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Dokumentarfilm

Eines vorweg: Der Dokumentarfilm über den 1. FC Union Berlin ist kein klassischer Fußballfilm. Die treuen “eisernen” Fans werden den Fußball nicht vermissen, der ist schon präsent. Das nicht so Fußball affine Publikum wird trotzdem viel mitnehmen können. In Annekatrin Hendels Porträt über den Köpenicker Außenseiterverein, der sich plötzlich mitten auf dem internationalen Parkett behaupten möchte, geht es um die Basics und wie man wächst, ohne seine Ideale zu verraten oder zu verkaufen. Ein Aspekt, der sich durch das Schaffen der Berliner Filmemacherin zieht.

Annekatrin Hendel ist bekannt für stimmige Porträts. 2011 kam Vaterlandsverräter über den Schriftsteller Paul Gratzik ins Kino. 2014 folgte ein Porträt über den Schriftsteller Sascha Anderson, der in der Literaturszene beliebt war, bis er nach der Wende als Informant der Staatsicherheit enttarnt wurde. Im Jahr darauf folgte Hendels Film über Rainer Maria Fassbinder. Sie arbeitete unter anderem die Geschichte der Familie Brasch auf und in “Schönheit & Vergänglichkeit spürt sie dem Zeitgefühl vor und nach der Wende in einem Porträt des Fotografen und langjährigen Türstehers von Technoclubs, Sven Marquardt, nach (unter anderem). Sie hatte auch einst eine Dokumentation über Chistian Lorenz a.k.a Flake gedreht, Keyboarder bei Rammstein. Flake steuert hier nun die Filmmusik bei. (Ein Wehmutstropfen, dass seine Musik hier uninspiriert rüberkommt.)

Hendel ist eine Regisseurin, die eine Figur oder ein Thema begleitet, aber nicht formt. Ganz sicherlich konnte sie nicht voraussehen, wie weit der 1. FC Union Berlin es bringen würde. Einst wollte man nur spielen, des Spielens wegen. Nun geht es stramm auf die UEFA-Champions League zu.

Die Geschichte des Fußballclubs wird hier nicht erst aufbereitet. Die Konkurrenz zu dem Westberliner Club Hertha BSC wird nur am Rande gestreift. Die Regisseurin stößt hinzu, als sich der 1. FC Union Berlin in die erste Bundesliga gekickert hat. Die Mitgliederzahlen wachsen, wachsen stark, explodieren fast. Das Stadion “An der Alten Försterei” kann die Fans gar nicht mehr alle aufnehmen. Den Regularien der gehobenen Ligen genügt der ausschließlich als Fußballstadion betriebene Sportplatz auch nicht mehr. Da baut man halt mal hier und mal dort an oder “versetzt Wände”.

Da der Film im Hauptteil die Saison 2022/23 begleitet, sind die aktuellen Erweiterungspläne noch arg zukünftig. Vertragsverhandlungen mit Sponsoren laufen nun auch eine Klasse schärfer ab. Da weiß auch der langjährige Präsident des Vereins erst einmal nicht, ob er nun einen guten Deal auf dem Papier hat.

Dirk Zingler, Vorstandspräsident seit 2004, arbeitet übrigens ehrenamtlich. Da staunt man, wenn man um die Geldsucht der großen Fußballverbände weiß. Geld ist unterschwellig ein Thema. Nach Jahren der Kontinuität muss man sich von Spielern, weil diese abgeworben werden, trennen. Gleichzeitig wird man für andere Spieler attraktiv. Das allgemeine Karussell der Anwerbung und Verhandlung spielt man noch mit, wenn es in die Verlängerung bzw. zu einer Nachverhandlung kommt, wird der Verein doch wieder zum hemdsärmeligen Underdog, der seine Linie verteidigt.

Die Spieler stehen hier nicht im Fokus, sondern die Mannschaft um Dirk Zingler. Wenn man den klassischen Begriff von Stars anwenden möchte, im Sinne von Leuchten und Funken sprühen, dann überlässt die Regie die Bühne diesem Team. Dem Stadionsprecher, die Kommunikationsleiterin, die Leiterin der Kommunikation zwischen Verein und ihrer Außendarstellung und der Mannschaftsbetreuerin. Unter anderem. Annekatrin Hendel geht es um die Dynamik im Vereinshaus. Die Mitarbeitenden lieben ihren Job und diese Hingabe ist mit Geld eh nicht aufzuwiegen. Das macht Union – Die Besten aller Tage fast zu einem Märchen.

Dirk Zingler ist sich im Klaren darüber, dass sein Verein wachsen muss. Er erkennt aber auch die Gefahr, die davon ausgeht. Die Bodenständigkeit, die er vermittelt und der Enthusiasmus seiner Mitarbeitenden wirkt sich auf den Dokumentarfilm, der sich auch visuell vor keiner Kinoleinwand verstecken muss, positiv aus.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Union – Die Besten aller Tage Regie: Annekatrin Hendel Drehbuch: Annekatrin Hendel, Jörg Hauschild Kamera: Martin Farkas, Roman Schauerte, Annekatrin Hendel Montage: Jörg Hauschild Musik: Flake Mit Dirk Zingler, Christian Arbeit, Stefanie Vogler, Katharina Brendel, Susanne Kopplin, Christopher Trimmel Deutschland 2024 120 Minuten Kinostart: 04. April 2024 Verleih: Weltkino TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Weltkino

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Eine Anekdote: Noel Gallagher kommt nach Hause und seine Tochter fragt ihn, wo er denn gewesen wäre. Er wäre auf einem Meeting gewesen, antwortete er. Auf was für ein Meeting müsse er denn gehen, fragte die Tochter. Es wäre um ein Cover gegangen. Was ist denn ein Cover?

Wie erklärt man einem Kind in der heutigen Zeit, was ein Cover ist? Das kleine Bild auf deinem Telefon, sagte er also. Ach und für so etwas gibt es Meetings? Um es gleich vorwegzunehmen: Noel Gallagher ist zwar Teil der Runde, die in Squaring the Circle interviewt werden und die dann hauptsächlich Anekdoten erzählen. Aber eigentlich ist er gar nicht Teil der Geschichte.

Es bleibt Anton Corbijns Geheimnis, warum ein Spätgeborener in der illustren Runde von Altstars wie Jimmy Page, Roger Waters, Paul McCartney und so weiter, alles Kunden bzw. Auftraggeber der Grafik-Design-Firma »Hipgnosis«, dabei sein darf. Oasis, die Band, die Noel Gallagher berühmt machte, wurde erst 1991 gegründet. Hipgnosis war ein Kind der 60er und war Mitte der 80er bereits Schnee von gestern. Die Musikszene erfindet sich schließlich immer wieder neu.

Bei dem G in Hipgnosis handelt es sich nicht um einen Tippfehler. Das Wort setzt sich aus Hip und Gnosis zusammen. Einmal kurz nachschlagen, Gnosis heißt Wissen. Wie »Hipgnosis« zu seinem Namen gekommen ist, wird natürlich erzählt. Ich möchte aber nicht alles vorwegnehmen. Wobei Squaring the Circle wahrscheinlich gerade das Publikum anspricht, das deren Output kennt. Dazu gehört sicherlich auch Anton Corbijn, der ja nicht nur Photograph ist, sondern selbst Bands photographiert hat und somit Plattencover verantwortet. Zum Beispiel von der Band U2.

Fangen wir anders an. Was für eine Musik vermutet man, wenn auf dem Cover eine Kuh steht? Und sonst nichts. Ehrlich gesagt, kann man das gar nicht beantworten, denn die Nachgeborenen denken gleich an Pink Floyd. Damals muss der Einfall, eine Kuh auf den Plattenumschlag zu setzen ungleich erschütternder gewesen sein. Die Kuh auf dem Album Atom Heart Mother (1970) war auch eher ein Non-Cover. Es gab keinen Bezug zu der Musik. Pink Floyd wollte jedoch ein Artwork, dass sie aus der psychedelischen Ecke herausholte. Hipgnosis spielte mit Collagen, mit Doppelbelichtungen, mit chemischen Prozessen. Zu ihren Einflüssen zählten die surrealistischen Künstler.

Damals, dieses ominöse Damals, waren Plattencover geradezu Kunst. Man hielt das Cover noch in den Händen, während die Platte sich drehte. Über die Verbindung von dem Bild mit der sich die Band und der oder die Interpreten sich präsentierten, gab es einen Zusammenhang oder auch nicht.

Im Vordergrund stand stets die Idee, die dem Publikum vermittelt wird. Anton Corbijn, der seit seinem Film über Ian Curtis von Joy Division (Control, 2007) auch im Regie-Fach anerkannt wird, lässt nicht nur die allseits bekannten Musiker zu Wort kommen. Wie gesagt: Roger Waters, Paul McCartney, Robert Plant, Peter Gabriel, sondern er holt auch die Leute vom Fach vor die Kamera. Photographen, Photographinnen, Art-Designer, Graphik-Designer und so weiter.

Allen voran Aubrey Powell, die eine Hälfte von Hipgnosis. Er und Storm Thorgerson hatten die Firma auf die Beine gestellt. Storm Thorgerson, der mehr für die Vision und Integrität verantwortlich war, ist bereits verstorben. Die Beiden gingen damals, Mitte der 80er, nicht im Guten auseinander, aber Corbijn war der künstlerische Output und die Bedeutung von Plattencovern allgemein wichtiger, als etwas aufzuarbeiten, an dem eh nur noch einer der Beteiligten etwas dazu sagen kann.

Vielleicht fehlt etwas die Einordnung der Bedeutung von Plattencovern im Hier und Heute. Vielleicht ist Squaring the Circle, der Zusatz Die Geschichte von Hipgnosis fehlt in der deutschen Auswertung, auch etwas zu zahm. Die Anekdoten, soweit man sie nicht kennt, machen das aber über die moderate Filmlänge wieder wett und die offene, ehrliche Art von Aubrey Powell ist erfrischend.

Corbijn arbeitete viel mit Archivmaterial. Nicht alles an Aufnahmen war nach heutigem Standard ausreichend. Corbijn behalf sich. Er hält seine Dokumentation weitgehend in Schwarz-Weiß. Er behält aber die Plattencover in Farbe. Ein Effekt, der genau das hervorhebt, worauf es ihm ankommt. Eine Bewunderung für die Zeit, die Hipgnosis ermöglichte und die deren Kunst um der Kunst und der Freude daran aufleben lässt, ist sicherlich spürbar. Corbijn hält sich aber zurück. Der Umbruch in den 80ern mit Einsätzen der Synthiepop-Bands wie Depeche Mode wird noch mit eingeflochten. Eine Anekdote, dass damit auch Cobijns Zeit als Photograph von Depeche Mode anbrach, muss noch erzählt werden.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Squaring the Circle: The Story of Hipgnosis Regie: Anton Corbijn Drehbuch: Trish D. Chetty Kamera: Stuart Luck, Martijn van Broekhuizen Montage: Andrew Hulme Animation: Matt Curtis Mit Aubrey Powell, Robert Plant, Jimmy Page, Roger Waters, David Gilmour, Nick Mason, Paul McCartney, Peter Gabriel, Noel Gallagher, Glen Matlock, Merck Mercuriadis, David Gale, Jenny Lesmoir-Gordon, Storm Thorgerson, Roger Dean, Jill Furmanovsky, Richard Manning, Alex Henderson, George Hardie, Peter Saville, Humphrey Ocean, Graham Gouldman, Andrew Ellis, Carinthia West, Richard Evans Großbritannien 2022 101 Minuten Kinostart: 14. März 2024 Verleih: Splendid Film Festivals: Telluride 2022 / Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Dokumentarfilm #SplendidFilm #Sundance2023

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Augusto Góngora ist ein bekannter chilenischer Journalist. Seine Frau Paulina Urrutia ist Schauspielerin (z.B. in Fuga von Pablo Larraín) und war sogar ein paar Jahre lang im ersten Kabinett der Präsidentin Michelle Bachelet Ministerin für Kultur und Medien des Landes. Vor einigen Jahren wurde bei Góngora die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert, seitdem kümmert sie sich um ihn. Alzheimer ist nicht nur eine perfide und grausame Krankheit. Góngora kämpfte seit Jahrzehnten gegen das Vergessen der Untaten des Pinochet-Systems. Nun droht ihm seine Biografie zu entgleiten. Die Regisseurin Maite Alberdi vermittelt auch mit dem Material, das Urrutia von ihrem Mann aufgenommen hat, in einer Langzeitstudie die Stationen dieser Krankheit. Sie bringt uns den schwierigen Zusammenhalt eines Paares nahe, und sie zeigt uns, wie wichtig Erinnerungen im Privaten als auch in der Gesellschaft sind.

Für Góngora war Erinnerung alles, es war seine Lebensaufgabe. Sein Motto “Erinnerung ist Identität” bezog er auf die Erinnerung eines Landes. Er wirkte zum Beispiel bei dem Sammelband Chile, die verbotene Erinnerung mit. Nichts, was dieses mörderische Regime verbrochen hatte, sollte verdrängt und vergessen werden. Ein grausamer Scherz, dass er nun kaum noch weiß, wer die Frau ist, die ins Zimmer kommt, der sich vor dem Hochzeitsbild an der Wand fürchtet und nicht mehr weiß, wer er selbst ist. Die Diagnose, 2014 gestellt, hat die Beiden, die über 20 Jahre zusammen waren, sicherlich auch zusammengeschweißt. Bereits damals griff sie zur Kamera und man kann davon ausgehen, dass er damals auch seine Einwilligung gab. Sicherlich berühren einige Momente auch schamhaft, die kurze Lauflänge weist aber darauf hin, dass das Material, das über so lange Zeit entstanden ist, mit Bedacht ausgewählt wurde.

Viele Dokumentarfilme widmen sich Biografien oder behandeln das Schicksal von bekannten Persönlichkeiten. Die unendliche Erinnerung der Regisseurin Maite Alberdi vermittelt uns das Schicksal zweier Persönlichkeiten, die in ihrem Heimatland Chile sehr, bei uns vielleicht eher nicht so bekannt sind. Gleichzeitig behandelt es auch das Schicksal eines ganzen Landes und darüber hinaus berichtet es von den Tücken einer Krankheit. Es ist sicherlich nicht einfach, diese schweren Themen so zu verknüpfen, dass Würde, Liebe und auch die Erinnerung, auf die der Titel anspielt, zugänglich, wenn nicht gar mit Leichtigkeit verknüpft werden.

Alberdis letzter Film war eine deutsche Co-Produktion: Der Maulwurf – Ein Detektiv im Altersheim sollte eine Mischung aus Dokumentar- und Spionagefilm sein. Ein verdeckter Ermittler sollte von der Einsamkeit in einem chilenischen Altersheim berichten. Alberdis aktueller Film debütierte in Sundance am Anfang des Jahres 2023 und gewann in seiner Kategorie den Hauptpreis. Darauf folgte die Festivalvorstellung auf der Berlinale in der Sektion Panorama, später lief der Film unter anderem auf dem DOK.Fest München.

Es ist natürlich schwierig. Die Aufnahmen, die Paulina Urrutia von ihrem Mann macht und mit der sie gemeinsame Momente, sozusagen für die Erinnerung, einfängt, sind derart intim, dass man sich als Publikum stark berührt fühlt und vielleicht den Einblick als zu persönlich deutet. Überwiegt hier der Wille des Dokumentierens der Regisseurin oder der des Paares, das auch auf Grund der Pandemie, sich am Ende nur in seiner Zweisamkeit darstellen kann? Überwiegt das Festhalten des Gedächtnisses eines Einzelnen, das mehr und mehr verfällt, die Dringlichkeit, ein nationales Gedächtnis zu bewahren? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Der Film existiert und seine Hauptfigur, Augusto Góngora, ist im Mai diesen Jahres verstorben. Vielleicht ist Die unendliche Erinnerung auch einfach nur ein Film über die Liebe.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: La memoria infinita Regie & Konzept: Maite Alberdi Kamera: Pablo Valdés Montage: Carolina Siraqyan Musik: Miguel Miranda, José Miguel Tobar Mitwirkende: Paulina Urrutia, Augusto Góngora Chile 2023 85 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Piffl Medien TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #PifflMedien #Sundance2023 #Berlinale2023 #DokFestMünchen2023

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Venedig ist die Stadt der Lagunen. Venedig ist damit auch der Sehnsuchtsort eines stetig fließenden Stroms von Touristen. Kreuzfahrtschiffe spucken immer mehr von ihnen aus. Zahlreiche Dokumentarfilme widmen sich sowohl der Geschichte als auch der Bedrohung durch ihren Ruhm und ihrem Ruf.

Der Venezianer Giovanni Pellegrini betrachtet seine Stadt, in der er, so sagt er, in einem Boot geboren wurde, sowohl aus der Distanz als auch aus seinem Inneren heraus. Bevor Pellegrini die Stadt aus der Perspektive eines Dokumentarfilmers betrachtete, führte er Touristen in die abgelegensten Winkel. Auch hier ist sein Blick der eines Einheimischen, der jeden Kanal kennt. Aus der Vogelperspektive zeigt uns Pellegrini zuerst nur die Leere, die Weite und das Wasser. Eine kleine Insel, eine Sandbank, eine Kate. Erst dann wechselt er die Perspektive ins Jetzt, in der Venedig aus der Höhe sich wie eine Patchworkdecke präsentiert. Das Wasser ist fast das Hauptelement von Lagunaria und dann es geht hinein in die Kanäle und damit gelangen die Probleme der Stadt und ihrer Bewohner immer mehr in den Fokus.

Bereits 2020 hatte Pellegrini Venedig zum Thema genommen. In Citta' delle sirene berichtete Pellegrini aus erster Hand, wie eine Flut an Wasser die Stadt traf und zum Katastrophengebiet machte. Im November 2019 kämpften die Bewohner gegen das Hochwasser und in einem nachdenklichen Essay behandelte der Regisseur die Auswirkungen des Klimawandels auf die, die die Auswirkungen zuerst erleben werden.

Lagunaria ist quasi eine Fortsetzung. Noch dazu versiegte der Touristenandrang, als die Covid 19-Pandemie alles in einen Lockdown versetzte. Bilder der Leere stehen im Kontrast mit Bilder von eng beisammen stehenden Touristen auf den bekannten Stadtmarken.

Venedig ist in Lagunaria nur noch eine Erinnerung. Vielleicht gab es diese Stadt nie. Die Off-Stimme von Irene Petris erzählt aus der Zukunft von einer Stadt, die einmal war. Von einer “unsichtbaren Stadt”, so wie der von den Italienern so sehr verehrte Italo Calvino, sie behandelte. Mit den Booten und den Gondeln gleiten wir hinein in den Stadtraum und durch die engen Wasserwege. Die Kamera nimmt diesen Rhythmus auf. Ein Ruderschlag, noch ein Ruderschlag. Ein Gondoliere erklärt dem Nachwuchs den Weg des Wassers und wie man ihn sich zunutze macht. Restaurateure und Handwerker behandeln die Wunden, die das Wasser dem Boden, den Bodenmosaiken und den Wänden zufügt hat. Denn kampflos ergeben sich die Venezianer nicht.

Szenen vom Alltag der Bewohner sind dokumentarisch und doch ist Lagunaria mehr ein Essay und eine mahnende Betrachtung. Es steht zu befürchten, dass Venedig eines Tages wirklich vom Wasser verschlungen wird. Es ist ein Schicksal, das auch andere Städte, Küstenregionen, Inseln bedroht. Pellegrini erinnert an das, was gewesen sein wird, an die Würde und die Schönheit. Seine Mahnung an uns setzt er poetisch um. Wir sollten ihn trotzdem ernst nehmen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Lagunaria Regie & Konzept: Giovanni Pellegrini Kamera: Giovanni Pellegrini Montage: Chiara Andrich Musik: Filippo Perocco Mitwirkende: Romano Zen, Nicola Ebner, Daniele Serio, Giorgio Molin, Guido Jaccarino, Ada Stevelich, Emiliano Simon, Maria Fiano, Francesco Penzo, Christian Badetti, Andrea Berton, Luca Manprin, Uma de Polo, Davide de Polo, Chiara Pluchinotta, Marco Bassi, Melissa Mc Gill, Federico Mantovan, David Angeli, Enea Cabra, Nicoletta Passetti, Lorenzo Tassoni Erzählstimme: Irene Petris Italien 2021 86 Minuten Kinostart: 21. Dezember 2023 Verleih: Real Fiction TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction

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Sebastian Horn wurde Ende der 90er auf einem Schlag als Sänger der Bananafishbones bekannt. Gerd Baumann kennt man als Filmmusikkomponist. Für die Musik zu Wer früher stirbt ist länger tot bekam er damals den deutschen Filmpreis. Dessen Regisseur ist Marcus H. Rosenmüller. Hier wird er Rosi genannt. Horn und Baumann gründeten 2012 Dreiviertelblut, ein Duo. Inzwischen ist man ein Septett, aber es sind die beiden, die sich zum Beispiel in einer verlassenen Holzhütte im Winterwald treffen.

Während Rosi und Horn schon über die Zeit und das Vergehen philosophieren, landet Baumann mit dem Raumschiff und stapft im Weltraumanzug herein. Das ist natürlich inszeniert, spiegelt aber trefflich eine Philosophie und einen Schalk, den die Musik von Dreiviertelblut ausmacht. Die Kamera führt dabei Johannes Kaltenhauser, ein Kommilitone von Rosenmüller und sein Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen ist auch so ein Geheimtip unter den Musikdokumentationen. Dreiviertelblut singen in der bayrischen Mundart, Untertitel braucht es aber nicht, wirklich nicht.

Zwei Konzerte sind das Herzstück des Filmes, eines im Zirkus Krone, das andere im Prinzregententheater in München. Das Komponieren, die Themenfindung, die Proben, von allem gibt es etwas und noch viel mehr, aber nichts davon ist auch nur eine Nuance zu viel. Die Musik transportiert ein Lebensgefühl und die in Schwarz-Weiß gehaltenen Bilder vermitteln genau das, irgendwo in den Wäldern, irgendwo auf der Autobahn, irgendwo auf einer Bühne. Das alles verdichtet sich zu einem Moment. So ist das Leben.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Dreiviertelblut – Weltraumtouristen Regie: Marcus H. Rosenmüller, Johannes Kaltenhauser Drehbuch: Marcus H. Rosenmüller, Johannes Kaltenhauser Kamera: Johannes Kaltenhauser Schnitt: Peter König Musik: Dreiviertelblut Deutschland 2020 86 Minuten Verleih: 24 Bilder Kinostart: 6. August 2020 TMDB

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#Filmjahr2020 #Filmkritik #Dokumentarfilm #24Bilder #AusDemArchiv

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Der Dokumentarfilm Für Immer hat ein sehr schlichtes Plakat. Zwei Menschen sind darauf in Nahaufnahme zu sehen. Sie und er. Es zeigt sowohl, dass die Beiden sich stützen, als auch dass sich Beide eine Unabhängigkeit bewahrt haben. Vertrautheit liest man aus der Pose heraus, doch gleichzeitig wirkt es, als hätten beide etwas Eigenes dazu zu sagen. Vielleicht ist das auch nur eine Interpretation. Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Pia Lenz, für Alles gut – Ankommen in Deutschland bekam sie 2018 den Grimme-Preis, hat die Beiden, Eva und Dieter, eine ganze Wegstrecke lang begleitet.

Kennen gelernt hatte die Regisseurin die Beiden über eine Zeitungsanzeige. Die Idee zu einer filmischen Betrachtung einer Beziehung im Alter, die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Fürsorge und der Beschäftigung mit dem Abschied und dem Loslassen besteht, hatte sie aber schon, als sie ihre Großeltern betrachten konnte. Bei Eva und Dieter war eine gesunde Distanz vorhanden und gleichzeitig konnte sie sich, da sie mit nur minimaler Ausstattung zu arbeiten pflegt und folglich die Kamera weitgehend selbst führt und auch auf gesetztes Licht verzichtet, auf die kleinen Momente, auf Gesten, auf Zwischentöne konzentrieren.

Eva Simon, geborene Rose und Lehrerin von Beruf, führte seit früher Jugend Tagebuch, das zum Teil auch veröffentlicht worden ist. Den späteren Architekten Dieter Simon lernte sie 1952 kennen. Er war damals 18, sie war 16. Die Beiden wurden ein Paar. Sie heirateten ein paar Jahre später, sie bekamen Kinder. Es wurde nicht alles gut. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass eine Beziehung nur von der Liebe gehalten wird. Dabei mag man Schicksalsschläge und Umorientierungen kaum auf die Waage legen. Dass die Beiden zusammengeblieben sind, mag sogar erstaunen. Ihre Tagebücher gab Eva der Regisseurin erst im Laufe der Begegnung. Wahrscheinlich sahen Eva und Dieter auch die Chance sich vor einer Kamera zu öffnen, auf dass etwas von ihnen bleiben möge. Gerne wären sie den Weg bis zum Schluss gemeinsam gegangen. Leider hatte das Schicksal andere Pläne. Pia Lenz wählte sorgfältig aus, was und wie sie die Beiden je für sich und gemeinsam mit der Kamera aufnimmt. Ihr Ansatz ist dezent und gleichzeitig neugierig. Das Ehepaar begegnete ihr offen und ohne die unschönen Flecken in der Vergangenheit zu verdecken.

Das geschriebene Wort fiel Eva Simon wohl nicht schwer. Ein paar Jahre lang verfasste sie sogar Drehbücher für den deutschen Ableger der Sesamstraße, wie man auf ihrer Webseite, der unter ihrem Mädchennamen immer noch aufrufbar ist, erfährt. Manchmal fehlen jedoch die Worte. Dann greift Lenz auf die Tagebücher zurück, aus denen Nina Hoss aus dem Off Auszüge einspricht. Pia Lenz' Kamera zeigt derweil die Vertrautheit im Zusammenleben. Da braucht es auch keine Erzählung, sondern nur ihren aufmerksamen Blick.

Der Film ist eine Art des Abschiednehmens. Eva, die solange sie nur konnte, weiter Tagebuch führte, wurde schwächer. Die Besuche der Regisseurin wohl seltener. Auf das Drumherum, was das Altern mit sich bringt, insbesondere Pflegekräfte, verzichtet der Dokumentarfilm. Dass sie den fertigen Film nie zu dritt gemeinsam würden anschauen können, wussten alle drei, Eva und Dieter und Pia. Der Tod wird hier nicht ausgeklammert. Die Beschäftigung mit dem Leben, mit dem, was bleibt und dem was dann ist, nimmt die Regisseurin ernst und doch vermittelt sie es auf eine sehr berührende Weise.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Für immer Regie: Pia Lenz Konzept: Pia Lenz Kamera: Pia Lenz, Henning Wirtz Schnitt: Ulrike Tortora Musik: Alexis Taylor, Stella Sommer Mit Eva & Dieter Simon, Nina Hoss (Stimme) Deutschland 2023 87 Minuten Verleih: Weltkino Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 / Hamburg 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Weltkino #DokFestMünchen2023 #Hamburg2023

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Wer Museumsfilme mag, sollte sich Vermeer – Reise ins Licht nicht entgehen lassen. Wer es nicht in diese ultimative Vermeer-Ausstellung in Amsterdam dieses Jahr geschafft hat, sollte sich mit dieser Dokumentation trösten. Danach möchte man die einzelnen Häuser, die Bilder von Vermeer ihr Eigen nennen, zu gerne abklappern. Die Kuratoren der Ausstellung haben genau das gemacht. Die Planung war, einen möglichst umfassenden Katalog an Werken des Künstlers zusammenzubringen. Dafür musste das Team bei den anderen Museen anklopfen und dann verhandeln. Diplomatisches Geschick war gefragt, aber nicht immer gegeben. Suzanne Raes' Dokumentation ist quasi ein “Making-of” dieser Ausstellung.

Sie ermöglicht es dem Publikum einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Durchaus mit einem humorvollen Blick. Durchweg neugierig und mitunter richtig spannend. Mit ihrer Hilfe lernen wir die Arbeit der Kuratoren kennen. Wie wählt man Werke aus? Unter welchen Aspekten soll die Auswahl behandelt werden? Was macht man, wenn man einzelne Gemälde nicht bekommt? Bereits dieser Aspekt der Ausstellungsvorbereitung ist faszinierend. Bei Jan Vermeer van Delft (1632 – 1675) kommt nun erschwerend hinzu, dass man, obwohl nur etwa 37 Bilder bekannt sind, ihm nicht alle mit endgültiger Sicherheit zuschreibbar sind.

Darum machte man sich daran, die Werke auf ihre Echtheit hin auf den Prüfstand zu stellen. Die Fragestellung ist, unter anderem: was macht einen Vermeer zu einem Vermeer? Der Film will sich dem Künstler also über seine Kunst annähern. An biografischen Informationen gibt es ja nicht viel. Erkenntnisse über Faltenwürfe der Gewänder sind einfacher zu gewinnen. Dabei ist all das nur eine Perspektive, denn die Ausstellung soll nicht nur den Künstler erklären, sondern neue Aspekte finden und vermitteln. Denn letzten Endes ist eine gute Ausstellung eine, die das Publikum dazu bringt, mit neuen Augen zu sehen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Close to Vermeer Regie & Konzept: Suzanne Raes Kamera: Victor Horstink Montage: Noud Holtman Musik: Alex Simu Mitwirkende Jonathan Janson, Pieter Roelofs, Abbie Vandivere, Betsy Wieseman, Gregor J.M. Weber, Anna Krekeler, Xavier F. Salomon, Lisanne Wepler, Maud van Suylen, Otto Naumann, Thomas S. Kaplan, Annelies van Loon, Taco Dibbits, Adam Eaker, Silke Gatenbröcker, Alexandra Libby, Melanie Gifford Niederlande 2023 79 Minuten Kinostart: 9. November 2023 Verleih: Neue Visionen TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #NeueVisionen #DokFestMünchen2023

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“Anselm – Das Rauschen der Zeit” heißt Wim Wenders' Hommage an den Universalkünstler und persönlichen Freund Anselm Kiefer. Wenders und Kiefer kennen einander seit gut 30 Jahren. Beide sind 1945 geboren und haben ähnliche Nachkriegserfahrungen machen können. Das Schweigen über die Vergangenheit war Kiefers Sache nie. Seine Kunst sollte der Gesellschaft durchaus auch einen Spiegel vorhalten. Wim Wenders führt sein Publikum allerdings nicht in eine Biographie ein, sondern ermöglicht ihm, zumal in 3D, so wie er es bereits bei seinem Film über die Tänzerin und Choreographin Pina Bausch gemacht hatte, das monumentale Werk des Künstlers sinnlich zu erfahren.

“Anselm” mag als Dokumentarfilm gehandelt werden, aber vielmehr ist es ein Essay, ein Experimentalfilm. Gleichzeitig ist es aber auch in Teilen ein Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Anselm Kiefers Themen des Verfalls und des Krieges, des Todes und der Zerstörung werden hier mit der gesichtslosen Figur der idealisierten Frau, herunter gebrochen auf ein Brautkleid, eingeführt. Es sind flüsternde Stimmen, die das Publikum sowohl verwirren als auch hypnotisieren. Erst dann geht es in einer der Fabrikhallen, die Kiefer gemietet hat, um sie als Atelier zu nutzen. Riesige Räume, die nur die Kamera aus der Höhe fassen kann, sonst hätte man das Gefühl, man gehe zwischen den wuchtigen Werken, die nicht nur aus Farbe, sondern aus organischen Materialien wie Sand und Stroh und Stoff bestehen, verloren.

Der Meister selbst radelt durch diese Hallen und radelt quasi auch durch das, was man eine biographische Einordnung nennen könnte. Doch Wenders fordert sein Publikum subtil. Er erklärt den Künstler nicht, er erklärt auch die Werke nicht. Er ermöglicht jedoch eine Interpretation. Man schaut Kiefer beim Denken zu und manchmal bedeutet das auch, dass man ihn auf einer Wiese mit einer Sonnenblume sieht. Wenders führt kein Interview. Kiefer erklärt sich auch nicht selbst. Um trotzdem auch auf die Vergangenheit zu kommen, springt sein Sohn Daniel Kiefer ein und spielt ihn als jungen Mann zu einer Zeit, als dieser sich durchaus skandalträchtig gegen das Vergessen stemmte. Wenders geht sogar noch einen Schritt zurück und lässt ein Kind (seinen Großneffen Anton Wenders) den nachdenklichen und staunenden Anselm der Nachkriegszeit spielen, als die Spuren des Krieges und seiner Verwüstung noch alles beherrschten.

Es ist nicht nur allein die 3D-Technik, die Kiefers Kunst auf eine Weise erfahrbar macht, sondern auch die Perspektive, die die Kamera von Wenders treuen Weggefährten an selbiger, Franz Lustig, und dem Stereografen Sebastian Cramer, einnimmt, wenn sich Bildelemente überlagern oder den Künstler winzig neben seine Bilder werden lässt. Darüber hinaus wendet Wim Wenders eine Tonspur mit Geräuschen, Flüstern, Originalstimmen mit Zitaten von Inspiratoren wie Paul Celan und Ingeborg Bachmann und einer suggestiven Musik an, die Kiefers Sinne für Mythos und Geschichte spiegeln.

“Anselm – Das Rauschen der Zeit” ist im Wesen eine poetische Annäherung an Anselm Kiefer. Eine Museumsausstellung könnte Anselm Kiefer nur in Teilen gerecht werden. Wim Wenders hat dafür die Leinwand und er weiß sie zu nutzen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Anselm – Das Rauschen der Zeit Regie: Wim Wenders Kamera: Franz Lustig Schnitt: Maxine Goedicke Musik: Leonard Küßner Mit Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders Deutschland 2023 93 Minuten Verleih: DCM Kinostart: 12. Oktober 2023 Festivals: Cannes 2023 / Hamburg 2023 / Zürich 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #DCM

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Immer wieder geht der Blick nach China, wenn man von totaler Kontrolle und Überwachung der eigenen Bevölkerung auch nur nachdenkt. Nicht nur seit Edward Snowdens Aufdeckung der technischen Schnüffelmethoden, nicht nur seitdem zum Beispiel der Konzern Google sein ursprüngliches Motto “Don't Be Evil” (Tue nichts Schlechtes) abgelegt hat, ahnt man zumindest, dass etwas im Argen liegt und man seine Privatsphäre (und nicht nur diese) verteidigen muss.

Während bei uns oft noch eine Mentalität überwiegt, die ausdrückt: “dann wissen sie halt alles über mich” und meinen damit, dass sie passgenaue Werbung auf den Kanälen ausgespielt bekommen oder es herrscht ein naiver Fatalismus a la “sie wissen doch eh schon alles über mich”.

Wir ignorieren geschichtliche Vorkenntnisse, was der Staat schon alles über uns weiß, und wir ignorieren, wogegen die, die einst schon gegen die Volkszählung protestierten, gewarnt hatten.

Wohin das alles führen kann? Die Maut-Daten oder die Corona-Listen, die dann doch zweckentfremdet wurden? Apps, die Daten sammeln und übermitteln, anhand derer man zum Beispiel derzeit in den USA das Abtreibungsverbot überwachen kann? Bei all dem ist China schon viel weiter. Die (Selbst-)Zensur wurde verinnerlicht. Maßnahmen werden mitunter gar nicht erst in Frage gestellt. Dort greift die Überwachung und Kontrolle eines Systems derart in die Lebensgestaltung ein, dass es zumindest uns in sicherer Entfernung gruselt. Wir ahnen aber, dass das alles auch uns angeht.

Die chinesische Regisseurin und Produzentin Jialing Zhang mit journalistischer Ausbildung und Berufserfahrung lebt und arbeitet in den USA. Bereits in ihrem Debüt 2017, “Complicit”, berichtete sie von einem chinesischen Wanderarbeiter, der an einer Vergiftung litt und daraufhin die globale Elektronikbranche zur Verantwortung ziehen wollte. In “Total Trust”, eine internationale Produktion, bringt sie uns den überwachten Alltag von Frauen in China nahe, die gegen diese Kontrolle aufbegehren.

“Total Trust” sollte die Augen öffnen, wenn sie nicht bereits voll aufgerissen sind. Man möchte, man muss über diesen Film reden. Das Bild vom Frosch im Kochtopf, welches auch Jialing Zhang und ihre anonym bleibenden Mitwirkenden übermitteln, zeigt, dass während bei uns das Wasser nur langsam warm wird, es anderorts bereits brodelt.

Dabei ist es nicht nur die Technik, auch das wird in diesem dramaturgisch spannenden Dokumentarfilm deutlich, die uns die individuelle Freiheit nimmt, sondern auch unzählige MitbürgerInnen und NachbarInnen, die dieses System stützen. Freiwillig oder auch unfreiwillig. Mit seinen Beispielen, die an unserem Sinn für Gerechtigkeit und Freiheit rütteln, ist “Total Trust” beeindruckend. Die Distanz in Raum und den diktatorischen Möglichkeiten überwindet Regie und Schnitt gekonnt und radikal.

Jialing Zhang wählte als ihre Protagonistinnen eine Journalistin, eine Anwältin, eine Aktivistin. Nur am Rande kommen einfache Leute ins Bild, die sich mal eben solidarisch zeigten und sich prompt wundern, dass die Überwachung nun auch sie ins Visier genommen hat.

Wenn Schergen des Systems vor der Wohnungstür kampieren, damit man an bestimmten Tagen gar nicht die Chance hat, das Haus zu verlassen, dann sollte das einem durchaus Angst machen. Hier liegt auch der Fokus der Regisseurin. Wie lebt es sich mit dieser Überwachung. Was macht das mit einem? Wie hält man das aus? Die drei konkreten Beispiele mögen Erinnerungen wecken und Befürchtungen schüren, angesichts politischer Verschiebungen, die auch unser Leben bestimmen können, sollten wir gegensteuern, bevor die Überwachung uns nicht nur Produktempfehlungen beschert.

Eneh

Dokumentarfilm Regie: Jialing Zhang Deutschland / Niederlande 2023 97 Minuten. Verleih: Piffl Medien Kinostart: 5. Oktober 2023

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #PifflMedien

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