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Cannes2023

Es ist Geschichte, die das Heute und das Gestern verbindet. Die Archäologie ist, vereinfacht gesagt, eine Wissenschaft, die die Hinterlassenschaften vorangegangener Kulturen und Epochen aufspürt, einordnet und aufbereitet. Dabei geht es nicht nur um spektakuläre Funde wie Büsten, Vasen, Schmuck. Sondern auch darum, wie Menschen gelebt haben. Um ihr Klima, um ihr Handwerk, die Verbindungen untereinander, ihre Lebensgewohnheiten. Es geht um Befunde. Grabräuber zerstören die Grundlage, mit der Archäologen arbeiten. Viele denken auch nicht an Howard Carter, der das Grab von Tutenchamun gefunden hatte, oder Heinrich Schliemann, der nach Troja gesucht hatte, um zwei der berühmtesten Vertreter der Zunft zu nennen, die für ihre Funde bekannt wurden. Die meisten werden vielmehr an Lara Croft und Indiana Jones denken.

Das wird auch die Festivalmannschaft von Cannes erfreut haben. Cannes zeigte 2023, sicherlich um dem Mainstream-Hollywood-Kino eine Bühne zu geben, den letzten Indiana Jones-Film, der kläglich an der Kinokasse um seine Einspielkosten kämpfen musste. Aber eben auch La Chimera der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher. Von Cannes aus ging es auf ein Festival nach dem anderen. Im Kino der Berliner Kulturbrauerei konnte man im Dezember letzten Jahres La Chimera als Eröffnungsfilm des Filmfestivals Around the World in 14 Films bewundern.

Rohrwachers Hauptfigur ist der Brite Arthur. Dessen Darsteller Josh O'Connor ist bis dato dafür bekannt, dass er Prince Charles in der Serie The Crown gespielt hat. Nach La Chimera wird er sicherlich noch öfters rauf und runter besetzt werden. Noch in diesem Monat wird er zum Beispiel in dem Sportdrama Challengers – Rivalen von Luca Guadagnino in einer der Hauptrollen auftauchen. Sein Arthur ist ein Ritter ohne Rüstung, aber in einem hellen Anzug, der sicherlich irgendwann einmal was hergemacht hat, und jetzt von Szene zu Szene mehr und mehr Patina annimmt. Sein Arthur ist von trauriger Gestalt, doch unnahbar und entrückt. Und doch ist es diese Gestalt, die uns in ein Italien in den 80ern führt, und uns etwas über die Frauenschicksale und das Leben der Ärmsten unter den Armen erzählt.

Arthur wäre vielleicht gerne ein Archäologe, aber er ist nur ein Wünschelrutengänger, der die besondere Gabe hat, verborgene Schätze zu finden. Die Handlung führt ihn auf der Reise in ein italienisches Küstenstädtchen ein. Er kommt gerade aus dem Knast und ist immer noch in Trauer um seine Freundin, die aus dem Ort, in dem er nun landet, stammt. Mit seinen alten Kumpels möchte er nichts zu tun haben. Aber er ist für diese leichte Beute. Sie fangen ihn schon am Bahnhof ab.

Arthur ist eine traumwandelnde Gestalt, die zwischen dem Hier und Jetzt und dem Vergangenen feststeckt. Er gehört nun nirgendwo mehr richtig hin. Er hat noch nicht einmal eine Bleibe. Nur einen Bretterverschlag, der an der Stadtmauer klebt. Selbst diese Bleibe scheint sich weder innerhalb noch außerhalb der Stadt und der Geschichte zu befinden. Er besucht die Mutter seiner Freundin und deren zahlreiche Schwestern. Er dockt hier an eine Wahlfamilie nach der anderen an und bleibt doch suchend. Dabei ist es wohl seine Suche, die ihn an die Vergangenheit bindet. Aus der er nie wirklich erwachen kann. Die anderen Figuren wecken ihn scheinbar immer nur kurz auf.

Arthurs Kumpel brauchen ihn derweil, damit er weitere etruskischen Gräber aufspürt. Immer auf der Suche nach dem ultimativen Fund, der ihnen Reichtum oder auch weniger Armut beschere. Die kostbaren Funde wollen sie an einen dubiosen Kunsthändler verscherbeln. Das ist ihr primäres Einkommen und ihr Lebensinhalt. Es sind halt Grabräuber. La Chimera ist darum auch kein Psychogramm, sondern ein Abenteuerfilm und gleichzeitig ein Märchen mit einer Portion italienischem Neorealismus. Letztlich geht es auch Alice Rohrwacher darum, aufzuzeigen, wie wir gelebt haben und wie alles irgendwie zusammenhängt.

Alice Rohrwacher wurde vor 10 Jahren mit dem Film Land der Wunder bekannt. In Cannes gewann der Film über eine deutsch-italienische Familie, die sich abmüht, Honig zu produzieren, den großen Preis der Jury und in München den CineVision-Award. Es folgte 2018 der Film Glücklich wie Lazzaro, über einen jungen Mann, der die harten Bedingungen der Arbeiterschaft mit stoischer Gutmütigkeit erträgt. La Chimera ist nun der dritte Teil dieser Trilogie. Die Frage, ist auch hier, was Vergangenheit bedeuten kann. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeuten für die handelnden Figuren Verschiedenes. Es sind auch verschiedene Trugbilder, die im Titel angegeben Chimären, die sie durch die Handlung begleiten.

Arthur lebt in einer kaum vergangenen Vergangenheit, in der er noch mit seiner Freundin zusammen ist. Rohrwacher verbindet die Szenen der verschiedenen Zeiten so, dass auch das Publikum in ein Gefühl der Gleichzeitigkeit gerät, in dem seine Freundin noch lebt und in der seit Jahrhunderten verborgene Gräber sich ihm wie ein weiterer Weg auftun. Vieles ist hier Traum, vieles ist hier Trauer. Den verstorbenen Seelen, die ihm begegnen, bedeuten unsere Zeitbegriffe nichts. Arthur ist hier eine Orpheus-Gestalt, die uns durch einen magischen Realismus führt, wie ihn die Regisseurin, hier zusammen mit der Kamerafrau Hélène Louvart und der Cutterin Nelly Quettier, ganz eigen ist.

In La Chimera deuten zwar Aufnahmetechnik und Filmmaterial auf die einzelnen Stränge hin, aber das muss einem gar nicht groß auffallen. Vielmehr sollte man sich hier fallen lassen und auf die Geschichte vertrauen, die sich eher nicht rational zusammenfügt und dann erst ihre Frucht und Geschmack freigibt, wenn sie zu Ende gesponnen wurde.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: La chimera Regie: Alice Rohrwacher Drehbuch: Alice Rohrwacher Kamera: Hélène Louvart Montage: Nelly Quettier Mit Josh O'Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Lou Roy-Lecollinet, Giuliano Mantovani, Gian Piero Capretto, Melchiorre Pala, Ramona Fiorini, Luca Gargiullo, Yile Yara Vianello, Barbara Chiesa, Elisabetta Perotto, Chiara Pazzaglia, Francesca Carrain, Valentino Santagati, Piero Crucitti, Luciano Vergaro, Carlo Tarmati, Milutin Dapcevic, Luca Chikovani, Julia Vella, Agnese Graziani Italien / Frankreich / Schweiz 2023 132 Minuten Kinostart: 11. April 2024 Verleih: Piffl Medien Festivals: Cannes 2023 / Telluride 2023 / Toronto 2023 / Zürich 2023 / Around the World in 14 Films 2023 TMDB

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© Eneh

Immer wieder behandelt der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda komplexe Familienbeziehungen. Wobei “komplex” sicherlich mit “schwierig” Hand in Hand geht. In seinem letzten Film, Broker, eine südkoreanische Produktion, den er ebenso wie jetzt Die Unschuld in Cannes vorstellen durfte, ging es um die Adoption und den Kinderwunsch.

Noch bekannter war 2018 sein Film Shoplifters – Familienbande über eine prekäre Wahl-Familie in Tokio, die sich mit Ladendiebstählen über Wasser hält. Oder Nobody Knows von 2004, auch dieser Film wurde in Cannes vorgestellt. Hier wird nach einem wahren Fall die Geschichte von Geschwistern erzählt, die von der Nachbarschaft unbemerkt, allein in einer Wohnung ausharren und auf die Mutter warten. In Like Father, Like Son von 2013 erzählt der Regisseur von zwei Familien, die sich begegnen, als sie erfahren, dass ihre Kinder bei der Geburt vertauscht worden sind.

Die Unschuld hat zumindest im deutschsprachigen Raum eine Bedeutungsverschiebung erfahren. Kaibutsu, so heißt der Originaltitel auf Japanisch, bedeutet, so wie der internationale Titel es auch korrekt übersetzt: Monster. Die scheinbar konträren Titel liegen aber gar nicht so weit auseinander.

Hirokazu Kore-eda erzählt von einem Jungen, der sich selbst immer wieder als Monster sieht. Woher er diese fixe Idee hat, die er kindlich mit einer Horrorvorstellung untermalt, das wird natürlich auch angesprochen, aber der Reihe nach. Minato (gespielt von Soya Kurokawa) bereitet seiner alleinerziehenden, verwitweten Mutter Sorgen. Er wirkt zurückgezogen und unnahbar. Saori, die Mutter wird von Sakura Andô gespielt, wähnt die Ursache in der Schule zu finden. Ein besonders junger Lehrer habe ihren Sohn ungerecht behandelt und auch geschlagen. Hori (Eita Nagayama) wird zwar immer wieder zu einer Begegnung mit der Mutter ins Direktorat dazu geholt, schweigt sich aber aus. Die Direktorin (Yūko Tanaka) setzt auf Schadensbegrenzung und agiert aalglatt höflich und unverbindlich, so dass jede Aussprache und damit Klärung unmöglich scheint.

Hirokazu Kore-eda legt mehrere Fährten aus. Man ahnt, dass die Sicht auf die Figuren und ihre Handlungen trügerisch ist. Man ahnt, dass die Wahrheit eine andere ist. Aber werden die Figuren die Wahrheit finden? Dabei ist eine der frühen Fährten eine, die man kaum wahrnimmt. Der Junge kommt einmal nicht rechtzeitig nach Hause und die Mutter sucht verzweifelt nach ihm. Was geht nur in dem Jungen vor? Das Buch, das übrigens nicht vom Regisseur selbst, sondern von Yûji Sakamoto stammt, der sich bisher hauptsächlich im Serien-Bereich hervorgetan hat, öffnet hier eine Welt als Gegenentwurf für die der Erwachsenen und stellt diese parallel. Doch zuerst bleibt diese Welt für das Publikum verborgen.

Derweil setzt Hirokazu Kore-eda ein zweites Mal an, uns die Geschichte, die scheinbar in der Schule beginnt, zu erzählen. Dabei ist die Schule nur der Mikrokosmos einer Gesellschaft, in der eine Tradition der Höflichkeit Missstände überdeckt. In dem zweiten Drittel des Filmes erfahren wir, wie sich die Handlung aus der Sicht des Lehrers abspielt. Er ist jung, er ist engagiert, er hat Ambitionen und Ideale. Reicht es denn, ohne Fehl zu sein, um einer Anschuldigung gewachsen zu sein? Dabei ist Minato für ihn ein Schüler, von dem er annimmt, dass dieser einen anderen, schwächeren Klassenkameraden, Yori (Hinata Hiiragi), mobbt. Erst das letzte Drittel erzählt sich aus der Perspektive dieser zwei Kinder, gerade mal um die 10 Jahre alt. Kinder, die besonders Erwachsenen ihr Innerstes nicht preisgeben. Kinder, die schweigen, wenn die Erwachsenen sie mit Fragen bedrängen.

Das Monster, das im Titel beschworen wird, ist dabei sowohl Metapher als auch Charakterzug. Das vermeintliche Richtige, dass die Figuren tun, kann das Falsche sein und einem anderen das Leben zur Hölle machen. Das System an sich ist jedoch auch eines, was dieses Monströse begünstigt. Von Unschuld kann kaum die Rede sein. Nur Kinder besitzen noch eine Unschuld, wobei sie noch nicht einordnen können, wie weit Schuld und Unschuld auseinander liegen. Das Monströse der Gesellschaft ist es auch, dass diese Kinder und ihre Unschuld unter Druck setzt.

Hirokazu Kore-eda setzt darauf, dass das Publikum sich seiner Vorurteile bewusst wird und schubst es sanft an, Ereignisse und Beurteilungen zu hinterfragen. Die Unschuld führt die Zuschauenden dabei auf eine ähnliche Reise, wie die Figuren. Dabei hangeln sich die Erkenntnisse durch den Ablauf der Naturgewalten, die sowohl monströs geschehen als auch dabei keinerlei Schuldwert haben. Zwischen einem katastrophalen Feuer und einem alles verschlingenden Wassersturz werden die Figuren Kräften ausgesetzt, denen sie sich stellen müssen.

In Cannes gewann Die Unschuld den Preis für das beste Drehbuch. Darüber hinaus gab man ihm auch den “Queer-Palm”-Preis. Dazu sein erwähnt, dass der Regisseur die Kinder in einem noch bewusst “unschuldig” gehaltenen Alter angesetzt hat. In Deutschland wurde der Film zuerst auf dem Filmfest München vorgestellt. Übrigens handelt es sich bei Die Unschuld, dessen Filmmusik die Handlung überzeugend unterstützt, um die letzte Arbeit des Komponisten Ryūichi Sakamoto.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Kaibutsu Internationaler Titel: Monster Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Yūji Sakamoto Kamera: Ryûto Kondô Montage: Hirokazu Kore-eda Musik: Ryūichi Sakamoto Mit Sakura Andô, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata, Akihiro Kakuta, Shidô Nakamura, Yûko Tanaka Japan 2023 127 Minuten Kinostart: 21. März 2024 Verleih: Wild Bunch Germany Festivals: Cannes 2023 / Karlovy Vary 2023 / München 2023 / Toronto 2023 TMDB

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