan, David Angeli, Enea Cabra, Nicoletta Passetti, Lorenzo Tassoni Erzählstimme: Irene Petris Italien 2021 86 Minuten Kinostart: 21. Dezember 2023 Verleih: Real Fiction TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction

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As bestas (Wie wilde Tiere) protokolliert einen eskalierenden Nachbarschaftsstreit. Doch die Ereignisse sind komplizierter. Die Handlung, die sich wie eine Chronik eines angekündigten Mordes entwickelt, basiert auf wahren Ereignissen. Zumindest wurden sie davon inspiriert. Der spanische Regisseur Rodrigo Sorogoyen, sein vollständiger Name lautet Rodrigo Sorogoyen del Amo, sein Großvater war der Regisseur Antonio del Amo, griff die Geschichte eines flämischen Paares auf, das sich Anfang der 2010er Jahre in Galicien niedergelassen hatte.

Sorogoyen, bekannt für seinen Film El reino und Madre, eröffnet die Handlung in einer Kneipe und stellt dem Publikum zuerst Xar (Luis Zahera) vor, der die Männermannschaft fest im Griff hat, die Unterhaltung dominiert und erst einmal eine erhitzte Rede schwingt, was er für gerecht und was für ungerecht hält. Das Publikum, das noch keine der Figuren kennt, hört ihm tatsächlich zu. Antoine (Denis Ménochet), gegen den sich die Rede richtet, kommt erst ins Bild, als wir eine der Positionen in diesem Gesellschaftsthriller kennen. Antoine, der Franzose, ist der Fremde, der sich mit seiner Frau Olga (Marina Foïs) in dem Gott verlassenen Ort niedergelassen hat.

In dem Drehbuch von Isabel Peña und Sorogoyen prallen Lebenswelten aufeinander. Die verarmte bäuerliche Gemeinschaft nimmt das fremde Ehepaar, das sich einen Neuanfang leisten kann, welches ihnen nicht nur finanziell, sondern auch intellektuell voraus ist, nicht an. Antoine hat gute Absichten. Er nimmt sich der verlassenen und verfallenen Häuser an, richtet sie her, in der Hoffnung, Weggezogenen zur Rückkehr zu bewegen, auch um dem Ort eine Zukunft zu geben. Als Großstädter auf dem Land führt das Ehepaar eine biologische saubere Öko-Landwirtschaft. Die Produkte verkaufen sie auf dem städtischen Markt. Xar und seinem Bruder Lorenzo (Diego Anido), der nach einem Unfall mental zurückgeblieben ist, sind die Beiden jedoch ein Dorn im Auge. Zuerst sticheln sie nur, dann mobben sie die Nachbarn, dann bricht sich nach und nach eine Aggression Bahn, die durch rein gar nichts abgefedert wird. Antoine, von bulliger Statur, der sein Gemüt nicht nach außen kehrt und sicherlich innerlich brodelt, meldet die Bedrohungen, zeigt begangene Straftaten an, und findet bei der örtlichen Polizei doch kein Gehör.

Dabei steht die Figur des Fremden auch für den Eindringling. Der sich Land nimmt, es als seinen Besitz ansieht, sich intellektuell überlegen fühlt. Jedes hergerichtete Haus steht für eine Etappe der Gentrifizierung. Das Publikum kann die toxische Männlichkeit, die sich hier in einem Western artigen Konflikt ausbreitet, unmöglich ertragen. Das Drehbuch wirkt dem mit dem leisen, verhaltenen Auftreten der Frauen in der Handlung entgegen. Die Stärke der Frauen, die hier viel subtiler vermittelt wird, wird die Ereignisse überdauern. Doch die Positionen beider Seiten sind erfassbar und nachvollziehbar. Die Ausweglosigkeit muss das Publikum ebenso ertragen. Die Kluft zwischen den Fronten geht dabei sogar noch tiefer. Während Antoine eine Frau an seiner Seite hat, leben Xar und sein Bruder bei ihrer alten Mutter, ohne auch nur die Chance zu haben, vor Ort oder in der Umgebung eine Frau zu finden. Sich aufstauender Hass kann von noch so viel guten Willen nicht abgefedert werden. Die offene Bedrohung der Brüder gegen ihre Nachbarn, die sich zunehmend kriminell äußert, steht gegen den blinden Fleck der Zugezogenen, die allein mit ihrer Anwesenheit eine Bedrohung sind. Antoine und Olga sind keine reichen Leute, aber Geld bedeutet ihnen nicht viel. Ein Affront für denjenigen, der gar nichts hat. Der sich aber Hoffnung macht, als eine ausländische Firma Grundstücke kaufen will, um darauf Windkraftanlagen zu bauen. Für die Einheimischen würde das den vielleicht kurzfristigen Geldsegen bedeuten, mit dem sie von der Scholle flüchten könnten, in die Städte. Der Wunsch nach Verwirklichung zieht den einen in die Stadt, während es den anderen aus der Stadt aufs Land zieht. Ausgerechnet Antoine stellt sich gegen diesen Landausverkauf. Seine weitsichtigen Gründe behindern die kurzfristigen Begehren der Nachbarn.

In einer Metapher nimmt Sorogoyen die Essenz seines Thrillers vorweg. Der Originaltitel As bestas wird im deutschen Titel vielleicht abgeschwächt, aber auch präzisiert. Wie wilde Tiere zeigt in der Eröffnungssequenz ein Wildpferd, das brutal niedergerungen wird, um ihm so seine Freiheit zu geben. Ein verstörendes Ritual, das visuell fasziniert (Kamera Alejandro de Pablo) und seelisch verstört. Wie wilde Tiere zeichnet einen unüberbrückbaren Konflikt nach, dem keine Partei ausweichen kann. Vielleicht ist das stoische, pragmatische Ausharren der Frauen eine Lösung.

Sorogoyen zeigte seinen Film zuerst in Cannes, inzwischen hat er die wichtigsten spanischen Filmpreise, die Goyas, gewonnen und auch zahlreiche Top-10-Listen des diesjährigen Jahres führen Wie wilde Pferde auf. Sorogoyen etabliert sich mit diesem Werk endgültig als einer der wichtigen Regisseure seines Heimatlandes.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: As bestas Regie: Rodrigo Sorogoyen Drehbuch: Isabel Peña, Rodrigo Sorogoyen Kamera: Alejandro de Pablo Schnitt: Alberto del Campo Musik: Olivier Arson Mit Marina Foïs, Denis Ménochet, Luis Zahera, Diego Anido, Marie Colomb, Luisa Merelas, José Manuel Fernández Blanco, Federico Pérez Rey, Javier Varela, David Menéndez, Xavier Estévez, Gonzalo García, Pepo Suevos, Machi Salgado, Luis P. Martínez, Melchor López, José Antonio Fernández, Ramón Porto, Poli Suárez, Faustino Álvarez Spanien / Frankreich 2022 139 Minuten Verleih: Prokino Kinostart: 7. Dezember 2023 Festivals: Cannes 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Prokino

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Elaha, gespielt von Bayan Layla, ist 22 Jahre alt und steht kurz vor ihrer Heirat. Sie ist Deutsch-Kurdin und damit in zwei Kulturen zu Hause. Elaha ist eine Geschichte der Selbstermächtigung, quasi ein Coming-of-Age. Ein Regiedebüt. Die Regisseurin Milena Aboyan, geboren als Kurdin in Armenien, durchlief zuerst eine Schauspielausbildung, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihren Abschlußfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg stellte sie zuerst auf der diesjährigen Berlinale vor. In der Sektion “Perspektive Deutsches Kino”. Man ist sich schmerzlich bewußt, welche Lücke die Abschaffung dieser Sektion reißen wird. Junge Talente wie Aboyan werden es schwerer haben, sich vorzustellen. Elaha debütierte hier und es ist erfreulich, dass dieses vielschichtige Drama doch auch in die Kinos kommt.

Elahas Verlobter ist der Bruder ihrer Arbeitgeberin. Beruflich hat er Ambitionen. Seiner Herkunft ist er soweit verbunden, dass er in der Aufforderung seiner Eltern, Elaha möge ihre Jungfräulichkeit doch mit einem ärztlichen Attest bestätigen lassen, kein Problem sieht. Elaha hat jedoch ein Problem. Dabei lässt das Drehbuch den medizinischen Wissensstand um das Jungfrauenhäutlein außen vor. Es geht ausschließlich um die Auswirkung, die diese archaische Tradition auf die titel-gebende Hauptfigur hat.

Elaha hatte schon einmal Sex. Mit 22 Jahren ist das nun nicht wirklich ungewöhnlich. Trotzdem will sie diese Ehe. Folglich bemüht sie sich darum, dieses Attest dennoch zu bekommen. Denn wo ein Bedarf ist, ist auch ein Markt. Allein, es fehlen ihr die finanziellen Mittel. Milena Aboyan stellt ihre Titelfigur zwischen ihr nach Außen zur Schau getragenes Selbstbewußtsein und dem patriarchisch frauenfeindlichen Selbstverständnis ihres Umfeldes. Elaha läuft von hier nach da, um doch noch einem Konstrukt zu gehorchen, dessen Selbstzweck ihr im Verlauf der Handlung mehr und mehr bewußt wird, und von dem sie sich doch nicht so einfach lösen kann. Gerade diese Ambivalenz macht diesen Film zu einem, über den man auch im Anschluss noch reden möchte.

Auch in der Bildsprache zieht Aboyan (Kamera: Christopher Behrmann) auf Enge, sprich auf das Format 4:3, und eine begrenzte Farbpalette. Elaha stellt die ihr auferlegten Regeln zunehmend in Frage, ist aber von den Erwartungen ihres nicht kurdischen Freundeskreises gleichsam überfordert. Milena Aboyan zeigt die Schattierungen, die Elahas Situation bestimmen. Bis zur Selbstbestimmung ist es jedoch ein schwerer Weg.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Elaha Regie: Milena Aboyan Drehbuch: Milena Aboyan, Constantin Hatz Kamera: Christopher Behrmann Schnitt: Elias Ben Engelhardt Musik: Kilian Oser Mit Bayan Layla, Armin Wahedi, Derya Dilber, Derya Durmaz, Cansu Leyan, Beritan Balci, Slavko Popadić, Nazmî Kirik, Réber Ibrahim, Homa Faghiri, Hadnet Tesfai, Yasmin Mowafek, Onur Poyraz, Adnan Jafar, Ferman Alkasari, Taies Farzan, Lennart Gottmann, Mehmet Daloglu, Hêja Netirk, Svetlana Wall, Tatiana Corrado, Dennenesch Zoudé, Faris Saleh Deutschland 2023 111 Minuten Verleih: Camino Kinostart: 23. November 2023 Festivals: Berlinale 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Studentenfilm #Berlinale2023 #Camino

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Cáit (Filmdebütantin Catherine Clinch) ist ein stilles Kind. In ihrer Familie wirkt und wird sie an den Rand gedrängt. Es fehlt an vielem. Die Familie ist arm. Sie ist eine von vier Schwestern und die Mutter ist wieder schwanger. Die Handlung spielt 1981, die Familie lebt auf dem Land. Die Mutter ist überfordert, der Vater schroff. Zuwendung, von Zuneigung mag man gar nicht erst sprechen, fehlt. Cáit ist nicht nur sehr still, sie zieht sich so sehr zurück, dass sie praktisch unsichtbar wird. Wie belastend die familiäre Kälte auf das Kind wirkt, merkt man, wenn man gewahr wird, dass sie sich wieder einmal nachts eingenässt hat.

Es ist den Eltern zu viel. Unvermittelt setzen sie ihr jüngstes Kind bei fernen Verwandten ab. Mit nichts weiter als dem Kleid, das sie gerade trägt. Ohne Erklärung und ohne zu wissen, ob sie irgendwann wieder abgeholt wird, findet sich das Kind in der Fremde wieder. Colm Bairéad nahm sich für seinen ersten Langfilm, zu dem er auch das Drehbuch verfasste, einer Kurzgeschichte an. Foster von Claire Keegan erschien 2010 in dem Magazin “The New Yorker”. Das Publikum erlebt die Ereignisse aus der Sicht von Cáit. Die Kamera von Kate McCullough (aktuell Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry), die für diese Arbeit den Europäischen Filmpreis für die beste Kameraarbeit gewann, engt sich auf das Vollbild 4:3 ein. Cáit ist noch zu sehr Kind, gerade 9 Jahre alt, ihre Sicht umfasst nur ihr nächstes Umfeld. Diese Beschränkung setzt sich in dem Format um. Doch Cáit ist aufmerksam, sie nimmt Dinge und auch Stimmungen wahr.

Ihr Zuhause für diesen Sommer ist auf dem Hof bei einem älteren, kinderlosen Ehepaar, das etwas besser situiert lebt. Mit einem einzigen Satz wendet sich für das Mädchen alles. Eibhlín Kinsella, gespielt von Carrie Crowley, fasst das erste unfassbare Gefühl in Worte. Worte, die hier so selten laut ausgesprochen werden, denn “The Quiet Girl” lebt von Zwischentönen, Gesten, dem Licht, das die Figuren umhüllt, und einem zurückgenommenen Pacing. Sie würde ihr Kind niemals bei Fremden aussetzen, sagt sie dem Kind. Cáit wurde zwar rigoros abgeschoben, doch das erste Mal in ihrem Leben wird sie hier gesehen. Und sehr langsam wagt sie sich aus ihrem Schneckenhaus. Eibhlín umhegt das Mädchen, schenkt ihr all die Liebe, die sie hat. Ihr zurückhaltender Mann Seán (Andrew Bennett) braucht etwas länger. Einfach ist es trotz allem nicht.

Viel mehr muss man gar nicht über diesen Film wissen. The Quiet Girl erzählt sich mit dem Herzen. Es ist ein leiser, ein lyrischer und doch auch vielschichtiger Film, der über die Sinne berührt. Alle Gewerke unterstützen die Darstellenden. Subtil kündigt sich schon früh eine weitere Geschichte hinter der Geschichte an, die das Kind auch bald erspürt. Eine Besonderheit ist, dass Bairéad den Film in Irisch drehte, einer Sprache, die viel zu selten auf der Leinwand zu hören ist. Doch die Hauptsprache von The Quiet Girl ist die Filmsprache, die Stille in vielen Variationen vermittelt. Ohne Worte vermitteln sich Kummer und Trauer. Kälte und Wärme. Auch das Publikum wird stiller und stiller.

The Quiet Girl wurde 2022 im Generation-Programm der Berlinale vorgestellt. Die Kinderjury zeichnete den Film mit einer lobenden Erwähnung aus. Die internationale Jury bedachte das stille Drama gar mit dem großen Preis. Es ist immer wieder erstaunlich welch stimmige, anspruchsvolle und doch leicht zugängliche Filme die Kplus-Sektion des Festivals zusammenzutragen weiß und man fragt sich, warum nicht mehr von genau diesen wunderbaren Filmen es tatsächlich in die Kinos schaffen. Besonders im Bereich Kinderfilm. Colm Bairéad bewies mit seinem Langspielfilmdebüt sein Talent. Seine Arbeit an Dokumentarfilmen bereitete ihn auch darauf vor, die Bilder bis ins Detail auf die Geschichte zu fokussieren. Sein Film eroberte Festival um Festival, gewann nationale und internationale Filmpreise und schaffte es als Irlands Einreichung für den Internationalen Oscar bis in die Nominierungsrunde. Mit einiger Verspätung kommt die Geschichte von Cáit nun doch noch in unsere Kinos.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: An Cailín Ciúin Regie: Colm Bairéad Drehbuch: Colm Bairéad Vorlage: Claire Keegan Kamera: Kate McCullough Schnitt: John Murphy Musik: Stephen Rennicks Mit Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh, Joan Sheehy, Tara Faughnan, Neans Nic Dhonncha, Eabha Ni Chonaola, Carolyn Bracken, Pádraig Ó Se, Breandán Ó Duinnshleibhe, Sean Ó Súilleabháin, Aine Hayden, Elaine O'Hara, Marion O'Dwyer, Jessica Joannides, Roise Crowley, Grainne Gillespie Irland 2022 95 Minuten Verleih: Neue Visionen Kinostart: 16. November 2023 Festivals: Berlinale 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #NeueVisionen #Berlinale2022

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Der Dokumentarfilm Für Immer hat ein sehr schlichtes Plakat. Zwei Menschen sind darauf in Nahaufnahme zu sehen. Sie und er. Es zeigt sowohl, dass die Beiden sich stützen, als auch dass sich Beide eine Unabhängigkeit bewahrt haben. Vertrautheit liest man aus der Pose heraus, doch gleichzeitig wirkt es, als hätten beide etwas Eigenes dazu zu sagen. Vielleicht ist das auch nur eine Interpretation. Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Pia Lenz, für Alles gut – Ankommen in Deutschland bekam sie 2018 den Grimme-Preis, hat die Beiden, Eva und Dieter, eine ganze Wegstrecke lang begleitet.

Kennen gelernt hatte die Regisseurin die Beiden über eine Zeitungsanzeige. Die Idee zu einer filmischen Betrachtung einer Beziehung im Alter, die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Fürsorge und der Beschäftigung mit dem Abschied und dem Loslassen besteht, hatte sie aber schon, als sie ihre Großeltern betrachten konnte. Bei Eva und Dieter war eine gesunde Distanz vorhanden und gleichzeitig konnte sie sich, da sie mit nur minimaler Ausstattung zu arbeiten pflegt und folglich die Kamera weitgehend selbst führt und auch auf gesetztes Licht verzichtet, auf die kleinen Momente, auf Gesten, auf Zwischentöne konzentrieren.

Eva Simon, geborene Rose und Lehrerin von Beruf, führte seit früher Jugend Tagebuch, das zum Teil auch veröffentlicht worden ist. Den späteren Architekten Dieter Simon lernte sie 1952 kennen. Er war damals 18, sie war 16. Die Beiden wurden ein Paar. Sie heirateten ein paar Jahre später, sie bekamen Kinder. Es wurde nicht alles gut. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass eine Beziehung nur von der Liebe gehalten wird. Dabei mag man Schicksalsschläge und Umorientierungen kaum auf die Waage legen. Dass die Beiden zusammengeblieben sind, mag sogar erstaunen. Ihre Tagebücher gab Eva der Regisseurin erst im Laufe der Begegnung. Wahrscheinlich sahen Eva und Dieter auch die Chance sich vor einer Kamera zu öffnen, auf dass etwas von ihnen bleiben möge. Gerne wären sie den Weg bis zum Schluss gemeinsam gegangen. Leider hatte das Schicksal andere Pläne. Pia Lenz wählte sorgfältig aus, was und wie sie die Beiden je für sich und gemeinsam mit der Kamera aufnimmt. Ihr Ansatz ist dezent und gleichzeitig neugierig. Das Ehepaar begegnete ihr offen und ohne die unschönen Flecken in der Vergangenheit zu verdecken.

Das geschriebene Wort fiel Eva Simon wohl nicht schwer. Ein paar Jahre lang verfasste sie sogar Drehbücher für den deutschen Ableger der Sesamstraße, wie man auf ihrer Webseite, der unter ihrem Mädchennamen immer noch aufrufbar ist, erfährt. Manchmal fehlen jedoch die Worte. Dann greift Lenz auf die Tagebücher zurück, aus denen Nina Hoss aus dem Off Auszüge einspricht. Pia Lenz' Kamera zeigt derweil die Vertrautheit im Zusammenleben. Da braucht es auch keine Erzählung, sondern nur ihren aufmerksamen Blick.

Der Film ist eine Art des Abschiednehmens. Eva, die solange sie nur konnte, weiter Tagebuch führte, wurde schwächer. Die Besuche der Regisseurin wohl seltener. Auf das Drumherum, was das Altern mit sich bringt, insbesondere Pflegekräfte, verzichtet der Dokumentarfilm. Dass sie den fertigen Film nie zu dritt gemeinsam würden anschauen können, wussten alle drei, Eva und Dieter und Pia. Der Tod wird hier nicht ausgeklammert. Die Beschäftigung mit dem Leben, mit dem, was bleibt und dem was dann ist, nimmt die Regisseurin ernst und doch vermittelt sie es auf eine sehr berührende Weise.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Für immer Regie: Pia Lenz Konzept: Pia Lenz Kamera: Pia Lenz, Henning Wirtz Schnitt: Ulrike Tortora Musik: Alexis Taylor, Stella Sommer Mit Eva & Dieter Simon, Nina Hoss (Stimme) Deutschland 2023 87 Minuten Verleih: Weltkino Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 / Hamburg 2023 TMDB

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Wer Museumsfilme mag, sollte sich Vermeer – Reise ins Licht nicht entgehen lassen. Wer es nicht in diese ultimative Vermeer-Ausstellung in Amsterdam dieses Jahr geschafft hat, sollte sich mit dieser Dokumentation trösten. Danach möchte man die einzelnen Häuser, die Bilder von Vermeer ihr Eigen nennen, zu gerne abklappern. Die Kuratoren der Ausstellung haben genau das gemacht. Die Planung war, einen möglichst umfassenden Katalog an Werken des Künstlers zusammenzubringen. Dafür musste das Team bei den anderen Museen anklopfen und dann verhandeln. Diplomatisches Geschick war gefragt, aber nicht immer gegeben. Suzanne Raes' Dokumentation ist quasi ein “Making-of” dieser Ausstellung.

Sie ermöglicht es dem Publikum einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Durchaus mit einem humorvollen Blick. Durchweg neugierig und mitunter richtig spannend. Mit ihrer Hilfe lernen wir die Arbeit der Kuratoren kennen. Wie wählt man Werke aus? Unter welchen Aspekten soll die Auswahl behandelt werden? Was macht man, wenn man einzelne Gemälde nicht bekommt? Bereits dieser Aspekt der Ausstellungsvorbereitung ist faszinierend. Bei Jan Vermeer van Delft (1632 – 1675) kommt nun erschwerend hinzu, dass man, obwohl nur etwa 37 Bilder bekannt sind, ihm nicht alle mit endgültiger Sicherheit zuschreibbar sind.

Darum machte man sich daran, die Werke auf ihre Echtheit hin auf den Prüfstand zu stellen. Die Fragestellung ist, unter anderem: was macht einen Vermeer zu einem Vermeer? Der Film will sich dem Künstler also über seine Kunst annähern. An biografischen Informationen gibt es ja nicht viel. Erkenntnisse über Faltenwürfe der Gewänder sind einfacher zu gewinnen. Dabei ist all das nur eine Perspektive, denn die Ausstellung soll nicht nur den Künstler erklären, sondern neue Aspekte finden und vermitteln. Denn letzten Endes ist eine gute Ausstellung eine, die das Publikum dazu bringt, mit neuen Augen zu sehen.

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Dokumentarfilm Originaltitel: Close to Vermeer Regie & Konzept: Suzanne Raes Kamera: Victor Horstink Montage: Noud Holtman Musik: Alex Simu Mitwirkende Jonathan Janson, Pieter Roelofs, Abbie Vandivere, Betsy Wieseman, Gregor J.M. Weber, Anna Krekeler, Xavier F. Salomon, Lisanne Wepler, Maud van Suylen, Otto Naumann, Thomas S. Kaplan, Annelies van Loon, Taco Dibbits, Adam Eaker, Silke Gatenbröcker, Alexandra Libby, Melanie Gifford Niederlande 2023 79 Minuten Kinostart: 9. November 2023 Verleih: Neue Visionen TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #NeueVisionen #DokFestMünchen2023

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