Cineneh

DokFestMünchen2023

Augusto Góngora ist ein bekannter chilenischer Journalist. Seine Frau Paulina Urrutia ist Schauspielerin (z.B. in Fuga von Pablo Larraín) und war sogar ein paar Jahre lang im ersten Kabinett der Präsidentin Michelle Bachelet Ministerin für Kultur und Medien des Landes. Vor einigen Jahren wurde bei Góngora die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert, seitdem kümmert sie sich um ihn. Alzheimer ist nicht nur eine perfide und grausame Krankheit. Góngora kämpfte seit Jahrzehnten gegen das Vergessen der Untaten des Pinochet-Systems. Nun droht ihm seine Biografie zu entgleiten. Die Regisseurin Maite Alberdi vermittelt auch mit dem Material, das Urrutia von ihrem Mann aufgenommen hat, in einer Langzeitstudie die Stationen dieser Krankheit. Sie bringt uns den schwierigen Zusammenhalt eines Paares nahe, und sie zeigt uns, wie wichtig Erinnerungen im Privaten als auch in der Gesellschaft sind.

Für Góngora war Erinnerung alles, es war seine Lebensaufgabe. Sein Motto “Erinnerung ist Identität” bezog er auf die Erinnerung eines Landes. Er wirkte zum Beispiel bei dem Sammelband Chile, die verbotene Erinnerung mit. Nichts, was dieses mörderische Regime verbrochen hatte, sollte verdrängt und vergessen werden. Ein grausamer Scherz, dass er nun kaum noch weiß, wer die Frau ist, die ins Zimmer kommt, der sich vor dem Hochzeitsbild an der Wand fürchtet und nicht mehr weiß, wer er selbst ist. Die Diagnose, 2014 gestellt, hat die Beiden, die über 20 Jahre zusammen waren, sicherlich auch zusammengeschweißt. Bereits damals griff sie zur Kamera und man kann davon ausgehen, dass er damals auch seine Einwilligung gab. Sicherlich berühren einige Momente auch schamhaft, die kurze Lauflänge weist aber darauf hin, dass das Material, das über so lange Zeit entstanden ist, mit Bedacht ausgewählt wurde.

Viele Dokumentarfilme widmen sich Biografien oder behandeln das Schicksal von bekannten Persönlichkeiten. Die unendliche Erinnerung der Regisseurin Maite Alberdi vermittelt uns das Schicksal zweier Persönlichkeiten, die in ihrem Heimatland Chile sehr, bei uns vielleicht eher nicht so bekannt sind. Gleichzeitig behandelt es auch das Schicksal eines ganzen Landes und darüber hinaus berichtet es von den Tücken einer Krankheit. Es ist sicherlich nicht einfach, diese schweren Themen so zu verknüpfen, dass Würde, Liebe und auch die Erinnerung, auf die der Titel anspielt, zugänglich, wenn nicht gar mit Leichtigkeit verknüpft werden.

Alberdis letzter Film war eine deutsche Co-Produktion: Der Maulwurf – Ein Detektiv im Altersheim sollte eine Mischung aus Dokumentar- und Spionagefilm sein. Ein verdeckter Ermittler sollte von der Einsamkeit in einem chilenischen Altersheim berichten. Alberdis aktueller Film debütierte in Sundance am Anfang des Jahres 2023 und gewann in seiner Kategorie den Hauptpreis. Darauf folgte die Festivalvorstellung auf der Berlinale in der Sektion Panorama, später lief der Film unter anderem auf dem DOK.Fest München.

Es ist natürlich schwierig. Die Aufnahmen, die Paulina Urrutia von ihrem Mann macht und mit der sie gemeinsame Momente, sozusagen für die Erinnerung, einfängt, sind derart intim, dass man sich als Publikum stark berührt fühlt und vielleicht den Einblick als zu persönlich deutet. Überwiegt hier der Wille des Dokumentierens der Regisseurin oder der des Paares, das auch auf Grund der Pandemie, sich am Ende nur in seiner Zweisamkeit darstellen kann? Überwiegt das Festhalten des Gedächtnisses eines Einzelnen, das mehr und mehr verfällt, die Dringlichkeit, ein nationales Gedächtnis zu bewahren? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Der Film existiert und seine Hauptfigur, Augusto Góngora, ist im Mai diesen Jahres verstorben. Vielleicht ist Die unendliche Erinnerung auch einfach nur ein Film über die Liebe.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: La memoria infinita Regie & Konzept: Maite Alberdi Kamera: Pablo Valdés Montage: Carolina Siraqyan Musik: Miguel Miranda, José Miguel Tobar Mitwirkende: Paulina Urrutia, Augusto Góngora Chile 2023 85 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Piffl Medien TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #PifflMedien #Sundance2023 #Berlinale2023 #DokFestMünchen2023

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Der Dokumentarfilm Für Immer hat ein sehr schlichtes Plakat. Zwei Menschen sind darauf in Nahaufnahme zu sehen. Sie und er. Es zeigt sowohl, dass die Beiden sich stützen, als auch dass sich Beide eine Unabhängigkeit bewahrt haben. Vertrautheit liest man aus der Pose heraus, doch gleichzeitig wirkt es, als hätten beide etwas Eigenes dazu zu sagen. Vielleicht ist das auch nur eine Interpretation. Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Pia Lenz, für Alles gut – Ankommen in Deutschland bekam sie 2018 den Grimme-Preis, hat die Beiden, Eva und Dieter, eine ganze Wegstrecke lang begleitet.

Kennen gelernt hatte die Regisseurin die Beiden über eine Zeitungsanzeige. Die Idee zu einer filmischen Betrachtung einer Beziehung im Alter, die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Fürsorge und der Beschäftigung mit dem Abschied und dem Loslassen besteht, hatte sie aber schon, als sie ihre Großeltern betrachten konnte. Bei Eva und Dieter war eine gesunde Distanz vorhanden und gleichzeitig konnte sie sich, da sie mit nur minimaler Ausstattung zu arbeiten pflegt und folglich die Kamera weitgehend selbst führt und auch auf gesetztes Licht verzichtet, auf die kleinen Momente, auf Gesten, auf Zwischentöne konzentrieren.

Eva Simon, geborene Rose und Lehrerin von Beruf, führte seit früher Jugend Tagebuch, das zum Teil auch veröffentlicht worden ist. Den späteren Architekten Dieter Simon lernte sie 1952 kennen. Er war damals 18, sie war 16. Die Beiden wurden ein Paar. Sie heirateten ein paar Jahre später, sie bekamen Kinder. Es wurde nicht alles gut. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass eine Beziehung nur von der Liebe gehalten wird. Dabei mag man Schicksalsschläge und Umorientierungen kaum auf die Waage legen. Dass die Beiden zusammengeblieben sind, mag sogar erstaunen. Ihre Tagebücher gab Eva der Regisseurin erst im Laufe der Begegnung. Wahrscheinlich sahen Eva und Dieter auch die Chance sich vor einer Kamera zu öffnen, auf dass etwas von ihnen bleiben möge. Gerne wären sie den Weg bis zum Schluss gemeinsam gegangen. Leider hatte das Schicksal andere Pläne. Pia Lenz wählte sorgfältig aus, was und wie sie die Beiden je für sich und gemeinsam mit der Kamera aufnimmt. Ihr Ansatz ist dezent und gleichzeitig neugierig. Das Ehepaar begegnete ihr offen und ohne die unschönen Flecken in der Vergangenheit zu verdecken.

Das geschriebene Wort fiel Eva Simon wohl nicht schwer. Ein paar Jahre lang verfasste sie sogar Drehbücher für den deutschen Ableger der Sesamstraße, wie man auf ihrer Webseite, der unter ihrem Mädchennamen immer noch aufrufbar ist, erfährt. Manchmal fehlen jedoch die Worte. Dann greift Lenz auf die Tagebücher zurück, aus denen Nina Hoss aus dem Off Auszüge einspricht. Pia Lenz' Kamera zeigt derweil die Vertrautheit im Zusammenleben. Da braucht es auch keine Erzählung, sondern nur ihren aufmerksamen Blick.

Der Film ist eine Art des Abschiednehmens. Eva, die solange sie nur konnte, weiter Tagebuch führte, wurde schwächer. Die Besuche der Regisseurin wohl seltener. Auf das Drumherum, was das Altern mit sich bringt, insbesondere Pflegekräfte, verzichtet der Dokumentarfilm. Dass sie den fertigen Film nie zu dritt gemeinsam würden anschauen können, wussten alle drei, Eva und Dieter und Pia. Der Tod wird hier nicht ausgeklammert. Die Beschäftigung mit dem Leben, mit dem, was bleibt und dem was dann ist, nimmt die Regisseurin ernst und doch vermittelt sie es auf eine sehr berührende Weise.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Für immer Regie: Pia Lenz Konzept: Pia Lenz Kamera: Pia Lenz, Henning Wirtz Schnitt: Ulrike Tortora Musik: Alexis Taylor, Stella Sommer Mit Eva & Dieter Simon, Nina Hoss (Stimme) Deutschland 2023 87 Minuten Verleih: Weltkino Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 / Hamburg 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Weltkino #DokFestMünchen2023 #Hamburg2023

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Wer Museumsfilme mag, sollte sich Vermeer – Reise ins Licht nicht entgehen lassen. Wer es nicht in diese ultimative Vermeer-Ausstellung in Amsterdam dieses Jahr geschafft hat, sollte sich mit dieser Dokumentation trösten. Danach möchte man die einzelnen Häuser, die Bilder von Vermeer ihr Eigen nennen, zu gerne abklappern. Die Kuratoren der Ausstellung haben genau das gemacht. Die Planung war, einen möglichst umfassenden Katalog an Werken des Künstlers zusammenzubringen. Dafür musste das Team bei den anderen Museen anklopfen und dann verhandeln. Diplomatisches Geschick war gefragt, aber nicht immer gegeben. Suzanne Raes' Dokumentation ist quasi ein “Making-of” dieser Ausstellung.

Sie ermöglicht es dem Publikum einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Durchaus mit einem humorvollen Blick. Durchweg neugierig und mitunter richtig spannend. Mit ihrer Hilfe lernen wir die Arbeit der Kuratoren kennen. Wie wählt man Werke aus? Unter welchen Aspekten soll die Auswahl behandelt werden? Was macht man, wenn man einzelne Gemälde nicht bekommt? Bereits dieser Aspekt der Ausstellungsvorbereitung ist faszinierend. Bei Jan Vermeer van Delft (1632 – 1675) kommt nun erschwerend hinzu, dass man, obwohl nur etwa 37 Bilder bekannt sind, ihm nicht alle mit endgültiger Sicherheit zuschreibbar sind.

Darum machte man sich daran, die Werke auf ihre Echtheit hin auf den Prüfstand zu stellen. Die Fragestellung ist, unter anderem: was macht einen Vermeer zu einem Vermeer? Der Film will sich dem Künstler also über seine Kunst annähern. An biografischen Informationen gibt es ja nicht viel. Erkenntnisse über Faltenwürfe der Gewänder sind einfacher zu gewinnen. Dabei ist all das nur eine Perspektive, denn die Ausstellung soll nicht nur den Künstler erklären, sondern neue Aspekte finden und vermitteln. Denn letzten Endes ist eine gute Ausstellung eine, die das Publikum dazu bringt, mit neuen Augen zu sehen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Close to Vermeer Regie & Konzept: Suzanne Raes Kamera: Victor Horstink Montage: Noud Holtman Musik: Alex Simu Mitwirkende Jonathan Janson, Pieter Roelofs, Abbie Vandivere, Betsy Wieseman, Gregor J.M. Weber, Anna Krekeler, Xavier F. Salomon, Lisanne Wepler, Maud van Suylen, Otto Naumann, Thomas S. Kaplan, Annelies van Loon, Taco Dibbits, Adam Eaker, Silke Gatenbröcker, Alexandra Libby, Melanie Gifford Niederlande 2023 79 Minuten Kinostart: 9. November 2023 Verleih: Neue Visionen TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #NeueVisionen #DokFestMünchen2023

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Sieben Jahre, sieben Winter saß die junge Studentin, Reyhaneh Jabbari, im Iran im Gefängnis, bis sie, verurteilt als Mörderin, hingerichtet worden ist. Damals, das waren die Jahre 2007 bis 2014, war das in allen Medien. Reyhaneh Jabbari war gerade mal 19 Jahre alt. Neben ihrem Studium arbeitete sie als Inneneinrichterin. Ein Jobangebot wurde ihr zum Verhängnis. Für einen Auftrag war sie auf einer Wohnungsbegehung, die sich als Falle herausstellte. Der Auftraggeber hatte die Tür verschlossen. Sie wehrte sich und in Notwehr verursachte sie den Tod ihres Vergewaltigers. Man wertete ihre Abwehr als Mord. Darauf stand die Todesstrafe, beziehungsweise die “Blutrache”.

Sieben Winter in Teheran war dieses Jahr auf der 73. Berlinale der Eröffnungsfilm der Sektion Perspektive Deutsches Kino, der schließlich zum Gewinner des Kompass-Perspektive-Preises 2023 gekürt wurde. International debütierte der Dokumentarfilm gerade in Dänemark auf dem CPH:DOX Festival. Neben dem Achtung Berlin Festival wird auch das DOK.fest München den Film im Mai 2023 zeigen. Einen Verleih hat der Film inzwischen.

Die Jury für den Kompass-Perspektive-Preis begründete ihre Entscheidung: “Gebannt verfolgen wir die Geschichte einer jungen Frau, die sich der institutionalisierten männlichen Gewalt widersetzt. Dabei entsteht das einfühlsame Porträt einer Familie, die im Kampf gegen ein Unrechtsregime zerrissen wird.” Die Jury hebt hervor: “Dieser Film tut weh und verstört.”

Reyhaneh Jabbari hätte die Möglichkeit gehabt, ihre Anschuldigung der Vergewaltigung zurückzunehmen. Die Angehörigen des “Opfers”, denn die Familie des Täters gilt hier als die “Familie des Opfers”, hätten ihr “verzeihen” können. Mit einer Lüge wollte Jabbari jedoch nicht leben, sie blieb bei der Wahrheit.

Steffi Niederzoll ist Absolventin der Kunsthochschule für Medien Köln und der Escuela Internacional de Cine y Televisión in Kuba. Bereits ihren mittellangen Film Lea (2008) stellte sie in der Perspektive-Sektion der Berlinale vor. Ihr erster langer Dokumentarfilm zeichnet sich durch ihre Zurückhaltung aus. Im Mittelpunkt stehen die Geschichte von Reyhaneh Jabbari und die Bemühungen ihrer Familie, ihre Freilassung zu bewirken.

Steffi Niederzoll arbeitete eng mit der Familie zusammen. Mutter und Schwester von Reyhaneh Jabbari leben inzwischen in Deutschland. Der Vater ist, in Ermangelung einer Ausreisegenehmigung, in Teheran zurückgeblieben. Die Gespräche mit der Familie wurden darum teils von einem anonymen Stab gedreht. Die Familie stellte Steffi Niederzoll geheime Aufnahmen der Familie aus dem Gefängnis, Telefongespräche und Briefe zur Verfügung. Auszüge aus den Briefen werden von der Exiliranerin und Schauspielerin Zar Amir-Ebrahimi (wir kennen sie aus Holy Spider) aus dem Off vorgelesen.

Anhand des Materials werden wir Zeuge eines aussichtslosen Kampfes gegen Traditionen, den iranischen Institutionen und einer Gesellschaft, in der das Patriarchat diktiert. Die Regierung ist an der Wahrheit nicht interessiert. Denn Reyhaneh Jabbaris Vergewaltiger galt als ein religiöser Mann und so konnte er per se kein Vergewaltiger sein. Er war übrigens als Geschäftsmann und darüberhinaus auch als Mann im Geheimdienst zu gut vernetzt.

Sieben Jahre in Teheran zeigt aber nicht nur die aussichtslosen Verhandlungen, sondern zeigt den Lebensweg einer jungen Frau, die durch die Umstände wächst. So erfahren wir, dass sie sich mehr und mehr um die Belange ihrer Mithäftlingen kümmerte. Gleichzeitig lernen wir ihre Familie kennen, die ebenso an der Situation wachsen muss. Sie lernen alle Kanäle zu nutzen, bemühen sich um Aussöhnung und müssen doch auch mit der Entscheidung der Tochter, bei der Wahrheit zu bleiben, Frieden schließen.

Sieben Jahre in Teheran stellt sein Thema der Form voran. Gerade dadurch gibt der Dokumentarfilm Reyhaneh Jabbari und denen, die vom iranischen Regime unterdrückt und vernichtet worden sind, eine Stimme weit über den Tod hinaus.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Seven Winters in Tehran Regie & Konzept: Steffi Niederzoll Kamera: Julia Daschner Montage: Nicole Kortlüke Musik: Flemming Nordkrog Mit Reyhaneh Jabbari, Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari, Parvaneh Hajilou, Mohammad Mostafaei, Samira Mokarrami Deutschland / Frankreich 2023 98 Minuten Kinostart: 14. September 2023 Verleih: Little Dream Pictures Festivals: Berlinale 2023 / Achtung Berlin 2023 / Dok.Fest München 2023 TMDB

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Biografien über Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Musiker und Musikerinnen, Fotografen und sehr selten Fotografinnen, bildende Künstler und selten Künstlerinnen sind ein beliebtes Genre. Da spielt vielleicht die Neugierde eine Rolle, wer denn der Mensch hinter einem Kunstwerk ist. Oft erklären uns diese Dokumentarfilme und Dokumentationen einfach auch die Werke, ganz kompakt, so dass der Mensch vor der Leinwand nicht allzuviel mit ins Kino bringen muss, außer etwas Neugierde und Interesse.

Thomas Schütte ist Bildender Künstler, Bilderhauer, Skulpteur, Zeichner und es gibt von ihm auch Architekturmodelle. Er arbeitet mit Ton, mit Bronze und mit Glas. Der Dokumentarfilm, der auch gerade erst auf dem Dok.Fest München gezeigt worden ist, trägt, wie so oft, den Namen im Titel. Doch das Konzept wurde variiert. Entscheidend ist hier der Zusatztitel “Ich bin nicht allein”. Die Regisseurin Corinna Belz zeigt den Künstler bei seiner Arbeit. Nicht die Biografie steht im Mittelpunkt, sondern das Entstehen eines Werkes, sowohl der kreative als auch der technische Prozess. Entscheidend ist, dass hier die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den spezialisierten Werkstätten, auf die der Künstler angewiesen ist, gleichberechtigt eingebunden wurden.

Die vertrauten Mithelfenden geben durchaus Impulse und es sind die Dialoge, die Momente des Austausches, die dem Publikum einen ganz neuen Blick auf den Schaffensprozess vermitteln. Da findet sich irgendwo in den Regalen einer Werkstatt ein älteres Stück Bronze, ein Nebenprodukt, das einst nicht weg geworfen wurde. Die Werkstatt, es handelt sich um die Gießerei Kayser, kontaktiert den Künstler, man habe da was beim Aufräumen gefunden. Das kleine Modell einer zurückgelehnten Figur steht nun Modell für etwas Neues, natürlich etwas Großes. Die kleine Figur wird zu Die Nixe. Corinna Belz begleitete Schütte über einen längeren Zeitraum und so wird die Nixe zu einem roten Faden.

Corinna Belz, ihr letzter Film machte einen Abstecher In die Uffizien, hat ein feines Gespür für das Künstlerische. Sie kommt von der Philosophie und Kunstgeschichte und hat darüber hinaus auch Germanistik und Medienwissenschaft studiert. Bereits 2007, in ihrem ersten Film hatte sie sich einem Werk, dem Kölner Domfenster, von Gerhard Richter gewidmet. Ihr Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting (2011) gilt als der Film über Richter. Der Sprung von Richter zu Schütte ist so groß nicht. Immerhin war Schütte Meisterschüler von, unter anderem, Richter. Belz nimmt Schütte quasi auf einen Spaziergang durch sein Werk mit. Allerlei Anekdoten gibt es dabei als Dreingabe. Schütte, der doch als Alleingänger gilt, wirkt hier aufgeschlossen und humorvoll. Er lässt sich auch auf die neuen digitalen Hilfsmittel ein, und wenn mal etwas schief geht, nutzt er den Zufall als Chance.

Thomas Schütte – Ich bin nicht allein zeigt den Schaffensprozess aus neuen Blickwinkeln. Nicht alles wird erklärt, Belz ist für ihre Neugierde bekannte und weiß diese auch zu vermitteln. Sie zeigt Kunst und künstlerisches Wirken als etwas, und auch dafür hat Schütte eine Anekdote, zu dem wir alle Zugang finden können.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Thomas Schütte – Ich bin nicht allein Regie: Corinna Belz Konzept: Corinna Belz Kamera: David Wesemann, Julia Katinka Cramer Montage: Rudi Heinen Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas Mitwirkende: Thomas Schütte, Peter Freeman, Lluïsa Sàrries Zgonc, Paulina Pobocha, Rolf Kayser, Robert Fischer, Rupert Huber, Niels Dietrich, Heide Jansen, Bernd Kastner, Pietro Sparta, Dieter Schwarz, Antonio Berengo, Nicola Causin, Andrea Salvagno, Sergej Natokin, Gazmend Lipa, Wilson Amer Mati, Sascha Ruf, Sergej Tichanow Deutschland 2022 94 Minuten Verleih: Real Fiction Kinostart: 29. Juni 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction #DokFestMünchen2023

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