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Aus dem Archiv von 2000

Anlässlich des Kinostarts von Gondola teile ich ein Interview mit dem Regisseur Veit Helmer zu seinem ersten Langspielfilm Tuvalu.

Ein Ort in einer anderen Welt. In einer verlassenen Stadt steht ein verfallenes Schwimmbad. Anton, der Bademeister und Martha, die Kassiererin, verwenden allerlei Tricks, um dem blinden Vater von Anton den Eindruck zu vermitteln, das Schwimmbad wäre voller tobender Kinder. Deren Lachen und Plantschen kommt vom Band. Doch es gibt noch mehr zu tun. Das Dach leckt, die Rohre schwitzen, die Kacheln fallen von den Wänden. Antons Bruder Gregor hat sich fest vorgenommen, der Stadt den Fortschritt zu bringen und das alte Schwimmbad abzureißen. Als sich Anton in die junge Eva verliebt, die regelmäßig das Schwimmbad besucht, da ist Gregors Ehrgeiz, gegen Anton zu intrigieren, noch größer. Bis sich Anton und Eva auf einem alten Schleppkahn Richtung Tuvalu aufmachen können, passiert so einiges.

Tuvalu ist ein Traum. Ein Märchen, das man sich gerne jeden Abend erzählen läßt. Veit Helmer hat sich allerhand einfallen lassen, um seinem ersten langen Spielfilm eine eindeutige Handschrift zu geben und den Zuschauer in eine andere Welt zu versetzen, die auch spannend bleibt, wenn die Handlung selbst nicht so kompliziert ist.

Helmer wurde 1968 in Hannover geboren. Bereits als 14jähriger drehte er mit einer Super-8-Kamera und nach der Schule arbeitete er sogleich als Regieassistent. Noch vor dem Mauerfall ging Helmer nach Ost-Berlin um dort mit einem DAAD-Stipendium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch zu studieren. Später besuchte er die Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mit seinen Kurzfilmen besuchte er fast alle Festivals der Welt. Mit Veit Helmer sprach ich Ende April, kurz bevor er nach Ungarn auf ein Filmfestival reiste, von wo er erwartungsgemäß mit dem Hauptpreis abreisen konnte.

In den meisten Filmen ist sehr wenig Kino. Ich nenne das “fotografieren von redenden Leuten”. Wenn man im Kino eine Geschichte erzählt, sollte man nur Dialog verwenden, wenn es nicht anders geht. Man sollte dem Visuellen immer den Vorrang vor dem Dialog geben. – Alfred Hitchcock

Gerade hat man Dich nach Győr zum Mediawave Festival eingeladen. Was hältst Du von Filmfestivals?

Als ich das letzte Mal in Győr war, habe ich einen Ausstatter kennengelernt, den Cristi Niculescu. Der war auch der Ausstatter von Train de Vie. Damals suchte er deutsche Wehrmachts-LKWs. Ich recherchierte für ihn hier in Deutschland, und er hat im Gegenzug für mich rumänische Schwimmbäder abgeklappert. Ich habe dann letztendlich in Bulgarien gedreht, aber er hatte gute Arbeit geleistet. Er hat mir auch den Kontakt zu einem Casting-Direktor, Todor Giorgu, vermittelt. Durch Todor fand ich wiederum die Darstellerin für die Kassiererin in Tuvalu, Cătălina Murgea. So kommen Sachen zustande, man schließt Freundschaften. Ich freue mich auf Festivals, weil es da noch Möglichkeiten gibt, Leute kennenzulernen.

Im Presseheft zu Tuvalu zitierst Du Truffaut, Rossellini und Hitchcock. Wer sind Deine Vorbilder?

Ich hätte auch Zitate von Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone nehmen können. Es ging mir um die Bedeutung der Zitate, die haben natürlich, da sie von Hitchcock und so stammen, einen größeren Wert. Es geht um das Visuelle. Ich möchte keine Diskussion darüber führen, warum der Film keine Dialoge hat. Das interessiert mich nicht. Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, und das besagen die Zitate. Wenn so bedeutende Filmschaffende so etwas sagen, braucht man vielleicht gar nicht mehr groß darüber debattieren.

Filme sollten gedreht werden, um zu zeigen, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die unsere Freunde sein könnten, mit denen wir uns wunderbar verstehen könnten. – Roberto Rossellini

Das, was Rossellini gesagt hat, geht noch auf eine ganz andere Sache zurück. Es ist der Aspekt, daß ich mit Menschen aus vielen verschiedenen Ländern zusammengearbeitet habe. Der Film kann, um es mal in nostalgisch real-sozialistischen Worten auszudrücken, der Völkerverständigung dienen. Eigentlich etwas Wunderschönes. Wir haben in Sofia gedreht und die Crew kam aus Amerika, aus Russland, aus Deutschland und aus Bulgarien. Drei Monate waren wir auf engstem Raum in einem kleinen Schwimmbad tätig und haben uns wunderbar verstanden.

Du bezeichnest Osteuropa als eine große Chance für den deutschen Film. Ist das nicht ein bißchen idealistisch gedacht?

Das ist überhaupt nicht idealistisch, das ist rein praktisch ausgedrückt. Lass es mich so sagen: der deutsche Film hat auf dem Weltmarkt ein recht schlechtes Ansehen. Man kennt noch Rainer Maria Fassbinder, Werner Herzog, Wim Wenders oder Volker Schlöndorff. Tom Tykwer hat jetzt etwas bewegt, und vielleicht wird der Ruf des deutschen Filmes jetzt wieder besser, aber der französische Verleiher von Tuvalu wird meinen Film als bulgarischen Film herausbringen. Ein bulgarischer Film wird in Frankreich besser angesehen als ein deutscher. Zum Teil hat der Weltmarkt auch recht. In Deutschland ist so viel Schlechtes entstanden, Filme, die kein Mensch im Ausland sehen möchte. Dem gegenüber hat in Osteuropa eine Umwälzung stattgefunden, die interessante Geschichten ermöglicht. Das wäre wesentlich interessanter, als Filme über irgendwelche Wohngemeinschaften, Designerliebhabereien und ähnliche Marotten. Mich interessiert es im Moment, mit Autoren aus Osteuropa zusammenzuarbeiten. Dort spricht man noch über die Dinge, die das Leben stärker tangieren.

Was bedeutete Dein Film für die bulgarische Filmwirtschaft?

Na ja, so zynisch das klingen mag, mein Film gab dort 50 Leuten Lohn und Brot. Das bedeutete für Menschen, daß sie erst mal zu essen hatten. Es ist zum Teil traurig, daß, wenn man Komparsen sucht, die ganze Straße voll mit Leuten ist. Sogar Schauspieler und Regieassistenten bewerben sich für einen Job als Komparse. Zur gleichen Zeit hat Régis Wargnier in Bulgarien Teile von Est-Ouest gedreht, aber im Unterschied zu ihm habe ich den Bulgaren auch zugetraut, Hauptrollen zu spielen. Ich habe den Leuten vor Ort die Kameraführung, die Kostümgestaltung und die gesamte Tongestaltung anvertraut. Ich habe keine Assistenten gesucht und deren Position dann mit den Chefs besetzt. Nein, statt dessen habe ich kein Team von hier mitgenommen, sondern habe mit Leuten von dort gearbeitet. Bevor ich den Film gedreht habe, habe ich dort gelebt und die Leute kennengelernt. Ich habe mir ihre Filme angeschaut. Ich habe Kameraleute nach Deutschland eingeladen und mit ihnen hier Werbeclips gedreht. So habe ich mir ein Team zusammengesucht, mit dem ich menschlich gut klarkomme. Eine Grundvoraussetzung allerdings war, und viele Bulgaren konnten dem nicht genügen, daß meine Mitarbeiter Sprachen konnten. Man hatte mich gewarnt. Ich würde betrogen und beklaut werden, und die Leute wären faul. Ich wurde nicht betrogen, ich wurde nicht belogen, ich wurde nicht beklaut, die Leute haben sehr hart gearbeitet und die Mafia hat sich bei mir auch nie vorgestellt. Im Rückblick habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Und, daß manchmal die Dinge nicht so laufen, weil man dort den Dingen gegenüber eine andere Haltung hat, das ist klar. Darauf muß man sich einstellen. Das sind aber auch Dinge, die dem Film zugute kommen. Zum Beispiel ist eine bestimmte Technik nicht vorhanden. Also muß man sich mit Dingen behelfen, die vor Ort vorhanden waren.

Ich kenne noch Deinen Kurzfilm Surprise!. Du hast einen sehr eigenen Humor, die Handlung hat etwas Slapstickhaftes.

Eigentlich habe ich auf Deine Frage nach den Vorbildern nicht geantwortet. Ich meine, seitdem ich sechs Jahre alt war, gehe ich leidenschaftlich gerne ins Kino. In den 70er Jahren wurden die ganzen Charlie Chaplin-Filme restauriert ins Kino gebracht. Ich habe sie mir damals alle angeguckt. Ich sehe sehr gerne die Filme von Alfred Hitchcock und von François Truffaut. Ich schaue mir auch gerne Filme aus Osteuropa an. Momentan sind es die Filme von Emir Kustorica, die für mich Kino spannend machen, und nicht die Filme aus Amerika. Luna Papa, der demnächst bei uns ins Kino kommt, halte ich für absolut sehenswert. Ein Film wie dieser bereichert mich auch als Menschen. Aber als ich Tuvalu gemacht habe, gab es für mich kein direktes Vorbild. Ich hatte eine Idee für eine Geschichte, und ich wußte schon sehr früh, daß diese Geschichte eine besondere Form benötigen würde. Ich wollte eine visuelle Form, in der kein Dialog zum Transport der Handlung beitragen sollte. Dialog sollte eher eine lautmalerische Funktion innehaben. Ich wollte mit dieser Form vielleicht Erinnerungen an das bisherige Kino wachrufen, aber das Kino an sich noch ein Stückchen nach vorne bringen. Ich möchte mich eher als Visionär bezeichnen, als einer, der zurückblickt.

Erzähle mir von der Arbeit am Drehbuch!

Die Idee zu dem Film hatte ich schon vor 12 Jahren. Dann habe ich erst einmal meine Kurzfilme gemacht. Vor fünf Jahren lernte ich die Autorin Michaela Beck kennen und ihr stellte ich verschiedene Ideen vor. Sie war von der Geschichte mit dem Schwimmbad am meisten begeistert. Damals war die Story noch anders. Erst in der Zusammenarbeit mit Michaela Beck entstand das eigentliche Drehbuch zu Tuvalu. Sehr früh entstand auch ein Storyboard. Der Film wurde komplett gezeichnet, noch vor dem ersten Drehtag wurden 1200 Bilder angefertigt. Jetzt sind aber Dreharbeiten immer mit Tücken verbunden. Permanent muß man umdenken, weil Dinge nicht so sind, wie man sie haben wollte. Vögel fliegen nicht so wie sie sollen. Die alte Frau im Becken konnte nicht schwimmen. Der Polizist konnte nicht Radfahren und der Chauffeur konnte nicht Auto fahren. Im technischen Bereich wäre ein Beispiel, daß es für die Unterwasseraufnahmen in Bulgarien keine Cinemascope-Optiken gab. Daraus entwickelt man eine Lösung, die vielleicht viel schöner ist, als das, was man sich im vorhinein überlegt hatte. Eins darf ich nicht vergessen: der Einfluß der Schauspieler ist ungemein wichtig. Ich hatte eine Vorstellung von den Figuren, aber die waren sehr zweidimensional. Erst die Schauspieler bringen eine Lebendigkeit hinein. Mit den Darstellern hatte ich großes Glück. Ich habe in 14 Städten gecastet, habe über 1200 Schauspieler gesehen. Da stehen ganze Aktenordner mit Photos im Regal.

Mit Deinen Kurzfilmen hattest Du eine große Resonanz, aber im Grunde genommen bist Du ein Debütfilmer. Du kommst aus Deutschland, hast nicht viel Geld. Wie hast Du das alles auf die Beine stellen können?

Also, der Schlüssel zum Erfolg ist sicherlich, daß man besessen ist. Es ist ganz wichtig, daß man an etwas glaubt und sich selbst nicht davon abbringen läßt, daß das, was man macht, gut ist. Wenn man anfängt zu zweifeln, wird man nicht mehr nach außen hin transportieren können, daß es Sinn macht, dafür tätig zu sein. Man muß die Leute begeistern und sie motivieren, für einen zu arbeiten. Ich mache ja keine Animationsfilme, wo ich allein in meiner Kammer zeichne. An diesem Film haben über 100 Leute in den verschiedensten Funktionen mitgewirkt.

Aus vielen Ländern.

Das war ein absolute Pluspunkt. Jemand wie Denis Lavant sucht das Ungewöhnliche und Schwierige. Ich denke, daß es Leute gab, die nicht an dem Film mitarbeiten wollten, denen das Projekt zu riskant erschien, auch künstlerisch. Es gab Schauspieler-Agenturen, die nicht mit mir zusammenarbeiten wollten, weil sie meinten, ich würde die Schauspieler zu lange vom Markt nehmen. Die Dreharbeiten dauerten ja doppelt so lange, wie andere Filme. Deutsche Schauspieler können in der Zeit drei Fernsehfilme abdrehen.

Es kommen natürlich ein paar Flugtickets zusammen, wenn man durch 14 Länder reist, aber wenn ich in Deutschland einen Casting-Direktor beauftragt hätte, wäre mir das teurer gekommen. So habe ich meine Videokamera genommen und in den Goethe-Instituten Schauspieler aufgenommen. Wenn mich zum Beispiel ein Goethe-Institut eingeladen hat, meine Kurzfilme zu zeigen, dann konnte ich nachmittags die Zeit nutzen und Schauspieler treffen. Mit Surprise! bin ich auf 130 Festivals gewesen. Da kann man ab und zu für seinen nächsten Film Kontakte klar machen. Während ich jetzt mit Tuvalu unterwegs bin, habe ich auch schon mein nächstes Drehbuch im Reisegepäck.

Hattest Du mit der Entscheidung, in Bulgarien zu drehen, auch schon beschlossen, auf moderne Technik zu verzichten?

Der Film erzählt ja von dem Verschwinden des Alten. Eigentlich ist es fast schon ein Pamphlet für das Analoge, für das Aussterbende. Es bringt den alten Dingen eine große Liebe entgegen. Die Moderne wird mehr in ein lächerliches Licht geworfen. Mich interessiert dieses unmenschliche Digitale nicht. Eine digitale Information ist immer Null oder Eins. Das Analoge ermöglicht Zwischentöne. Ich ziehe einen handgeschriebenen Brief einer E-mail vor, ich freue mich über jede alte Vinylschallplatte und ärgere mich über den Klang von Compact Discs.

Welche Schwierigkeiten hattest Du dann vor Ort, und welche Chancen ergaben sich durch die alte Technik?

Wir benutzten Arg-Scheinwerfer, die machen wunderschönes Licht und sind viel weicher als die modernen Kompakt-Brut-Scheinwerfer. Die muß man noch mit Kohle laden und dafür braucht es zwei Beleuchter. Alle 20 Minuten muß man sie ausstellen und dann wieder neu feuern. Solche Scheinwerfer wurden in Hollywood in den 30er Jahren benutzt und seitdem auch dort nicht mehr, weil es sehr arbeitsintensiv ist, aber das Licht ist seit Sternberg nie mehr so schön gewesen. Mein Film hält den Vergleich nicht stand, aber mit Arg-Scheinwerfern kann man tatsächlich wieder das Licht erreichen, das alle seit 50 Jahren wieder hinzukriegen versuchen.

Du hast zudem mit Schwarzweißmaterial gearbeitet.

Kodak und Illford sind die einzigen Hersteller, die das noch haben. Es ist nicht so kompliziert, das zu bestellen. Und in Osteuropa gibt es eine bessere Infrastruktur, was die Kopierwerksarbeiten betrifft, als in Deutschland. Hier gilt das als Rarität und es wird ein Aufpreis bei der Entwicklung verlangt. Ich kam in der Hinsicht also günstiger weg.

Hinterher hast Du den Film eingefärbt. Wodurch hast Du dich dabei leiten lassen?

Wie so vieles, entstand das nicht einem kreativen Mastermind, sondern es waren Zwänge und Notwendigkeiten, die mich darauf gebracht haben. Ich wollte mit Chulpan Сhamatova drehen, die ich in Moskau entdeckt hatte. 1998 lief ein Film mit ihr, Strana Gluchich (Das Land der Gehörlosen) von Waleri Todorowski, auf der Berlinale, und über Nacht wurde sie zum Star. Damals wurde sie auch von Bachtijor Chudoinasarow für Luna Papa verpflichtet und so konnte ich nur drei Monate im Sommer mit ihr arbeiten. Der Sommer war aber für das Konzept des Filmes äußerst abträglich. Ich suchte doch eine kalte graue Stimmung. Ich wollte diese Tristesse im Kontrast zu dem warmen Schwimmbad setzen. Nach einigen Tests meines Kameramannes haben wir uns für Schwarzweiß entschieden, doch wir wollten keinen retro-nostalgischen Film machen noch dazu ohne Dialoge und dann auch noch in Schwarzweiß. Das wäre der Idee des Visionären total schädlich gewesen. Darum haben wir das Schwarzweiß-Negativ auf Farb-Positiv umkopiert. Auf einmal hat man dann die totale Freiheit, wie ein Maler kann man mit allen Farbtönen auf der Palette spielen. Ehrlich gesagt, habe ich erst nach dem Dreh, sogar nach dem Schnitt entschieden, welche Szene welchen Ton bekommen sollte. Ich habe hier ein kleines Arbeitszimmer mit einer kleinen Videoschnittanlage, im Kopierwerk wäre das teuer gewesen, und da habe ich Szene für Szene verschiedenfarbig eingefärbt. Ich kam dann auf die Idee, daß ich den Räumen Farben zuordne. Draußen sollte es eine kühl gräulich-bläuliche Tönung geben, der Keller sollte rötlich sein, dem bösen Bruder ordnete ich eine grünliche Farbe zu und so weiter. Eine Menge Arbeit, und dann mußte das auf Film nachvollzogen werden. Da haben wir hier in Berlin bei Geyer mehrere Wochen gesessen, bis auf der Leinwand das zu sehen war, was ich mir im Kopf ausgedacht hatte.

Zuerst merkt man es nicht, doch dann setzt sich dieses monotone Pochen im Hinterkopf fest. Der Klang der Imperial-Maschine, das Herzstück des Schwimmbades und des Filmes.

Die Maschine ist fast schon ein Hauptdarsteller des Filmes. Sie ist die Seele des Schwimmbades, und am Ende wird sie auch mitgenommen. Das hat eine fast schon religiöse Bedeutung. Der Körper des Schwimmbades stirbt, aber die Seele lebt auf dem Boot von Eva weiter. Diese Maschine wurde mit viel Liebe gestaltet und sie hat sich beim Dreh wunderschön bewegt, aber sie hatte einen Elektromotor. Ihr Klang wurde tatsächlich erst in der Postproduktion von einem Sounddesigner kreiert. Da haben wir dann mit Computern arbeiten müssen. Es war ein ungeheurer Aufwand, über 100 Minuten eine komplexe Tonebene zu gestalten, die einen vergessen macht, daß nicht geredet wird. Wir hatten unzählige Tonspuren mit Musik, Geräuschen, Atmosphären, Sprache, Sprachsynchro, Töne vom Drehort. Der Ton hat länger gedauert als die Dreharbeiten.

Eine Frage zu Eva. Die Geschichte ist ja nicht höllisch kompliziert. Da gibt es den guten und den bösen Bruder. Dann ist da Eva, und ich fragte mich, warum sie jetzt so gemein ist, und dem guten Bruder das für ihn Allerwichtigste zu stehlen und dabei hat sie noch nicht einmal Gewissensbisse.

Muß ich jetzt etwas dazu sagen? Ich finde, das macht die Schönheit der Figur aus. Chulpan hat etwas, was viele mit Audrey Hepburn vergleichen. Schau Dir Wie klaut man eine Million von William Wyler an. Chulpan ist immer dann am Verführerischsten, wenn sie zu lügen und betrügen anfängt.

Hast Du ihr die Rolle auf den Leib geschrieben?

Die Rolle stand bereits im Buch, aber erst beim Drehen setzt man Akzente. Da wird aus einer kurzen Nebenhandlung etwas Größeres, wenn man sieht, mit welcher Lust sie ins Schwimmbad einsteigt und den Kolben klaut. Chulpan entwickelt eine wahnsinnige Aura, wenn die Kamera sich auf sie richtet, sie versetzt den ganzen Raum unter Elektrizität, nimmt alle Umstehenden in ihren Bann. Das kann man als Regisseur später am Schneidetisch entdecken und es verwenden. Ich habe sehr früh gemerkt, daß Chulpan für diese Rolle fantastisch geeignet ist, darum habe ich auch sehr viel um sie gekämpft. Sie hatte viele Angebote, für meinen Film hat sie eine Theaterrolle bei Peter Stein ausgeschlagen, obwohl sie eine absolute Theaterfanatikerin ist. Ich hatte andere Schauspielerinnen gecastet, in Amerika und in Frankreich, und trotzdem denke ich, daß ich mit ihr einen absoluten Glücksgriff gemacht habe.

Dein nächstes Projekt hast Du mit Emir Kustoricas Drehbuchautoren Gordan Mihić erarbeitet. Erzähl mal was davon!

Gordan Mihić habe ich vor fünf Jahren getroffen. Ich war nach Belgrad geflogen, um Kurzfilme zu zeigen. Damals hatte ich ihn angerufen und ihm ein Projekt vorgeschlagen. Er hat sich dann meine Kurzfilme angeschaut und war eigentlich sehr angetan, wollte aber erst einmal eine längere Zeit mit mir verbringen, um meine künstlerischen Intentionen kennenzulernen. Wir waren dann beide zufälligerweise im gleichen Jahr in Cannes. Er mit Someone Else's America von Goran Paskaljević und ich mit Surprise!. Wir haben beide damals den Publikumspreis bekommen. Das haben wir damals als glückliches Zeichen gedeutet und wir haben uns dann eine Woche lang zusammengetan und an Geschichten gearbeitet. Es war ganz schnell klar, daß wir einen Film machen wollten, der an einem Flughafen spielt. Wir gehen in den Untergrund des Flughafens, dort wo die Maschinen stehen, wo die Arbeiter, Gepäckträger und Putzfrauen arbeiten. Wo sich Menschen aus Indien, Russland und Afrika treffen und versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Wir zeigen den Flughafen, so wie ihn Passagiere nicht kennen. Fließbänder und Rohre. Grundsätzlich mag ich es, an einem Ort zu drehen, diesen Ort dann, wie dieses Schwimmbad in Tuvalu, von allen möglichen Seiten zu beleuchten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Eneh

Tuvalu Deutschland 1999 Regie & Produktion: Veit Helmer Drehbuch: Veit Helmer & Michaela Beck Kamera: Emil Christov Produktionsdesign: Alexander Manasse Ausstattung: Prolet Georgieva Kostüme: Boriana Mintcheva Schnitt: Araksi Muhibian Ton: Svetlozar Georgiev Tondesign: Jörg Theil Musik: Jürgen Knieper Mit Denis Lavant, Chulpan Сhamatova, Philippe Clay, Terrence Gillespie, E.J. Callahan, Djoko Rossich, Cătălina Murgea, Todor Georgiev. 92 Minuten Verleih: Buena Vista International

Das Interview wurde von Elisabeth Nagy am 26. April 2000 in Berlin geführt.

Aus dem Archiv: Das Gespräch wurde 2000 unter anderem im [030] Magazin (in gekürzter Form) und im Fanzine May Way, Ausgabe #49, publiziert. Online sind die Artikel nicht verfügbar. Der Text wurde bis auf Verlinkungen nicht verändert und ist darum auch nicht gegendert.

#AusDemArchiv #Interviews #Filmgespräche

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Sebastian Horn wurde Ende der 90er auf einem Schlag als Sänger der Bananafishbones bekannt. Gerd Baumann kennt man als Filmmusikkomponist. Für die Musik zu Wer früher stirbt ist länger tot bekam er damals den deutschen Filmpreis. Dessen Regisseur ist Marcus H. Rosenmüller. Hier wird er Rosi genannt. Horn und Baumann gründeten 2012 Dreiviertelblut, ein Duo. Inzwischen ist man ein Septett, aber es sind die beiden, die sich zum Beispiel in einer verlassenen Holzhütte im Winterwald treffen.

Während Rosi und Horn schon über die Zeit und das Vergehen philosophieren, landet Baumann mit dem Raumschiff und stapft im Weltraumanzug herein. Das ist natürlich inszeniert, spiegelt aber trefflich eine Philosophie und einen Schalk, den die Musik von Dreiviertelblut ausmacht. Die Kamera führt dabei Johannes Kaltenhauser, ein Kommilitone von Rosenmüller und sein Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen ist auch so ein Geheimtip unter den Musikdokumentationen. Dreiviertelblut singen in der bayrischen Mundart, Untertitel braucht es aber nicht, wirklich nicht.

Zwei Konzerte sind das Herzstück des Filmes, eines im Zirkus Krone, das andere im Prinzregententheater in München. Das Komponieren, die Themenfindung, die Proben, von allem gibt es etwas und noch viel mehr, aber nichts davon ist auch nur eine Nuance zu viel. Die Musik transportiert ein Lebensgefühl und die in Schwarz-Weiß gehaltenen Bilder vermitteln genau das, irgendwo in den Wäldern, irgendwo auf der Autobahn, irgendwo auf einer Bühne. Das alles verdichtet sich zu einem Moment. So ist das Leben.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Dreiviertelblut – Weltraumtouristen Regie: Marcus H. Rosenmüller, Johannes Kaltenhauser Drehbuch: Marcus H. Rosenmüller, Johannes Kaltenhauser Kamera: Johannes Kaltenhauser Schnitt: Peter König Musik: Dreiviertelblut Deutschland 2020 86 Minuten Verleih: 24 Bilder Kinostart: 6. August 2020 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zu Out Takes

#Filmjahr2020 #Filmkritik #Dokumentarfilm #24Bilder #AusDemArchiv

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23 – Nichts ist so wie es scheint wird am 23. November 2023 in Anwesenheit von Gästen aus Cast & Crew im Kant Kino, Berlin in einer Sondervorführung gezeigt werden.

Aus dem Archiv von 1998

“Nichts ist so, wie es scheint”: so lautet der Untertitel zu 23. Eine Binsenweisheit. “Die Wahrheit ist da draußen”, das ist eine der aktuellen Varianten für Paranoiker. Spulen wir die Zeit zurück. Ein Jahrzehnt oder ein paar Jahre mehr. In den Nachrichten und Nachrichtenmagazinen waren Hacker ganz groß in den Schlagzeilen. Diese Hacker brachen in Atomkraftwerke ein und ins amerikanische Pentagon, überhaupt war nichts sicher vor ihnen. Tatsächlich ist nichts so, wie es scheint, und im allgemeinen sind Hacker nicht unbedingt Leute, die dem einfachen Bürger nur an seine Online-Bankkonten wollen. Vielmehr darf man getrost davon ausgehen, daß nichts so ist, wie es einem weisgemacht wird. Auch heute noch arbeiten politisch motivierte Hacker daran, Lücken im Netz aufzuweisen, die man allgemein, für den Seelenfrieden, unter den Teppich kehren will.

Karl Koch war ein Computer-Ass. Er kam aus einem konservativen, gut bürgerlichen Elternhaus, gegen das er rebellierte. Auf die politischen Mißstände der Zeit reagiert er hochsensibel. Zuerst demonstriert er nur in Brokdorf, später verschob er hochsensible Daten an den KGB. Warum? Wie so viele in den 80ern las Koch das Buch Illuminatus! von Robert Anton Wilson, dessen Theorie einer Weltverschwörung für Koch Erklärungen für seine politischen Fragen lieferte. Später nannte sich Koch Hagbard Celine, nach dessen Romanhelden. Gödel, Escher, Bach, in Kochs Zimmer waren die Wände voll von mathematischen Theorien. Zahlenspiele und Symbole für die einen, für ihn ein Weltbild. Die Zahl 23 ist bei Wilson der Geheimcode schlechthin. Laut Wilson starben alle großen Anarchisten an einem Dreiundzwanzigsten..

Auch Karl Koch verschwand an einem Dreiundzwanzigsten. Sein Talent war die Arbeit am Netz. Damals arbeitete man noch mit einfachen Geräten, aber Karl und sein Freund David hackten sich überall rein. Und sie taten das nicht ohne Grund. Über einen Kontakt in Berlin gaben sie die Informationen an die Russen weiter. Karl Koch meinte damit die Informationsbalance zwischen den Großmächten herstellen zu können, dies diktierte sein Gerechtigkeitssinn. Dafür bekam er Geld, mit dem Geld finanzierte er sich seine immer stärker werdende Drogensucht. Die Drogen verstärkten auch zunehmend seine Realitätsentfremdung, seine Paranoia wuchs. War der Tod von Olof Palme noch eine Bestätigung, daß eine böse Verschwörung den Tod des Politikers zu verantworten habe, so glaubte er später gar, daß der Reaktorunfall in Tschernobyl kein Zufall war.

Hans-Christian Schmid zeigt dem Zuschauer das Leben von Karl Koch in der Zeit zwischen dessen Abiturabschluß und seinem Verschwinden. Dem Regisseur war dabei der Mensch wichtig, nicht unbedingt der Hacker.

Bereits zur Zeit von Nach fünf im Urwald hat Du von diesem Projekt geschwärmt. Doch es dauerte jetzt über zwei Jahre, bis Du 23 fertigstellen konntest. Wo lag das Problem?

23 war weitaus aufwendiger als mein letzter Film. Im Herbst 1996 haben wir mit den Recherchen angefangen. Ein halbes Jahr lang waren wir in Hamburg, Hannover und Berlin unterwegs. Wir haben jede Menge Interviews geführt. Dann brauchten wir ein weiteres halbes Jahr für das Drehbuch. Für die eigentlichen Dreharbeiten hatten wir 25 Drehtage, das waren mehr, als wir bei Nach fünf im Urwald hatten. Für den Schnitt brauchten wir schließlich auch ein halbes Jahr. Wir hatten um die 16 Schnittfassungen.

Warum denn das?

Das ist immer so eine Frage, wann kann man jetzt sagen, das sei eine neue Fassung. Wir haben das erste Mal am Avid geschnitten, also elektronisch. Da ist man großzügiger. Viele Variationen sind möglich, je nach Gewichtung der einzelnen Teile. Wir überlegten uns, wie viele Fernsehbilder wir wo einstreuen können. Und dann gab es da eine komplette Liebesgeschichte im Buch, die haben wir auch schon gedreht, aber dann hatten wir dafür keinen Platz mehr, und wir mußten sie Schritt für Schritt wieder entfernen.

Wo gab es da eine Liebesgeschichte?

Das war so: Karl Koch hat nicht lange vor seinem Tod noch eine junge Frau kennengelernt. Mit ihr haben wir, glaube ich, die meisten Interviews geführt. Sie hat uns auch am meisten über ihm erzählt, wußte auch am meisten zu erzählen. Wir haben mit einem Drehbuchbetreuer zusammengearbeitet, David Howard, wir kannten ihn schon von Nach fünf im Urwald und Himmel und Hölle, und er sagte uns, wir könnten ruhig versuchen, so spät im Film noch eine Liebesgeschichte einzuführen, aber es würde nicht funktionieren. Uns war das egal. Es gab diese Geschichte ja, also wollten wir die da drin haben. Da gibt es diese Szene, wo Karl mit nacktem Oberkörper im Regen über diese Brücke läuft und zusammenbricht. Eine junge Frau fand ihn dort, brachte ihn ins Krankenhaus, und in diese Frau verliebte er sich. Wir hatten ein paar Szenen gedreht, im Wohnheim und in der Verfassungsschutzwohnung ganz zum Schluß. Alle, denen wir den Film so gezeigt hatten, waren entsetzt. “Was macht denn diese Frau jetzt hier bitte noch?” Es passte einfach nicht in den Film.

Viele, die diese Geschichte aus dem Buch von Clifford Stoll (Kukucksei) kennen, werden von 23 zwangsläufig etwas enttäuscht sein.

Ich habe nie behauptet, daß man die Geschichte von Clifford Stoll zu sehen bekommt. Es ist eine ganz andere Geschichte. Die erste Drehbuchfassung habe ich bereits zusammen mit einem Freund vor sieben oder acht Jahren entwickelt. Damals nannte ich das noch “Datenreisende” und es gab auch jemanden, der Stolls Rolle bekommen hätte. Wir konnten den Film nicht finanzieren. 1997 hat uns Clifford Stoll überhaupt nicht mehr interessiert. Wir wollten einen Film über Karl Koch machen. Jede Minute, die man ihm wegnimmt, um von einer anderen Figur zu erzählen, war mir zu schade. Mir geht es nur um Karl, um eine Freundschaft, um ein Lebensgefühl in Hannover, in den 80ern. Stoll war da kein Thema.

Viele Fakten hast Du doch ändern müssen.

Man ändert so wenig wie möglich und so viel wie nötig. Ein Film muß für ein Publikum funktionieren. Ich muß meine Geschichte gut erzählen, so daß die Leute sich nicht zwischendurch langweilen. Karl Koch war zwischenzeitlich eineinhalb Jahre in einem Wohnheim in Hannover. Aus dieser Zeit wissen wir nichts über ihn, der Wohnheimleiter erinnert sich nicht an ihn. Die Clique existierte damals auch nicht. Dramaturgisch überspringt man diese Zeit also.

Du beendest den Film am 23. Mai. Kommt das hin?

Mit allen sensiblen Details war ich sehr genau. Karl ist am 23. Mai in diesem Waldstück verschwunden und wurde an dem Tag vermisst gemeldet. Seine Leiche fand man am 2. Juni und die dpa-Meldung ging am 4. Juni raus. Damals gab es eine ganze Reihe von Artikeln, im Spiegel und im Stern, sowohl über das Auffliegen des Hackerringes als auch zu Karls Tod.

Woher kommt Deine Faszination für die Illuminati-Papiere?

Das Buch war damals Pflichtlektüre in der Clique. Genauso lasen wir Per Anhalter durch die Galaxis und Herr der Ringe. Mich faszinierte das. Ich bin nicht so abgedriftet wie Karl Koch, für mich war das eher eine intellektuelle Spielerei.

Karl Koch war ein hoch intelligenter Mensch. Wie erklärst Du es Dir, daß er auf so eine, sagen wir, Verschwörungstheorie hereinfällt?

Eben weil er ein hoch intelligenter, hoch sensibler Mensch war. Letzten Endes war für mich die Tatsache ausschlaggebend, daß es in fast jedem Schuljahrgang jemanden gibt, der bei einem Abitreffen, sagen wir nach zehn Jahren, fehlt. Da gibt es ein paar Leute, die nicht mehr am Leben sind. Vor nicht langer Zeit hat Andres Veiel einen Dokumentarfilm zu diesem Thema gedreht: Die Überlebenden. Der besuchte sein Abitreffen und da fehlten drei Freunde. Er machte sich daran herauszufinden und nachzuvollziehen, warum die es nicht gepackt haben. Warum haben sie nach dem Schulabschluß nicht ihren Platz im Leben gefunden? Ich glaube, es sind oft die sensibelsten und intelligentesten Menschen, die damit an irgendeinem bestimmten Punkt scheitern. Das fand ich auch bei Karl so spannend. Ich glaube, seine Intelligenz hat ihn eher behindert. Er war sicher intelligent genug gewesen, zu verstehen, daß Wilson da ein Spiel gespielt hat, doch ich glaube auch, daß Karl der Humor gefehlt hat. Wilson muß man mit Humor lesen. Wir haben mit Wilson auch darüber geredet, für ihn war das ein Spiel.

Karl Koch kam aus einer politischen Ecke. Die ganze Computerszene war in den 80ern noch hochpolitisch motiviert. Heute kann man davon ausgehen, daß Computeruser eher nur marktwirtschaftlich orientiert sind.

Die Leute vom Chaos Computer Club würden dir widersprechen. Die sind immer noch sehr politisch engagiert. Doch der durchschnittliche Internetuser ist wahrscheinlich nur kommerziell interessiert. Ich bin im gleichen Alter, in dem Karl Koch heute wäre, also 33. Das heißt, die Zeit damals war für mich genau wie für ihn eine sehr politisierte Zeit. Es gab eindeutige Feindbilder. Wir wußten, gegen wen wir sein können. Es gab den Ost-West-Konflikt, es gab die Friedensbewegung, es gab die großen Demonstrationen. Im Süden war das Wackersdorf, im Norden, wo Karl wohnte, war das Brokdorf und Gorleben. Das hat sich geändert. Es gibt heute immer noch wache und politisch interessierte junge Menschen, aber es ist etwas diffuser.

Die Brisanz, die dieser Fall damals hatte, ist heute eigentlich kein Thema mehr. Man weiß, was Hacker machen, was sie bewirken können. Was das Netz bringt und was es nicht bringt.

Darum geht es mir mit 23 doch gar nicht. Mich interessierte die menschliche Geschichte. Ich glaube nicht, daß die Leute ins Kino gehen, um sich einen möglichst lückenlosen Überblick über diese Zeit zu verschaffen. Für mich war ganz klar Karl Koch interessant, und dann erst mal länger nichts. Dann gab es diese Freundschaftsgeschichte zwischen Karl und David, dann diese Vierergruppe, die in Wirklichkeit eine Fünfergruppe war. Mich interessierte, warum sich Karl darauf eingelassen hatte, wie er so seine Allmachtsphantasien hatte, wie das mit den Vieren zu Ende ging, warum Karl von der Sache nicht mehr loskam. Die Tatsache, daß die Geschichte in Hannover spielt, noch dazu Mitte der 80er Jahre, und dann ging es noch um Computer, das hat uns beinahe davon abgebracht, diesen Film überhaupt zu machen. Wir fanden die 80er doof, Hannover ist doof, Computer sind doof. Unsere Produzenten, Jakob (Claussen) und Thomas (Wöbke) haben auch gesagt: “Mensch ej, muß das echt sein. Also könnt ihr diese Geschichte nicht vielleicht in der Gegenwart erzählen?” Aber in der Gegenwart hätte das nicht funktioniert. Da war Tschernobyl wichtig für Karl Koch, und auch die Ermordung von Olof Palme. Und eben auch dieses Lebensgefühl dieser Zeit war wichtig. Nun, mittlerweile gibt es ja so etwas wie ein 80er-Revival. Mir unverständlich, woher es kommt. Wahrscheinlich hat man die 70er durch und braucht etwas Neues. Die 80er waren scheiße. Die Mode war scheiße und die Musik war scheiße.

Findest Du?

Also... Sollen wir jetzt über Modern Talking diskutieren, über Miami Vice? Aber es war Teil dieser Geschichte und wir haben das dann mitgenommen. Das ist Hannover, das sind die 80er. Wir verstecken das nicht, machen es aber auch nicht zum Thema.

Zum Glück hast Du nicht den Fehler begangen, uns das Innere eines Computers visuell darzustellen, wie zum Beispiel Ian Softley mit dem Film Hackers das gelöst hat. So etwas kann tierisch in die Hose gehen, ist nach einem Jahr schon veraltet. Dafür ist die visuelle Darstellung von Karl Kochs Drogengeschichte doch fast ein Bruch.

Karl Koch war ein heftiger Drogenbenutzer. Als er aber sein Abitur machte und sein Vater starb, da war Karl noch clean. Der erste Kontakt zum Koks kam erst später. Vielleicht haben wir es nicht geschafft, das gut zu steigern. Insgesamt haben wir die Drogengeschichte trotzdem sehr zurückgenommen. Karl hat wesentlich mehr Zeug eingeworfen. Wir wollten am Anfang des Films ein bestimmte Niveau vorgeben und dann diesen Weg beschreiten, auf dem es immer weiter abwärts führt. Es ist ein großes Risiko, wenn ein Held von Anfang an zugedopt ist. Also, ich habe gerade erst Fear and Loathing in Las Vegas von Terry Gilliam gesehen und hatte so meine Probleme damit. Ich dachte, daß muß doch jetzt irgendwann irgendwie, bitte bitte, anders werden. Es ist doch wichtig, für eine Figur immer wieder Momente der Hoffnung aufzubauen. Karl Kochs Freunde hatten über die Jahre hinweg immer wieder das Gefühl, jetzt packt er es doch vielleicht, irgendwie schafft er es. Doch dann hatte Karl eine Phase der Angst, da schloß er sich in seine Wohnung ein und knallte sich bis zum Anschlag mit Koks zu, um irgendwie einmal alles zu löschen, um sozusagen seine Festplatte neu zu programmieren. Das mußten wir visuell irgendwie umsetzen.

Dein Film ist ziemlich pessimistisch, besonders im Vergleich zu Stolls Buch, das eher amerikanisch, lustig und heiter ist.

Aber was soll diese heitere Art? Clifford Stoll ist doch irgendwie ein widerlicher Komiker. Also, so habe ich den kennengelernt. Fakt ist doch, daß am Ende Karl Koch tot ist.

Ich würde gern auf das politische Motiv zurückkommen, das den Karl Koch bewegte. Von heute aus betrachtet, vielleicht weil die Zeit komplett anders ist, spielt da eine gewisse Naivität mit. Ich meine diesen Gedanken: Ich gebe den Russen jetzt das, was die Amerikaner haben, um dieses Gleichgewicht zu halten. Obwohl man diese Zeit selbst erlebt hat, kommt es einem eigenartig vor und wirklich blauäugig.

Die Jungs waren damals, glaube ich, auf einem Mega-Trip. Sie dachten, wir kapieren, wie die Computer funktionieren und ihr seid alle doof. Wir schaffen es hier mit unserem C64 oder unserem Atari, der noch nicht einmal eine Festplatte hat, in euren hochgesicherten Pentagon-Dingsda reinzukommen. Und das in Verbindung mit was weiß ich, am Anfang waren das wohl Amphetamine und ein bißchen Koks. Das macht dann auch ein bißchen glücklich und wach. Dann sagt man sich, ja logisch, gebt die Informationen dem KGB. Ideologisch passte das denen in den Kram. Ost und West würden die gleichen Informationen haben, Kohle gab es auch noch und dafür gab es dann wieder Koks oder sonst was. Das ist doch perfekt. Die Naivität kann ich soweit nachvollziehen, als daß ich vor ein paar Wochen meine Schülerzeitungsartikel heraus gekramt habe. Ich las so einen Artikel und dachte, was warst du doch naiv. Also so ein gut-böse-naiv. Ihr seid die Bösen, und wieso können wir das nicht alle ganz anders machen und glücklich sein. Das war damals so. Vielleicht ist es ein Teil des Älterwerdens, daß man realistischer wird.

Du hast größtenteils mit unbekannten Darstellern gearbeitet. Eine bewußte Entscheidung oder war es das Diktat des Alters?

Beides. Ich arbeite gern mit unbekannten Leuten. Es ist spannend, neue Gesichter zu entdecken. Vom Starkult halte ich gar nichts. Natürlich würde ich es nicht kategorisch ablehnen, mit Stars zu drehen. Ist jemand ein guter oder schlechter Schauspieler, ist jemand für die Rolle geeignet oder nicht... In Nach fünf im Urwald waren die Figuren 17, jetzt in diesem Film waren sie 20, da hat man kaum Möglichkeiten. Also, ich würde nie einen Schauspieler nehmen, der 25 ist und so tut, als wäre er 20.

23 hat einen fast monochromen Touch, wie habt ihr die Farbgebung hier erarbeitet?

Ich wollte diesen Film unbunt machen. Das hängt mit einem Fernseherlebnis zusammen. Irgendwann wurde der erste Schimanski im Fernsehen wiederholt und ich hatte nur gestaunt, wie blaß die ganzen Farben sind. Das war wohl eine schlecht gelagerte Kopie, aber der Klaus Eichhammer (mein Kameramann) und ich haben uns überlegt, wie man so etwas herstellen könnte. Es wäre doof, zu sagen, die 80er waren blasser, aber mir ist der Umgang mit Farbe sehr wichtig. Mir gefallen auch in der Malerei die eher monochromen Farbkompositionen und in der Photographie die Schwarz-Weiß-Bilder. Ich mag es nicht, wenn ein Film einfach nur bunt ist. Hannover Mitte der 80er Jahre war nicht bunt. Mit dem Verzicht auf gewisse Farbtöne haben wir eine eigene Stimmung geschaffen.

Man kann natürlich vom Konzept her Leuten Farben zuordnen. So hat Tom Tykwer das in Winterschläfer gemacht. Vier verschiedene Figuren, vier verschiedene Farben. Das kann einem aber auch künstlich vorkommen. Wenn ich jetzt Karl Koch immer nur grün oder rot gegeben hätte, dann hätte man irgendwann jeden Einrichtungsgegenstand definieren müssen. Wir sind einen anderen Weg gegangen. Wir machten eine Bleichbadüberbrückung, dadurch wurde der Film entsättigt. Auf Rot verzichteten wir. Wir haben uns in braunen und grünen Tönen aufgehalten. Das andere Konzept war, daß wir Handkamera verwendeten. So kommt man einer Authentizität näher für mein Gefühl. Also, man sollte nicht mit der Kamera rumwackeln, das ist auch genau das, was ein Dokumentarfilmkameramann auch nicht tut. Der versucht ja immer alles möglichst gut mitzubekommen, nur weiß er nicht, was passieren wird. Für einen Spielfilm bedeutet die Handkamera eine etwas größere Freiheit für die Schauspieler. Die Kamera reagiert auf den Darsteller und nicht umgekehrt, daß die Kamera agiert, indem sie eine Fahrt vorgibt, nach der sich der Schauspieler richten muß.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Glück für Deinen Film.

Eneh

Das Interview wurde von Elisabeth Nagy und Dirk Lüneberg am 22. Oktober 1998 in Berlin anlässlich des Filmstarts von 23 – Nichts ist so wie es scheint geführt.

Aus dem Archiv. Veröffentlichung 1998 im Magazin Zonic, Ausgabe 10 (online nicht verfügbar). Der Text wurde bis auf Verlinkungen nicht verändert und ist darum auch nicht gegendert.

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© Eneh

Aus dem Archiv von 2000

Filmscapes, so nennt Peter Sorel die Ausstellung mit einer Auswahl von ca. 60 seiner Filmfotos. Bilder, die bewegte Filmszenen in feste Einstellungen bannen. Die Idee kam in Budapest auf, wo der Ungarn-gebürtige Sorel die Dreharbeiten von István Szabós Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein begleitet hatte, seine erste Heimkehr nach Jahren. Das Camerimage-Festival, das Sorels Standfotos bereits in den Lebenswerk-Katalogen von Zsigmond und Kovács ausgiebig verwendet hatte, lud die Ausstellung nach Toruń ein. Auf Grund persönlicher Verbindungen, bot das Haus Ungarn in Berlin Raum, um auch den Berlinale-Gästen Einblick in die Welt des Filmes durch die Kameralinse von Peter Sorel zu geben. Die von Sorel gegründete Society of Motion Pictures Still Photographers feierte derweil ihr fünfjähriges Bestehen mit einer weiteren Ausstellung in den Räumen der American Academy.

Wer engagiert bei einem Filmprojekt den Setfotografen?

Kommt darauf an. Oft spielen persönliche Beziehungen eine Rolle. Bei Playing by Heart stellte mich Vilmos Zsigmond, der Kameramann des Filmes, dem Regisseur vor. Der schaute sich meine Bilder an und zeigte sie seinem Produzenten. Beide waren sich einig, daß ich ein guter Fotograf sei. Als ich im Filmgeschäft angefangen hatte, war das Studiosystem noch stärker, da war einiges leichter. Heute ist es so, daß zu allererst der Star, also der Schauspieler, gefragt wird. Meist kommt der schon mit seinem eigenen Troß an Leuten an. Das geht so weit, daß der Schauspieler auch in technischen Belangen Besetzungen verlangen kann. Erst dann fragt man den Regisseur und dann den Produzenten, ober er jemanden für den Job vorschlägt. Wenn auch die keine Idee haben, dann fragt man das Studio. Obwohl ich nie ein Freund des Studiosystems war, heute ist es weitaus schlimmer. Heute gleicht es einem Beliebtheitswettbewerb.

In Ihrer Filmografie befinden sich Mainstreamfilme wie Ghost, Thriller wie Seven, aber auch künstlerische Filme wie zuletzt der Film von István Szabó, Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein. Wonach wählen Sie ihre Projekte aus?

Das ist allein vom Script abhängig. Eigentlich mag ich keine Thriller. Seven war ein aussergewöhnlich gutes Buch und es war ein sehr guter Film. Ich mag die alltäglichen Geschichten. Jedem passieren doch immer wieder wunderbare Dinge, nicht wahr? Ein guter Autor kann daraus einen wunderbaren Film schreiben. Natürlich ist es schwierig, bei so einer Geschichte dann einen Arnold Schwarzenegger zu besetzen. In Amerika werden darum auch nur wenige dieser menschlichen Geschichten realisiert. Wir haben in den USA keinen Antonioni. Antonioni war kurz in Amerika. Man rief mich ab, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm zu arbeiten. Aber natürlich, sogar unentgeldlich, doch dann wurde aus dem Projekt nichts.

Wie weit haben Sie am Set freie Hand?

Das hängt von der Stimmung am Set ab. Meist von den Schauspielern, oder es kommt vor, daß der Regisseur ein nervöser Mensch ist. Ich habe eine Verkleidung um meine Kamera. Es gibt also kein klick, klick, klick. Man hört mich nicht, man sieht mich nicht. Ich bin nicht im Weg. Ich weiß, wohin der Dolly fährt. Also, technisch kann ich jederzeit arbeiten. Manchmal sagt der Regisseur jedoch: „sei mir nicht böse, aber das lass jetzt mal, mach das später.“ Am Schlimmsten ist es, wenn man mit zwei Schauspielern arbeitet, die beide gegenteilige Anweisungen geben. Der eine sagt, ich dürfe während der Proben nicht knipsen, der andere, daß ich bei den Proben meine Bilder machen darf, aber beim Dreh gefälligst nicht. Auf wen hört man dann? Eine zufriedenstellende Lösung gibt es dann nicht. Man muß mit den Schauspielern reden.

Diplomatie ist das halbe Leben.

Früher war auch das einfacher. Früher, was erzähle ich da, vor 30, 35 Jahren, als ich in diesem Job anfing. Damals wurde dem Fotografen ein gewisser Respekt entgegengebracht. Regisseure und Schauspieler ließen einen arbeiten. Heute ist das anders. Wenn ein Star 20 Millionen Gage bekommt, dann kann es schwierig werden. Plötzlich stört ihn dieser oder jener. Der ist im Weg, oder jener nimmt ihm das Licht. Es ist tatsächlich Diplomatie gefragt. Wenn ich die Schauspieler nicht bereits von einem anderen Film kenne, dann verbringe ich die erste Woche wirklich damit, die Schauspieler zu umwerben. Man lernt sich kennen, man lernt, wann man was machen kann. Mit dem Regisseur hat man bereits vor den Dreharbeiten geredet. Man bewirbt sich, zeigt ihnen seine Bilder. Jetzt gibt es eine neue Generation von Regisseuren, die sind gerade mal 30 Jahre alt, die waren noch gar nicht auf der Welt, als wir Easy Rider geschossen haben. Manchmal ist das auch ein Problem, wenn es den Regisseur stört, daß der Fotograf schon länger in dem Job ist.

Und wie ist es, wenn mehrere Generationen an einem Set zusammenkommen? Ich denke da an gerade an Playing by Heart, der demnächst ins Kino kommt. Da spielen Gena Rowlands und Sean Connery mit Ryan Phillippe und Angelina Jolie zusammen.

Playing by Heart war eine außergewöhnliche Erfahrung. Willard Carroll, der Regisseur, mochte mich und es war eine fantastische Besetzung. Angelina Jolie ist eine junge Schauspielerin, aber sie arbeitet absolut professionell. Die Arbeit mit ihr ist ein Vergnügen. Sie ist ganz anders, als andere in ihrem Alter. Sie weiß, man arbeitet mit dem Fotografen, man macht ihm nicht das Leben schwer. Die Schauspieler wissen doch, daß sie Schutz geniessen. Sie bekommen die Kontaktabzüge und Fotos, die ihnen nicht gefallen, werden auch nicht veröffentlicht. Mein schlimmstes Erlebnis hatte ich mit Julia Roberts. Sie bekommt einen Kontaktbogen in die Hand und kreist ein Bild an, das ihr eventuell gefallen könnte. Alle anderen dürfen nicht verwendet werden. Man weiß schon vorher, daß man den Job unter künstlerischen Gesichtspunkten vergessen kann. Mit solchen Leuten arbeite ich nicht gerne.

Wie wichtig ist Ihnen die Beziehung zu einem Kameramann?

Das ist am allerwichtigsten. Wenn diese Beziehung nicht stimmt, dann kann man nicht arbeiten. Man sollte möglichst auf einer Wellenlänge liegen. Ich rede auch gern über Beleuchtung. Mir stehen die Kameramänner also sehr nahe.

Oft bekommt man in dem Pressefotosatz ein Bild, da steht dann der Regisseur neben der Kamera ...

Wenn ich den Job habe, dann fotografiere ich auch den Kameramann. In der Ausstellung sind auch zwei Bilder von Darius Kondhji, aber die habe ich nicht am Set aufgenommen. Das war ein Jahr nach Seven. Kodak hatte eine neue Werbekampagne in Angriff genommen und trat an mich heran, ich solle Darius fotografieren.

Um American History X gab es Diskussionen, wie äthetisch man das Böse ablichten dürfe. Wie sehr darf man als Fotograf am Set kommentieren, oder lichtet man nur die Szene ab?

Man gibt den Film wider, das ist unsere Aufgabe. In dem Film war aber auch eine Szene, eine Idee des Regisseurs, in der der kleine Bruder einem schwarzen Jungen Rauch ins Gesicht bläst. Im Film wird das allerdings mit einer Einstellung über der Schulter gezeigt. Da habe ich dann die beiden Darsteller nach dem Dreh zurückgerufen, sie mögen sich doch bitte ans Fenster stellen, wegen der Beleuchtung. Ich brauchte die Einstellung, in der man den schwarzen Jungen genauso gut sehen konnte, wie den weißen. Das ist ja das Problem. Der Regisseur macht den Film im Schneideraum. Er fügt eine Geschichte aneinander, der der Zuschauer folgen kann. Da hat man dann einen Over the Shoulder-Blick und dann ein Close Up. Ich hasse Close Ups. Beide Darsteller sind gar nicht zusammen im Bild. Die Beziehung zwischen den beiden sieht man nicht. In einem Foto muß man sie aber sehen. Ein Foto braucht eine Geschichte, damit der Betrachter sofort sieht, worum es sich handelt.

Wie sehr geben Sie dem Image eines Stars nach?

Mich interessiert nur der Film. Wenn ich eine Szene nachträglich stelle, dann nur deswegen, weil ich nicht nur die Idee einer Einstellung sondern die Idee eines ganzen Filmes einfangen möchte. Aus einem anderen Grund bemüht man die Darsteller nicht.

Die Marketingabteilungen wollen jedoch Bilder von den Stars.

Stimmt. Wenn man heute beim Film arbeiten will, dann muß man nun einmal das tun, was das Studio will. Für die Marketingabteilungen ist eben der Star wichtig. Darum gibt es auch diese unglaublich schlechten Pressefotosätze. Oft weiß man anhand der Fotos nicht, worum es in dem Film überhaupt geht, aber der Star ist auf jedem Bild. Aber ich liefere diese Bilder. Ich mache zuerst, was sie wollen und dann, was ich will. Ich weiß, daß sie nur das benutzen werden, was ich nie im Leben benutzen würde, aber wir werden ja nicht gefragt. Das Maximum an Freiheit ist, daß man ein Foto nicht schießt, wenn man es nicht mag. Die Marketingabteilung weiß eh nicht, was nie zu sehen sein wird. Das weiß nur ich. Und es gibt Bilder, die ich nie machen würde, zum Beispiel, wenn jemand nackt ist. Selbst wenn der Schauspieler oder die Schauspielerin meine Anwesenheit erlauben würde. Aber sie sind nicht dumm, sie wissen, daß der Fotograf ein Freund sein kann, aber es ist nicht gewährleistet, wohin das Bild gelangen könnte, denn das hängt nicht vom Fotografen ab. Wenn es denn ganz furchtbar wichtig ist für einen Film, dann kann man anschließend etwas arrangieren und gewisse Körperpartien können abgedeckt werden.

Oft stehen auf den Pressefotos nicht einmal die Namen der Fotografen. Wem gehören eigentlich die Rechte an den Bildern?

75% der Bilder der Ausstellung gehören mir. Ein Bild wie das von Bruce Willis, wie er sein Lunchpaket verdrückt. Ich weiß, daß das Studio dieses Bild nie im Leben verwenden würde. Laut Vertrag gehören alle Bilder dem Studio und diesen Vertrag muß man unterzeichnen, sonst bekommt man den Job nicht. Doch ein Bild wie das von Bruce, da wußte ich, daß ich das irgendwann noch einmal verwenden will. Ich habe einen Standardtext, den ich dann dem Schauspieler vorlege, in dem er seine Einwilligung gibt. Bruce hat das ohne mit der Wimper zu zucken unterschrieben. Damit werde ich dann beim Studio vorstellig. Doch das Negativ gehört weiterhin dem Studio. Bei jeder Ausstellung, jeder Katalogveröffentlichung muß ich um Erlaubnis fragen. Verkaufen darf ich das Bild nicht. Die denken wohl, ich würde damit Millionen scheffeln. Schön wärs...

Vor fünf Jahren haben Sie die Society of Motion Pictures Still Photographers gegründet.

Das war meine Idee, genau vor fünf Jahren. Aber der Gedanke beschäftigte mich schon seit Jahren. Meine besten Freunde sind Kameramänner, zum Beispiel Vilmos Zsigmond und László Kovács. Die ASC ist wahrscheinlich die älteste Organisation in Amerika in der Filmbranche und sie ist ein fantastischer Verein. Man kann sich treffen und sich austauschen. Eine wichtige Sache. Wenn es so etwas für die Kameramänner gibt, warum gibt es das nicht auch für die Standfotografen? Am Anfang waren wir zu fünft, heute sind wir 23 aktive Mitglieder und 4 Ehrenmitglieder. Das ist ungefähr 10 % unserer Branche in Amerika. Die Organisation steht jedem offen, jeder kann sich bewerben, gleich welcher Herkunft. Wir sehen uns dann die Fotomappe des Bewerbers an und stimmen ab. Dieses Auswahlgremium besteht hauptsächlich aus dem Vorstand und drei Freiwilligen.

Und welche Aufgaben hat sich die Organisation gesetzt?

Vor fünf Jahren haben wir mit einer Ausstellung begonnen. Wir zeigten der Branche unsere Arbeiten. Wir stellten uns vor. Wir arbeiten übrigens in einer Branche, in der wir es immer schwerer haben. Inzwischen kann jeder einen Fotoapparat bedienen und Bilder machen. Man möchte für seine Arbeit die nötige Anerkennung bekommen. Doch wir haben zwei Hauptziele, vielleicht drei: Zu allererst möchten wir ein Forum bieten, in dem man sich mit Kollegen austauschen kann. Es soll die Möglichkeit bestehen, sich freundschaftlich, ohne Konkurrenzdruck, über Laboreinrichtungen und technischen Neuerungen zu unterhalten.
Eine konkrete Aufgabe ist es, dem Archiv der Motion Picture Academy Material zu beschaffen. Das Archiv der Academy ist das beste im Land. Was den Hollywood-Film anbelangt, gibt es so etwas kein zweites Mal. Sie haben alles, was sie je in die Finger bekommen konnten. Ein Beispiel: Die Erben von Mary Pickford haben dem Archiv eine ganze Wagenladung an Photos überlassen. Bilder, die man so nie gesehen hatte. Als wir mit unserer Arbeit begannen, stellten wir fest, daß das Archiv in den letzten 20 Jahren nur die sogenannten Pressefotosätze von den Studios bekommen hatte. Schlechte Bilder in noch schlechterer Qualität. Wir arbeiten also daran, daß jeder Fotograf jeweils bei einem Film fünf Bilder seiner Wahl an das Archiv gibt. Hochwertige Abzüge, mit Silberanteil, nicht Plastik, so daß der Abzug in 30 Jahren nicht verblasst oder gar verschwindet.
Ferner habe ich den persönlichen Wunsch, der noch wie ein Traum ist, daß in einer nahen Zukunft auch das Studio uns unterstützt. Inzwischen werden wir ja anerkannt und geschätzt. Früher war es noch so, daß man nach Abschluß von Dreharbeiten sich ein paar Bilder aussuchen konnte. In den letzten 15 Jahren gibt es so etwas nicht mehr. Die Studios wissen, daß sie die Bilder auch noch in 50 Jahren in einem Package verwenden können. Ich würde aber gerne die Rechte an einigen Bilder für die Society haben. Nicht um sie zu Geld zu machen, sondern damit die Society sich ein eigenes Archiv aufbauen kann. Dann könnten wir ohne zu fragen Ausstellungen veranstalten und Bücher verlegen.

Ist die Gestaltung von Filmplakaten eigentlich eine Nebenbeschäftigung oder ein Hobby?

Eine Nebenbeschäftigung. Bei weit mehr als der Hälfte der amerikanischen Filme werden die Plakate nicht vom Setfotografen gestaltet. Man nimmt ein Foto des Stars und packt das auf das Plakat. Doch bei den Filmen, bei denen ich engagiert bin, da läßt man mich meist auch das Plakat machen. Bruce Willis ist ein gutes Beispiel. Kurz vor Beendigung der Dreharbeiten kommt normalerweise der Präsident der Marketingabteilung ans Set und legt dem Star des Filmes ein Konzept vor. Der wählt dann den Entwurf aus, der ihm gefällt. Willis jedoch wehrt dann ab. Wozu einen Fremden beauftragen, wenn ich doch schon da bin. Das Plakat zu Mercury Rising stammt zum Beispiel von mir. Ich rede dann mit der grafischen Abteilung über meine Ideen. Zuletzt habe ich das Plakat zu Magnolia gestaltet. Ein seltsamer Film. Am Ende regnet es Frösche vom Himmel. Zehntausende von Plastik-Fröschen. Das ist so ein bizarrer Einfall, sehr grafisch, das mußte ich einfach aufgreifen. Diese Frösche waren absolut lebensecht, ich hätte schwören können, sie seien echt. Die waren aus so einem elastischen Plastik. Leider wurde die Szene nachts gedreht. Ich habe mich dann mit den Jungs vom Set abgesprochen. Ich legte mich auf den Boden und bat fünf Leute, diese Frösche so in Luft zu werfen, daß sie in meine Richtung fallen würden. Man hat dann diese Idee auch verwendet. Oft ist es so, daß die Marketingleute sich wehren. Ich als Fotograf solle ihnen nicht sagen, was denn nun gut aussehen würde, aber oft übernehmen sie doch meine Entwürfe.

Eneh

Das Interview wurde am 30. November 1999 in Toruń (Polen) anlässlich der Ausstellung “Filmscapes” geführt.

Aus dem Archiv an Texten für den Film & TV Kameramann (heute Film & TV Kamera), 2000.

Kurzbiographie

Peter Sorel wurde als Péter Szentmiklósi 1938 in Budapest geboren. Bereits mit 13 Jahren interessierte er sich für die Fotografie. Den ungarischen Aufstand von 1956 erlebte er als Jura-Student. Er verließ Ungarn und lebte bis 1959 in einer österreichischen Flüchtlingsunterbringung. Dort begann er auch wieder zu fotografieren. Er verliebte sich in ein Mädchen und gemeinsam wanderten sie in die USA aus. Unter anderem arbeitete Sorel in einem Fotolabor, wo er die Abzüge berühmter Fotografen vergrößerte und sich besonders auf dem Gebiet der Schwarzweiß-Fotografie fortbilden konnte. Bei einer Veranstaltung in Los Angeles zur Erinnerung an 1956 lernt er 1959 Vilmos Zsigmond und László Kovács kennen. Die beiden ermutigen Sorel beim Film Fuß zu fassen. Bei zahlreichen Low Budget Filmen arbeitete er als Standfotograf und Kameraassistent. 1964 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1972 wurde er in die amerikanische Gewerkschaft aufgenommen, nicht zuletzt Dank des Erfolgs von Easy Rider. Fortan konnte er auch an großen Filmprojekten arbeiten. Neben seiner Arbeit als Standfotograf, gestaltet er häufig auch die Plakate zu “seinen” Filmen.

Filmografie (Auswahl) 1968: Easy Rider (Dennis Hopper) 1975: One Flew Over the Cuckoo´s Nest (Milos Forman) 1976: Close Encounters of the Third Kind (Steven Spielberg) 1979: Blues Brothers (John Landis) 1981: Missing (Constantine Costa-Gavras) 1988: Die Hard (John McTiernen) 1989: Ghost (Jerry Zucker) 1989: Dick Tracy (Warren Beatty) 1990: Dead Again (Kenneth Branagh) 1993: Fatal Instinct (Carl Reiner) 1995: Seven (David Fincher) 1997: American History X (Tony Kaye) 1999: Magnolia (Paul Thomas Anderson)

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© Eneh