Cineneh

Berlinale2022

Cáit (Filmdebütantin Catherine Clinch) ist ein stilles Kind. In ihrer Familie wirkt und wird sie an den Rand gedrängt. Es fehlt an vielem. Die Familie ist arm. Sie ist eine von vier Schwestern und die Mutter ist wieder schwanger. Die Handlung spielt 1981, die Familie lebt auf dem Land. Die Mutter ist überfordert, der Vater schroff. Zuwendung, von Zuneigung mag man gar nicht erst sprechen, fehlt. Cáit ist nicht nur sehr still, sie zieht sich so sehr zurück, dass sie praktisch unsichtbar wird. Wie belastend die familiäre Kälte auf das Kind wirkt, merkt man, wenn man gewahr wird, dass sie sich wieder einmal nachts eingenässt hat.

Es ist den Eltern zu viel. Unvermittelt setzen sie ihr jüngstes Kind bei fernen Verwandten ab. Mit nichts weiter als dem Kleid, das sie gerade trägt. Ohne Erklärung und ohne zu wissen, ob sie irgendwann wieder abgeholt wird, findet sich das Kind in der Fremde wieder. Colm Bairéad nahm sich für seinen ersten Langfilm, zu dem er auch das Drehbuch verfasste, einer Kurzgeschichte an. Foster von Claire Keegan erschien 2010 in dem Magazin “The New Yorker”. Das Publikum erlebt die Ereignisse aus der Sicht von Cáit. Die Kamera von Kate McCullough (aktuell Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry), die für diese Arbeit den Europäischen Filmpreis für die beste Kameraarbeit gewann, engt sich auf das Vollbild 4:3 ein. Cáit ist noch zu sehr Kind, gerade 9 Jahre alt, ihre Sicht umfasst nur ihr nächstes Umfeld. Diese Beschränkung setzt sich in dem Format um. Doch Cáit ist aufmerksam, sie nimmt Dinge und auch Stimmungen wahr.

Ihr Zuhause für diesen Sommer ist auf dem Hof bei einem älteren, kinderlosen Ehepaar, das etwas besser situiert lebt. Mit einem einzigen Satz wendet sich für das Mädchen alles. Eibhlín Kinsella, gespielt von Carrie Crowley, fasst das erste unfassbare Gefühl in Worte. Worte, die hier so selten laut ausgesprochen werden, denn “The Quiet Girl” lebt von Zwischentönen, Gesten, dem Licht, das die Figuren umhüllt, und einem zurückgenommenen Pacing. Sie würde ihr Kind niemals bei Fremden aussetzen, sagt sie dem Kind. Cáit wurde zwar rigoros abgeschoben, doch das erste Mal in ihrem Leben wird sie hier gesehen. Und sehr langsam wagt sie sich aus ihrem Schneckenhaus. Eibhlín umhegt das Mädchen, schenkt ihr all die Liebe, die sie hat. Ihr zurückhaltender Mann Seán (Andrew Bennett) braucht etwas länger. Einfach ist es trotz allem nicht.

Viel mehr muss man gar nicht über diesen Film wissen. The Quiet Girl erzählt sich mit dem Herzen. Es ist ein leiser, ein lyrischer und doch auch vielschichtiger Film, der über die Sinne berührt. Alle Gewerke unterstützen die Darstellenden. Subtil kündigt sich schon früh eine weitere Geschichte hinter der Geschichte an, die das Kind auch bald erspürt. Eine Besonderheit ist, dass Bairéad den Film in Irisch drehte, einer Sprache, die viel zu selten auf der Leinwand zu hören ist. Doch die Hauptsprache von The Quiet Girl ist die Filmsprache, die Stille in vielen Variationen vermittelt. Ohne Worte vermitteln sich Kummer und Trauer. Kälte und Wärme. Auch das Publikum wird stiller und stiller.

The Quiet Girl wurde 2022 im Generation-Programm der Berlinale vorgestellt. Die Kinderjury zeichnete den Film mit einer lobenden Erwähnung aus. Die internationale Jury bedachte das stille Drama gar mit dem großen Preis. Es ist immer wieder erstaunlich welch stimmige, anspruchsvolle und doch leicht zugängliche Filme die Kplus-Sektion des Festivals zusammenzutragen weiß und man fragt sich, warum nicht mehr von genau diesen wunderbaren Filmen es tatsächlich in die Kinos schaffen. Besonders im Bereich Kinderfilm. Colm Bairéad bewies mit seinem Langspielfilmdebüt sein Talent. Seine Arbeit an Dokumentarfilmen bereitete ihn auch darauf vor, die Bilder bis ins Detail auf die Geschichte zu fokussieren. Sein Film eroberte Festival um Festival, gewann nationale und internationale Filmpreise und schaffte es als Irlands Einreichung für den Internationalen Oscar bis in die Nominierungsrunde. Mit einiger Verspätung kommt die Geschichte von Cáit nun doch noch in unsere Kinos.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: An Cailín Ciúin Regie: Colm Bairéad Drehbuch: Colm Bairéad Vorlage: Claire Keegan Kamera: Kate McCullough Schnitt: John Murphy Musik: Stephen Rennicks Mit Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh, Joan Sheehy, Tara Faughnan, Neans Nic Dhonncha, Eabha Ni Chonaola, Carolyn Bracken, Pádraig Ó Se, Breandán Ó Duinnshleibhe, Sean Ó Súilleabháin, Aine Hayden, Elaine O'Hara, Marion O'Dwyer, Jessica Joannides, Roise Crowley, Grainne Gillespie Irland 2022 95 Minuten Verleih: Neue Visionen Kinostart: 16. November 2023 Festivals: Berlinale 2022 TMDB

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