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RealFiction

Venedig ist die Stadt der Lagunen. Venedig ist damit auch der Sehnsuchtsort eines stetig fließenden Stroms von Touristen. Kreuzfahrtschiffe spucken immer mehr von ihnen aus. Zahlreiche Dokumentarfilme widmen sich sowohl der Geschichte als auch der Bedrohung durch ihren Ruhm und ihrem Ruf.

Der Venezianer Giovanni Pellegrini betrachtet seine Stadt, in der er, so sagt er, in einem Boot geboren wurde, sowohl aus der Distanz als auch aus seinem Inneren heraus. Bevor Pellegrini die Stadt aus der Perspektive eines Dokumentarfilmers betrachtete, führte er Touristen in die abgelegensten Winkel. Auch hier ist sein Blick der eines Einheimischen, der jeden Kanal kennt. Aus der Vogelperspektive zeigt uns Pellegrini zuerst nur die Leere, die Weite und das Wasser. Eine kleine Insel, eine Sandbank, eine Kate. Erst dann wechselt er die Perspektive ins Jetzt, in der Venedig aus der Höhe sich wie eine Patchworkdecke präsentiert. Das Wasser ist fast das Hauptelement von Lagunaria und dann es geht hinein in die Kanäle und damit gelangen die Probleme der Stadt und ihrer Bewohner immer mehr in den Fokus.

Bereits 2020 hatte Pellegrini Venedig zum Thema genommen. In Citta' delle sirene berichtete Pellegrini aus erster Hand, wie eine Flut an Wasser die Stadt traf und zum Katastrophengebiet machte. Im November 2019 kämpften die Bewohner gegen das Hochwasser und in einem nachdenklichen Essay behandelte der Regisseur die Auswirkungen des Klimawandels auf die, die die Auswirkungen zuerst erleben werden.

Lagunaria ist quasi eine Fortsetzung. Noch dazu versiegte der Touristenandrang, als die Covid 19-Pandemie alles in einen Lockdown versetzte. Bilder der Leere stehen im Kontrast mit Bilder von eng beisammen stehenden Touristen auf den bekannten Stadtmarken.

Venedig ist in Lagunaria nur noch eine Erinnerung. Vielleicht gab es diese Stadt nie. Die Off-Stimme von Irene Petris erzählt aus der Zukunft von einer Stadt, die einmal war. Von einer “unsichtbaren Stadt”, so wie der von den Italienern so sehr verehrte Italo Calvino, sie behandelte. Mit den Booten und den Gondeln gleiten wir hinein in den Stadtraum und durch die engen Wasserwege. Die Kamera nimmt diesen Rhythmus auf. Ein Ruderschlag, noch ein Ruderschlag. Ein Gondoliere erklärt dem Nachwuchs den Weg des Wassers und wie man ihn sich zunutze macht. Restaurateure und Handwerker behandeln die Wunden, die das Wasser dem Boden, den Bodenmosaiken und den Wänden zufügt hat. Denn kampflos ergeben sich die Venezianer nicht.

Szenen vom Alltag der Bewohner sind dokumentarisch und doch ist Lagunaria mehr ein Essay und eine mahnende Betrachtung. Es steht zu befürchten, dass Venedig eines Tages wirklich vom Wasser verschlungen wird. Es ist ein Schicksal, das auch andere Städte, Küstenregionen, Inseln bedroht. Pellegrini erinnert an das, was gewesen sein wird, an die Würde und die Schönheit. Seine Mahnung an uns setzt er poetisch um. Wir sollten ihn trotzdem ernst nehmen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Lagunaria Regie & Konzept: Giovanni Pellegrini Kamera: Giovanni Pellegrini Montage: Chiara Andrich Musik: Filippo Perocco Mitwirkende: Romano Zen, Nicola Ebner, Daniele Serio, Giorgio Molin, Guido Jaccarino, Ada Stevelich, Emiliano Simon, Maria Fiano, Francesco Penzo, Christian Badetti, Andrea Berton, Luca Manprin, Uma de Polo, Davide de Polo, Chiara Pluchinotta, Marco Bassi, Melissa Mc Gill, Federico Mantovan, David Angeli, Enea Cabra, Nicoletta Passetti, Lorenzo Tassoni Erzählstimme: Irene Petris Italien 2021 86 Minuten Kinostart: 21. Dezember 2023 Verleih: Real Fiction TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction

© Eneh

Biografien über Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Musiker und Musikerinnen, Fotografen und sehr selten Fotografinnen, bildende Künstler und selten Künstlerinnen sind ein beliebtes Genre. Da spielt vielleicht die Neugierde eine Rolle, wer denn der Mensch hinter einem Kunstwerk ist. Oft erklären uns diese Dokumentarfilme und Dokumentationen einfach auch die Werke, ganz kompakt, so dass der Mensch vor der Leinwand nicht allzuviel mit ins Kino bringen muss, außer etwas Neugierde und Interesse.

Thomas Schütte ist Bildender Künstler, Bilderhauer, Skulpteur, Zeichner und es gibt von ihm auch Architekturmodelle. Er arbeitet mit Ton, mit Bronze und mit Glas. Der Dokumentarfilm, der auch gerade erst auf dem Dok.Fest München gezeigt worden ist, trägt, wie so oft, den Namen im Titel. Doch das Konzept wurde variiert. Entscheidend ist hier der Zusatztitel “Ich bin nicht allein”. Die Regisseurin Corinna Belz zeigt den Künstler bei seiner Arbeit. Nicht die Biografie steht im Mittelpunkt, sondern das Entstehen eines Werkes, sowohl der kreative als auch der technische Prozess. Entscheidend ist, dass hier die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den spezialisierten Werkstätten, auf die der Künstler angewiesen ist, gleichberechtigt eingebunden wurden.

Die vertrauten Mithelfenden geben durchaus Impulse und es sind die Dialoge, die Momente des Austausches, die dem Publikum einen ganz neuen Blick auf den Schaffensprozess vermitteln. Da findet sich irgendwo in den Regalen einer Werkstatt ein älteres Stück Bronze, ein Nebenprodukt, das einst nicht weg geworfen wurde. Die Werkstatt, es handelt sich um die Gießerei Kayser, kontaktiert den Künstler, man habe da was beim Aufräumen gefunden. Das kleine Modell einer zurückgelehnten Figur steht nun Modell für etwas Neues, natürlich etwas Großes. Die kleine Figur wird zu Die Nixe. Corinna Belz begleitete Schütte über einen längeren Zeitraum und so wird die Nixe zu einem roten Faden.

Corinna Belz, ihr letzter Film machte einen Abstecher In die Uffizien, hat ein feines Gespür für das Künstlerische. Sie kommt von der Philosophie und Kunstgeschichte und hat darüber hinaus auch Germanistik und Medienwissenschaft studiert. Bereits 2007, in ihrem ersten Film hatte sie sich einem Werk, dem Kölner Domfenster, von Gerhard Richter gewidmet. Ihr Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting (2011) gilt als der Film über Richter. Der Sprung von Richter zu Schütte ist so groß nicht. Immerhin war Schütte Meisterschüler von, unter anderem, Richter. Belz nimmt Schütte quasi auf einen Spaziergang durch sein Werk mit. Allerlei Anekdoten gibt es dabei als Dreingabe. Schütte, der doch als Alleingänger gilt, wirkt hier aufgeschlossen und humorvoll. Er lässt sich auch auf die neuen digitalen Hilfsmittel ein, und wenn mal etwas schief geht, nutzt er den Zufall als Chance.

Thomas Schütte – Ich bin nicht allein zeigt den Schaffensprozess aus neuen Blickwinkeln. Nicht alles wird erklärt, Belz ist für ihre Neugierde bekannte und weiß diese auch zu vermitteln. Sie zeigt Kunst und künstlerisches Wirken als etwas, und auch dafür hat Schütte eine Anekdote, zu dem wir alle Zugang finden können.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Thomas Schütte – Ich bin nicht allein Regie: Corinna Belz Konzept: Corinna Belz Kamera: David Wesemann, Julia Katinka Cramer Montage: Rudi Heinen Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas Mitwirkende: Thomas Schütte, Peter Freeman, Lluïsa Sàrries Zgonc, Paulina Pobocha, Rolf Kayser, Robert Fischer, Rupert Huber, Niels Dietrich, Heide Jansen, Bernd Kastner, Pietro Sparta, Dieter Schwarz, Antonio Berengo, Nicola Causin, Andrea Salvagno, Sergej Natokin, Gazmend Lipa, Wilson Amer Mati, Sascha Ruf, Sergej Tichanow Deutschland 2022 94 Minuten Verleih: Real Fiction Kinostart: 29. Juni 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction #DokFestMünchen2023

© Eneh