Cineneh

Hamburg2023

Seit kurzem ist Blaga (sehenswert intensiv: Eli Skorcheva) Witwe. Für ihren Mann, er war Polizist von Beruf, will sie einen würdigen Grabplatz erstehen und sie hat auch schon eine ganz genaue Vorstellung, wie das Grab aussehen soll. Der Platz soll auch bald ihre repräsentative Ruhestätte werden. Sie ist bereit ihr ganzes Geld da reinzustecken.

Wie schwierig dieser Plan umzusetzen ist, auch davon handelt Eine Frage der Würde von Stephan Komandarev (Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, 2009), der zeigt, dass der äußere Schein selbst auf dem Friedhof nur durch Korruption erkauft werden kann. Urotcite na Blaga, so der Originaltitel, ist der Abschluss einer Trilogie, die nach Directions – Geschichten einer Nacht (2017) und V krag (International: Rounds, 2019) hiermit ihren Abschluss findet. Komandarev zeichnet mit diesen drei Filmen ein Bild der sozialen und gesellschaftlichen Lage im heutigen Bulgarien.

Die ehemalige Lehrerin hält sich mit Nachhilfestunden über Wasser. Zurzeit hat sie nur eine einzige Schülerin (Rozalia Abgarian), eine junge Frau aus Syrien, die für ihre Einbürgerungsprüfung paukt.

Zur Etablierung der Figur lernen wir Blaga in ihrem Element kennen. Sie lehrt Praxis orientiert und effektiv. Sie reagiert auf Fehler und grammatikalische Regelverstöße streng und gnadenlos. All dies sind Eigenschaften, die sie kaum sympathisch machen. Die auf ihre Stärken und gleichzeitig ihre Schwächen verweisen. Denn im handfesten Alltag hatte sie sich immer auf ihren Mann verlassen, doch nun kommt sie zu Fall. Dass die Welt keine gute ist, ist ein Allgemeinplatz. Blaga wird jedoch all ihres Ersparten und ihrer Würde beraubt. Über das Telefon. Es ist die Trickbetrüger-Masche mit dem Anruf eines vermeintlichen Kriminalbeamten, der sie anweist, bei der Überführung von Dieben mitzuwirken. Dafür braucht es aber ihren monetären Einsatz. Geld, dass sie selbstverständlich zurückbekommen würde. Von wegen.

Es ist kein Zufall, dass der Film in der ostbulgarischen Stadt Schumen spielt. Zu den Sprachlektionen erhält die junge Schülerin auch einen Einblick in die Landeskunde und ihren Heldengeschichten, die direkt an das Publikum weitergereicht werden. Es heißt, dass Bulgarien von hier aus entstanden sei. Die realsozialistische Architektur der Stadt korrespondiert folglich mit der Handlung. Täglich läuft die alte Frau, immerhin schon jenseits der 70, die unzähligen Stufen hinauf zum Denkmal für “1300 Jahre Bulgarien”, dem wohl Größten dieser brutalistischen Gedenkbauten. Es geht bis auf 300 m in die Höhe. Die ganze Stadt ist von dort oben überschaubar, das Denkmal ist bis aus 30 km Entfernung zu sehen. Das Monument feiert jede wichtige Person der bulgarischen Geschichte. Es ist ein Monster von einem Bau und wirkt herrisch mit der Tendenz ins Böse. Wie klein dagegen ist Blaga. Aber sie lässt sich nicht klein machen.

Die bulgarische Einreichung für die internationale Filmauswahl bei den Oscars (er wurde allerdings nicht nominiert), der seine Weltpremiere in Karlovy Vary feierte und auch auf dem Filmfest Hamburg gezeigt wurde, wählte für den internationalen Markt den Titel Blaga's Lessons. Es bleibt eine Frage der Interpretation, ob es wichtiger ist, dass Blaga hier ihren Mitmenschen Lektionen erteilt oder ob ihr solche zuteilwerden.

Treffender ist der deutsche Titel. Dieser lautet Eine Frage der Würde und hebt genau diese hervor. Was ist der Mensch wert in einem kaputten System? Wie kann Blaga ihre Würde verteidigen? Es ist die Stärke des Films, dass diese Frage ambivalent beantwortet wird. Dabei schönt die Geschichte nichts. Das Drehbuch dekliniert einen aussichtslosen Kampf konsequent bis zum Ende und demaskiert dabei auch jede vermeintliche Attitüde.

Unbekannte haben Blaga nicht nur ihr Geld gestohlen, sondern auch ihren guten Ruf. Wie konnte sie nur auf diese Masche hereinfallen? Blaga, die anderen stets ihre Fehler vorhielt, muss nicht nur ihr Weltbild überdenken. Sie hat nichts mehr zu verlieren und wagt einen abseitigen Weg.

Sie setzt eine Anzeige auf, bietet sich als Kurierfahrerin an, und wird tatsächlich von den Schurken kontaktiert, die sie ausgeraubt hatten. Mehr soll gar nicht verraten werden. Blaga ist keine Heldin. Es geht Komandarev und seinem Co-Drehbuchautor Simeon Ventsislavov sichtlich nicht um die Erlösung von dem Bösen und der Überführung seiner Täter. Er zeichnet ein Porträt einer Frau in einem System, das jeden kaputt macht. Auch moralisch. Blaga wähnt sich als gute, aufrechte Bürgerin, die stets das Richtige und das Rechte tut. Das Leben lehrt sie eines Besseren.

Eine Frage der Würde wandelt sich vom gesellschaftlichen Porträt hin zu einem Krimi. Dabei ist es besonders das Schauspiel der Hauptfigur, was heraussticht.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Urotcite na Blaga Regie: Stephan Komandarev Drehbuch: Simeon Ventsislavov, Stephan Komandarev Kamera: Vesselin Hristov Montage: Nina Altaparmakova Musik: Kalina Vasileva Mit Eli Skorcheva, Gerasim Georgiev, Rozalia Abgarian, Ivan Barnev, Stefan Denolyubov, Ivaylo Hristov Bulgarien / Deutschland 2023 114 Minuten Kinostart: 25. Januar 2024 Verleih: Jip Film Festivals: Karlovy Vary 2023 / Sarajevo 2023 / Hamburg 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #JipFilm #Hamburg2023

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L.o.l.a. ist eine Maschine. Genauer gesagt: L.o.l.a. ist eine Zeitmaschine. Sie wurde von den Schwestern Hanbury konstruiert.

Nach dem Tod der Eltern leben Thomasina (Emma Appleton) und Martha (Stefanie Martini) allein in einem Landhaus und sind sich selbst genug. Und dann ist da noch “Lola” oder auch L.o.l.a. Die Maschine besteht aus einer großen aufgehängten Platte, auf der man Bilder empfangen kann.

Unterhaltungssendungen aus der Zukunft entfachen plötzlich mitten im Weltkrieg die David-Bowie-Manie bei ihren Erfinderinnen. Doch was zuerst Vergnügen bereitet, bedeutet alsbald Verantwortung von den Beiden. Der Krieg fordert seinen Tribut, Luftgeschwader der Deutschen bedrohen auch die Zivilbevölkerung. Mit Hilfe der Zeitmaschine wissen die Schwestern, wann und wo es zu Angriffen kommen wird. Rechtzeitig übermitteln sie Warnungen via Funk.

Es heißt aber nicht von ungefähr, dass man sich bei Zeitreisen nicht in den Verlauf der Geschichte einmischen sollte. Jetzt ist die Implikation, wie die Zukunft verlaufen wird, für die Schwestern nur eine wage Möglichkeit, die ihnen bis zu einem gewissen Punkt nur Vergnügen bereitet hat.

Das Drehbuchteam von Regisseur Andrew Legge und Angeli Macfarlane bindet das Wissen des Publikums über den Verlauf des II. Weltkrieges und der Pop-Geschichte der Nachkriegszeit mit ein. Ohne zuerst zu wissen, inwiefern sich die Zukunft durch ihre Einmischung verändert, fuschen sie der Weltgeschichte “as wie know it” gehörig ins Handwerk. So sehr, dass sie zwar anfangs Menschenleben retten, aber Großbritannien mehr und mehr den Krieg zu verlieren droht.

Es kommt noch ärger: Insbesondere Thomasina verfällt ihrer Maschine und ihr gefällt die Macht, die sie erlangt. Andrew Legge versucht sein Gedankenexperiment, das visuell aufwendig gestaltet wurde und wahrlich fasziniert, hier auf einen philosophischen Kurs zu bringen. Ab wann verliert man die Kontrolle über das, was man tut, und ab welchem Punkt verliert man den ethischen und den moralischen Kompass? Was ist eine Zukunft wert, wenn es Stanley Kubrick, Bob Dylan und David Bowie so nie gegeben haben wird? Wenn alle Popsongs lyrisch stattdessen feuchte Nazi-Träume bedienen?

Lola ist als Mockumentary aufgezogen. Zum einen drehte das Filmteam über weite Strecken mit einer Bolex 16 mm, damit alles so aussieht, als wären wir wirklich in den 40er Jahren. Jede Menge Found Footage wurde erstellt. Handfestes Archivmaterial wurde mit eingebunden und teilweise verfremdet und es passt höllisch genau.

Andererseits bricht das Material auch immer wieder den Erzählfluss. Legge variiert hier einen seiner Kurzfilme. In The Chronoscope von 2009 hatte er einen Wissenschaftler erfunden, der mit einer Maschine in die Vergangenheit schauen konnte. Was Andrew Legge aber auch ausklammert, ist, dass seine alternative Wirklichkeit eigentlich mehr als ein paar handelnde Figuren haben müsste. Er konzentriert sich auf die Maschine und die beiden Schwestern. Es gibt keine Bevölkerung im Widerstand. Es gibt scheinbar überhaupt keinen Widerstand.

Die Ereignisse bedrohen schließlich auch das Schicksal der Schwestern. Eine Figurenentwicklung aus sich selbst heraus bleibt halbherzig. Eine angedachte Romanze überzeugt wenig. Dass ausgerechnet eine queere Figur auf die falsche Seite geraten könnte, verärgert sogar ein bisschen. Dass angedachte Fragestellungen nach der Wichtigkeit von Kultur und Wissenschaft irgendwann zugunsten von Spionage-Allerlei und Actionszenen vernachlässigt werden, ist bedauernswert. Andrew Legge möchte aus der Nummer herauskommen, indem er alle Änderungen rückgängig macht. Alles auf Anfang sozusagen. Nach Zeitreiselogik sollte das aber nur in parallele Wirklichkeiten führen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Lola Regie: Andrew Legge Drehbuch: Andrew Legge, Angeli Macfarlane Kamera: Oona Menges Montage: Colin Campbell Musik: Neil Hannon Mit Stefanie Martini, Emma Appleton, Hugh O'Connor, Rory Fleck Byrne, Aaron Monaghan, Ayvianna Snow, Philip Condron, Shaun Boylan Irland / Großbritannien 2021 79 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Neue Visionen Festivals: Hamburg 2023 / Sitges 2023 TMDB

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Der Dokumentarfilm Für Immer hat ein sehr schlichtes Plakat. Zwei Menschen sind darauf in Nahaufnahme zu sehen. Sie und er. Es zeigt sowohl, dass die Beiden sich stützen, als auch dass sich Beide eine Unabhängigkeit bewahrt haben. Vertrautheit liest man aus der Pose heraus, doch gleichzeitig wirkt es, als hätten beide etwas Eigenes dazu zu sagen. Vielleicht ist das auch nur eine Interpretation. Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Pia Lenz, für Alles gut – Ankommen in Deutschland bekam sie 2018 den Grimme-Preis, hat die Beiden, Eva und Dieter, eine ganze Wegstrecke lang begleitet.

Kennen gelernt hatte die Regisseurin die Beiden über eine Zeitungsanzeige. Die Idee zu einer filmischen Betrachtung einer Beziehung im Alter, die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Fürsorge und der Beschäftigung mit dem Abschied und dem Loslassen besteht, hatte sie aber schon, als sie ihre Großeltern betrachten konnte. Bei Eva und Dieter war eine gesunde Distanz vorhanden und gleichzeitig konnte sie sich, da sie mit nur minimaler Ausstattung zu arbeiten pflegt und folglich die Kamera weitgehend selbst führt und auch auf gesetztes Licht verzichtet, auf die kleinen Momente, auf Gesten, auf Zwischentöne konzentrieren.

Eva Simon, geborene Rose und Lehrerin von Beruf, führte seit früher Jugend Tagebuch, das zum Teil auch veröffentlicht worden ist. Den späteren Architekten Dieter Simon lernte sie 1952 kennen. Er war damals 18, sie war 16. Die Beiden wurden ein Paar. Sie heirateten ein paar Jahre später, sie bekamen Kinder. Es wurde nicht alles gut. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass eine Beziehung nur von der Liebe gehalten wird. Dabei mag man Schicksalsschläge und Umorientierungen kaum auf die Waage legen. Dass die Beiden zusammengeblieben sind, mag sogar erstaunen. Ihre Tagebücher gab Eva der Regisseurin erst im Laufe der Begegnung. Wahrscheinlich sahen Eva und Dieter auch die Chance sich vor einer Kamera zu öffnen, auf dass etwas von ihnen bleiben möge. Gerne wären sie den Weg bis zum Schluss gemeinsam gegangen. Leider hatte das Schicksal andere Pläne. Pia Lenz wählte sorgfältig aus, was und wie sie die Beiden je für sich und gemeinsam mit der Kamera aufnimmt. Ihr Ansatz ist dezent und gleichzeitig neugierig. Das Ehepaar begegnete ihr offen und ohne die unschönen Flecken in der Vergangenheit zu verdecken.

Das geschriebene Wort fiel Eva Simon wohl nicht schwer. Ein paar Jahre lang verfasste sie sogar Drehbücher für den deutschen Ableger der Sesamstraße, wie man auf ihrer Webseite, der unter ihrem Mädchennamen immer noch aufrufbar ist, erfährt. Manchmal fehlen jedoch die Worte. Dann greift Lenz auf die Tagebücher zurück, aus denen Nina Hoss aus dem Off Auszüge einspricht. Pia Lenz' Kamera zeigt derweil die Vertrautheit im Zusammenleben. Da braucht es auch keine Erzählung, sondern nur ihren aufmerksamen Blick.

Der Film ist eine Art des Abschiednehmens. Eva, die solange sie nur konnte, weiter Tagebuch führte, wurde schwächer. Die Besuche der Regisseurin wohl seltener. Auf das Drumherum, was das Altern mit sich bringt, insbesondere Pflegekräfte, verzichtet der Dokumentarfilm. Dass sie den fertigen Film nie zu dritt gemeinsam würden anschauen können, wussten alle drei, Eva und Dieter und Pia. Der Tod wird hier nicht ausgeklammert. Die Beschäftigung mit dem Leben, mit dem, was bleibt und dem was dann ist, nimmt die Regisseurin ernst und doch vermittelt sie es auf eine sehr berührende Weise.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Für immer Regie: Pia Lenz Konzept: Pia Lenz Kamera: Pia Lenz, Henning Wirtz Schnitt: Ulrike Tortora Musik: Alexis Taylor, Stella Sommer Mit Eva & Dieter Simon, Nina Hoss (Stimme) Deutschland 2023 87 Minuten Verleih: Weltkino Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 / Hamburg 2023 TMDB

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