Cineneh

Berlinale2023

Augusto Góngora ist ein bekannter chilenischer Journalist. Seine Frau Paulina Urrutia ist Schauspielerin (z.B. in Fuga von Pablo Larraín) und war sogar ein paar Jahre lang im ersten Kabinett der Präsidentin Michelle Bachelet Ministerin für Kultur und Medien des Landes. Vor einigen Jahren wurde bei Góngora die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert, seitdem kümmert sie sich um ihn. Alzheimer ist nicht nur eine perfide und grausame Krankheit. Góngora kämpfte seit Jahrzehnten gegen das Vergessen der Untaten des Pinochet-Systems. Nun droht ihm seine Biografie zu entgleiten. Die Regisseurin Maite Alberdi vermittelt auch mit dem Material, das Urrutia von ihrem Mann aufgenommen hat, in einer Langzeitstudie die Stationen dieser Krankheit. Sie bringt uns den schwierigen Zusammenhalt eines Paares nahe, und sie zeigt uns, wie wichtig Erinnerungen im Privaten als auch in der Gesellschaft sind.

Für Góngora war Erinnerung alles, es war seine Lebensaufgabe. Sein Motto “Erinnerung ist Identität” bezog er auf die Erinnerung eines Landes. Er wirkte zum Beispiel bei dem Sammelband Chile, die verbotene Erinnerung mit. Nichts, was dieses mörderische Regime verbrochen hatte, sollte verdrängt und vergessen werden. Ein grausamer Scherz, dass er nun kaum noch weiß, wer die Frau ist, die ins Zimmer kommt, der sich vor dem Hochzeitsbild an der Wand fürchtet und nicht mehr weiß, wer er selbst ist. Die Diagnose, 2014 gestellt, hat die Beiden, die über 20 Jahre zusammen waren, sicherlich auch zusammengeschweißt. Bereits damals griff sie zur Kamera und man kann davon ausgehen, dass er damals auch seine Einwilligung gab. Sicherlich berühren einige Momente auch schamhaft, die kurze Lauflänge weist aber darauf hin, dass das Material, das über so lange Zeit entstanden ist, mit Bedacht ausgewählt wurde.

Viele Dokumentarfilme widmen sich Biografien oder behandeln das Schicksal von bekannten Persönlichkeiten. Die unendliche Erinnerung der Regisseurin Maite Alberdi vermittelt uns das Schicksal zweier Persönlichkeiten, die in ihrem Heimatland Chile sehr, bei uns vielleicht eher nicht so bekannt sind. Gleichzeitig behandelt es auch das Schicksal eines ganzen Landes und darüber hinaus berichtet es von den Tücken einer Krankheit. Es ist sicherlich nicht einfach, diese schweren Themen so zu verknüpfen, dass Würde, Liebe und auch die Erinnerung, auf die der Titel anspielt, zugänglich, wenn nicht gar mit Leichtigkeit verknüpft werden.

Alberdis letzter Film war eine deutsche Co-Produktion: Der Maulwurf – Ein Detektiv im Altersheim sollte eine Mischung aus Dokumentar- und Spionagefilm sein. Ein verdeckter Ermittler sollte von der Einsamkeit in einem chilenischen Altersheim berichten. Alberdis aktueller Film debütierte in Sundance am Anfang des Jahres 2023 und gewann in seiner Kategorie den Hauptpreis. Darauf folgte die Festivalvorstellung auf der Berlinale in der Sektion Panorama, später lief der Film unter anderem auf dem DOK.Fest München.

Es ist natürlich schwierig. Die Aufnahmen, die Paulina Urrutia von ihrem Mann macht und mit der sie gemeinsame Momente, sozusagen für die Erinnerung, einfängt, sind derart intim, dass man sich als Publikum stark berührt fühlt und vielleicht den Einblick als zu persönlich deutet. Überwiegt hier der Wille des Dokumentierens der Regisseurin oder der des Paares, das auch auf Grund der Pandemie, sich am Ende nur in seiner Zweisamkeit darstellen kann? Überwiegt das Festhalten des Gedächtnisses eines Einzelnen, das mehr und mehr verfällt, die Dringlichkeit, ein nationales Gedächtnis zu bewahren? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Der Film existiert und seine Hauptfigur, Augusto Góngora, ist im Mai diesen Jahres verstorben. Vielleicht ist Die unendliche Erinnerung auch einfach nur ein Film über die Liebe.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: La memoria infinita Regie & Konzept: Maite Alberdi Kamera: Pablo Valdés Montage: Carolina Siraqyan Musik: Miguel Miranda, José Miguel Tobar Mitwirkende: Paulina Urrutia, Augusto Góngora Chile 2023 85 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Piffl Medien TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #PifflMedien #Sundance2023 #Berlinale2023 #DokFestMünchen2023

© Eneh

Elaha, gespielt von Bayan Layla, ist 22 Jahre alt und steht kurz vor ihrer Heirat. Sie ist Deutsch-Kurdin und damit in zwei Kulturen zu Hause. Elaha ist eine Geschichte der Selbstermächtigung, quasi ein Coming-of-Age. Ein Regiedebüt. Die Regisseurin Milena Aboyan, geboren als Kurdin in Armenien, durchlief zuerst eine Schauspielausbildung, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihren Abschlußfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg stellte sie zuerst auf der diesjährigen Berlinale vor. In der Sektion “Perspektive Deutsches Kino”. Man ist sich schmerzlich bewußt, welche Lücke die Abschaffung dieser Sektion reißen wird. Junge Talente wie Aboyan werden es schwerer haben, sich vorzustellen. Elaha debütierte hier und es ist erfreulich, dass dieses vielschichtige Drama doch auch in die Kinos kommt.

Elahas Verlobter ist der Bruder ihrer Arbeitgeberin. Beruflich hat er Ambitionen. Seiner Herkunft ist er soweit verbunden, dass er in der Aufforderung seiner Eltern, Elaha möge ihre Jungfräulichkeit doch mit einem ärztlichen Attest bestätigen lassen, kein Problem sieht. Elaha hat jedoch ein Problem. Dabei lässt das Drehbuch den medizinischen Wissensstand um das Jungfrauenhäutlein außen vor. Es geht ausschließlich um die Auswirkung, die diese archaische Tradition auf die titel-gebende Hauptfigur hat.

Elaha hatte schon einmal Sex. Mit 22 Jahren ist das nun nicht wirklich ungewöhnlich. Trotzdem will sie diese Ehe. Folglich bemüht sie sich darum, dieses Attest dennoch zu bekommen. Denn wo ein Bedarf ist, ist auch ein Markt. Allein, es fehlen ihr die finanziellen Mittel. Milena Aboyan stellt ihre Titelfigur zwischen ihr nach Außen zur Schau getragenes Selbstbewußtsein und dem patriarchisch frauenfeindlichen Selbstverständnis ihres Umfeldes. Elaha läuft von hier nach da, um doch noch einem Konstrukt zu gehorchen, dessen Selbstzweck ihr im Verlauf der Handlung mehr und mehr bewußt wird, und von dem sie sich doch nicht so einfach lösen kann. Gerade diese Ambivalenz macht diesen Film zu einem, über den man auch im Anschluss noch reden möchte.

Auch in der Bildsprache zieht Aboyan (Kamera: Christopher Behrmann) auf Enge, sprich auf das Format 4:3, und eine begrenzte Farbpalette. Elaha stellt die ihr auferlegten Regeln zunehmend in Frage, ist aber von den Erwartungen ihres nicht kurdischen Freundeskreises gleichsam überfordert. Milena Aboyan zeigt die Schattierungen, die Elahas Situation bestimmen. Bis zur Selbstbestimmung ist es jedoch ein schwerer Weg.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Elaha Regie: Milena Aboyan Drehbuch: Milena Aboyan, Constantin Hatz Kamera: Christopher Behrmann Schnitt: Elias Ben Engelhardt Musik: Kilian Oser Mit Bayan Layla, Armin Wahedi, Derya Dilber, Derya Durmaz, Cansu Leyan, Beritan Balci, Slavko Popadić, Nazmî Kirik, Réber Ibrahim, Homa Faghiri, Hadnet Tesfai, Yasmin Mowafek, Onur Poyraz, Adnan Jafar, Ferman Alkasari, Taies Farzan, Lennart Gottmann, Mehmet Daloglu, Hêja Netirk, Svetlana Wall, Tatiana Corrado, Dennenesch Zoudé, Faris Saleh Deutschland 2023 111 Minuten Verleih: Camino Kinostart: 23. November 2023 Festivals: Berlinale 2023 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Studentenfilm #Berlinale2023 #Camino

© Eneh

Sieben Jahre, sieben Winter saß die junge Studentin, Reyhaneh Jabbari, im Iran im Gefängnis, bis sie, verurteilt als Mörderin, hingerichtet worden ist. Damals, das waren die Jahre 2007 bis 2014, war das in allen Medien. Reyhaneh Jabbari war gerade mal 19 Jahre alt. Neben ihrem Studium arbeitete sie als Inneneinrichterin. Ein Jobangebot wurde ihr zum Verhängnis. Für einen Auftrag war sie auf einer Wohnungsbegehung, die sich als Falle herausstellte. Der Auftraggeber hatte die Tür verschlossen. Sie wehrte sich und in Notwehr verursachte sie den Tod ihres Vergewaltigers. Man wertete ihre Abwehr als Mord. Darauf stand die Todesstrafe, beziehungsweise die “Blutrache”.

Sieben Winter in Teheran war dieses Jahr auf der 73. Berlinale der Eröffnungsfilm der Sektion Perspektive Deutsches Kino, der schließlich zum Gewinner des Kompass-Perspektive-Preises 2023 gekürt wurde. International debütierte der Dokumentarfilm gerade in Dänemark auf dem CPH:DOX Festival. Neben dem Achtung Berlin Festival wird auch das DOK.fest München den Film im Mai 2023 zeigen. Einen Verleih hat der Film inzwischen.

Die Jury für den Kompass-Perspektive-Preis begründete ihre Entscheidung: “Gebannt verfolgen wir die Geschichte einer jungen Frau, die sich der institutionalisierten männlichen Gewalt widersetzt. Dabei entsteht das einfühlsame Porträt einer Familie, die im Kampf gegen ein Unrechtsregime zerrissen wird.” Die Jury hebt hervor: “Dieser Film tut weh und verstört.”

Reyhaneh Jabbari hätte die Möglichkeit gehabt, ihre Anschuldigung der Vergewaltigung zurückzunehmen. Die Angehörigen des “Opfers”, denn die Familie des Täters gilt hier als die “Familie des Opfers”, hätten ihr “verzeihen” können. Mit einer Lüge wollte Jabbari jedoch nicht leben, sie blieb bei der Wahrheit.

Steffi Niederzoll ist Absolventin der Kunsthochschule für Medien Köln und der Escuela Internacional de Cine y Televisión in Kuba. Bereits ihren mittellangen Film Lea (2008) stellte sie in der Perspektive-Sektion der Berlinale vor. Ihr erster langer Dokumentarfilm zeichnet sich durch ihre Zurückhaltung aus. Im Mittelpunkt stehen die Geschichte von Reyhaneh Jabbari und die Bemühungen ihrer Familie, ihre Freilassung zu bewirken.

Steffi Niederzoll arbeitete eng mit der Familie zusammen. Mutter und Schwester von Reyhaneh Jabbari leben inzwischen in Deutschland. Der Vater ist, in Ermangelung einer Ausreisegenehmigung, in Teheran zurückgeblieben. Die Gespräche mit der Familie wurden darum teils von einem anonymen Stab gedreht. Die Familie stellte Steffi Niederzoll geheime Aufnahmen der Familie aus dem Gefängnis, Telefongespräche und Briefe zur Verfügung. Auszüge aus den Briefen werden von der Exiliranerin und Schauspielerin Zar Amir-Ebrahimi (wir kennen sie aus Holy Spider) aus dem Off vorgelesen.

Anhand des Materials werden wir Zeuge eines aussichtslosen Kampfes gegen Traditionen, den iranischen Institutionen und einer Gesellschaft, in der das Patriarchat diktiert. Die Regierung ist an der Wahrheit nicht interessiert. Denn Reyhaneh Jabbaris Vergewaltiger galt als ein religiöser Mann und so konnte er per se kein Vergewaltiger sein. Er war übrigens als Geschäftsmann und darüberhinaus auch als Mann im Geheimdienst zu gut vernetzt.

Sieben Jahre in Teheran zeigt aber nicht nur die aussichtslosen Verhandlungen, sondern zeigt den Lebensweg einer jungen Frau, die durch die Umstände wächst. So erfahren wir, dass sie sich mehr und mehr um die Belange ihrer Mithäftlingen kümmerte. Gleichzeitig lernen wir ihre Familie kennen, die ebenso an der Situation wachsen muss. Sie lernen alle Kanäle zu nutzen, bemühen sich um Aussöhnung und müssen doch auch mit der Entscheidung der Tochter, bei der Wahrheit zu bleiben, Frieden schließen.

Sieben Jahre in Teheran stellt sein Thema der Form voran. Gerade dadurch gibt der Dokumentarfilm Reyhaneh Jabbari und denen, die vom iranischen Regime unterdrückt und vernichtet worden sind, eine Stimme weit über den Tod hinaus.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Seven Winters in Tehran Regie & Konzept: Steffi Niederzoll Kamera: Julia Daschner Montage: Nicole Kortlüke Musik: Flemming Nordkrog Mit Reyhaneh Jabbari, Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari, Parvaneh Hajilou, Mohammad Mostafaei, Samira Mokarrami Deutschland / Frankreich 2023 98 Minuten Kinostart: 14. September 2023 Verleih: Little Dream Pictures Festivals: Berlinale 2023 / Achtung Berlin 2023 / Dok.Fest München 2023 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #LittleDreamPictures #Berlinale2023 #AchtungBerlin2023 #DokFestMünchen2023

© Eneh

Die schönste Liebesgeschichte des Jahres, so könnte man Past Lives knapp beschreiben. Aber eigentlich ist Past Lives gar keine Liebesgeschichte. Zumindest ist sie das nur zum Teil. Der deutsche Titel benennt das Spielfilmdebüt der koreanisch-amerikanischen Bühnenautorin Celine Song (Endlings), die mit diesem Erstling selbst am Scheideweg steht und fortan Filme drehen möchte, ganz treffend Past Lives – In einem anderen Leben.

Die “vergangenen Leben” beziehen sich dabei auf das koreanische Konzept des “In-Yun”, das besagt, dass Seelen sich über Reinkarnationen hinweg immer wieder aufeinandertreffen und eine Verbundenheit aufbauen. Diese Verbundenheit kann nach unzähligen Zirkeln zu einer tiefen Liebesbeziehung führen.

Nora (Greta Lee) erzählt Arthur (John Magaro) von “In-Yun”, als sie ihn kennenlernt und fügt hinzu, dass Koreaner den Begriff gerne als einen netten Anmachspruch verwenden. Aber so ganz abstreiten möchte Celine Song diese Idee in ihrem Werk nicht. Der deutsche Zusatztitel vermittelt das Gefühl, dass ein Leben mit all seinen Abzweigungen auch anders verlaufen könnte. Damit bezieht Celine Song in ihrem semiautobiographischen Drama sich nicht nur auf Liebe und Zweisamkeit, sondern auf die Schmerzen bei der Suche nach Identität, die aus all den Möglichkeiten, die ein Leben bietet, aufkommen und sowohl die Figuren als auch ihre Beziehung zueinander formen.

Wir standen alle schon an Scheidewegen. Manchmal wählen wir unseren Weg selbst. Wir wählen eine andere Stadt, weil uns zum Beispiel der Beruf diese Möglichkeit gibt. Manchmal werden uns diese Entscheidungen abgenommen. Nora ist 12, als sie mit ihrer Familie die Heimat verlässt, um nach Kanada auszuwandern. Für einen Nachmittag schenken die Mütter von Nora, die da noch den koreanischen Namen Na Young hat, und Hae Sung (als Erwachsener wird er von Teo Yoo gespielt), einen gemeinsamen Ausflug. Die beiden Kinder besuchen die gleiche Schule und haben weitgehend den gleichen Schulweg. Hae Sung mag Nora sehr, Nora fühlt sich in seiner Gegenwart verstanden. Dieser Nachmittag im Park soll den beiden Kindern eine Erinnerung schenken. Auch wörtlich trennen sich ihre Wege dann.

Erst Jahre später finden die beiden eher zufällig und über die sozialen Medien wieder zueinander und sind sich auch über die Kontinente hinweg so nahe, wie es nur gute Freunde mit gemeinsamer Vergangenheit sein können. Für eine Weile erzählen sie sich und damit uns in Videoschaltungen von ihrem Alltag und ihrem Leben, bis das Leben selbst sie jeweils wieder ganz in Beschlag nimmt.

Auslöser für eine Betrachtung des Daseins der gelebten und der nicht gelebten Möglichkeiten ist eine Szene, die der Film ganz an den Anfang stellt. Das Publikum nimmt sogleich die Position des außenstehenden Betrachters ein, der sich fragt, wie die drei Figuren, die gemeinsam in einer Bar in New Yorks East Village sitzen, aber sich nicht wirklich gemeinsam unterhalten, zueinanderstehen.

Nora ist hier der Mittelpunkt, die sich mit einem der Begleiter in einer Sprache unterhält, die der andere nicht versteht. Womit beide männlichen Figuren gemeint sein können. Der eine spricht Koreanisch, der andere Englisch und Beide haben rein gar nichts miteinander zu tun. Ohne Nora würden sich ihre Lebenswege nie kreuzen. Nur Nora ist ihnen beiden gemeinsam. Was hat sie also zueinander geführt? Wie stehen sie zueinander? Diese Szene hat sich in etwa so auch in Celine Songs Leben abgespielt. Sie spürte die fragenden Blicke anderer Gäste und blickte innerlich zurück, welche Fragen das sein mögen und welche Antworten die anderen finden könnten.

Die Betrachtung eines Außenstehenden kann diese Szene deuten, instinktiv begreifen, interpretieren und aufs Neue interpretieren. Celine Song, springt nach der Eröffnung 24 Jahre zurück in die Kindheit seiner Hauptfigur Nora. Doch es kann auch sein, dass wir eine Erinnerung sehen. Eine Liebesgeschichte ist Past Lives nur insofern, dass sowohl Hae Sung als auch Arthur Gefühle für Nora hegen und auch bereit sind, auf ihren Lebensweg einzugehen, sie loszulassen, um mit ihr verbunden zu bleiben.

Dabei schafft es Celine Song uns die innere Zerrissenheit einer eigentlich sehr starken Nora erfahrbar zu machen. Nora ist eine Figur, die weiß, was sie will, die zielstrebig ihren Weg geht, aber die sich dennoch fragt, was sie dabei aufgegeben hat. Past Lives spricht vielleicht besonders die an, die eine Biografie mit Brechungen haben. Aber haben wir die nicht alle?

Das Werk debütierte dieses Jahr auf dem Festival in Sundance und gehörte auf der Berlinale, wo der Film im Wettbewerb gezeigt worden ist, zu den Favoriten. Ganz sicher ist Songs Debüt ein Film, der mal an die Before-Trilogie von Richard Linklater, von der Stimmung her aber auch an In the Mood for Love von Wong Kar Wei erinnert, der bleiben wird.

Celine Song beweist ein Talent Unausgesprochenes fühlbar zu gestalten, was sie zu einer Entdeckung macht. Ihr Past Lives baut ein Geheimnis auf, weil jeder Mensch ein Geheimnis ist, vielleicht auch für sich selbst, und dieses Geheimnis nicht sofort auflöst und die Möglichkeit gibt, dieses immer wieder entschlüsseln zu wollen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Past Lives Regie: Celine Song Drehbuch: Celine Song Kamera: Shabier Kirchner Montage: Keith Fraase Musik: Chris Bear, Daniel Rossen Mit Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, Moon Seung-ah, Seung Min Yim, Ji Hye Yoon, Won Young Choi, Ahn Min-Young, Seo Yeon-Woo, Kiha Chang, Shin Hee-Chul, Jun Hyuk Park, Jack Alberts, Jane Kim, Noo Ri Song, Si Ah Jin, Yoon Seo Choi, Seung Un Hwang, Jojo T. Gibbs, Emily Cass McDonnell, Federico Rodriguez, Conrad Schott, Kristen Sieh USA 2022 105 Minuten Verleih: Studiocanal Kinostart: 17. August 2023 Festivals: Sundance 2023 / Berlinale 2023 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Studiocanal #Sundance2023 #Berlinale2023

© Eneh

Deep Sea, im Original Shen Hai, erzählt von einem kleinen Mädchen, das mit seiner Familie auf eine Urlaubsreise auf einem Kreuzfahrtschiff geht. So viele Menschen, so ein Gedränge, so ein Getöse, so viele Impulse. Shenxiu, so heißt das Kind, fühlt sich trotzdem allein. Es könnte alles so schön sein, wenn sie nur mal etwas lächeln würde. Und hat sie nicht an diesem Tag Geburtstag?

Shenxiu ist nicht glücklich. Ihr kleiner Bruder ist der Mittelpunkt der Familie, ihre Stiefmutter und ihr Vater sind mit sich selbst beschäftigt. Shenxiu sehnt sich nach ihrer Mutter. Warum hat ihre Mutter sie verlassen?

Man sollte nicht zu viel im Vorfeld über die Geschichte erzählen. Die offensichtliche Handlung ist eine Abenteuerreise, nachdem sich das Kind plötzlich auf einem Tiefseeschiff à la Jules Verne befindet, auf dem ein quirliger Koch der Kapitän ist und allerlei Tierwesen ein Restaurant für zahlende Gäste am Laufen halten.

So bunt die Bilder sind, so vorsichtig wagt sich der chinesische Regisseur Tian Xiaopeng (sein Monkey King: Hero is Back mauserte sich einst vom Geheimtipp zum Boxoffice-Hit) an eine dunklere Deutung heran, die sich erst nach und nach offenbart. Je nach eigenen Erfahrungswerten erklärt sich vieles früher oder später. Doch einfach ist die Geschichte keineswegs. Shenxiu möchte ihre Mutter finden und immer und immer wieder entgleitet ihr der Kontakt. Da legen sich auch mehrere Erinnerungsebenen übereinander, sodass sich ihre Wahrnehmung variierend im Kontakt mit den Wesen des “Tiefsee-Restaurants” manifestiert.

Die Generation-Sektion der Berlinale, dieses Jahr das erste Mal unter der Leitung von Sebastian Markt, hat es sich noch nie leicht gemacht. Kinder und Jugendliche werden ernst genommen und mitunter kommt man ihnen mit ernsten Filmen, die äußerst herausfordernd sind. Mit Deep Sea wählte man ein schweres Thema, das vielleicht für die Kleinsten unter den Kindern überfordernd wirken könnte.

In China kam der Film bereits zum chinesischen Neujahrsfest in die Kinos. Bei uns testete der Animationsfilm, der sieben nicht einfache Jahre an Produktionsgeschichte hinter sich hat, das Wasser auf den internationalen Filmfestspielen. Bereits der an Ideen überbordende Animationsstil ist visuell eine Herausforderung. Ich empfehle, und das ist untypisch für mich, in der Tat die Synchronisation, die gelungen ist. Mit Untertiteln kann man dem visuellen Geschehen kaum folgen. Wenn man nicht gerade Mandarin beherrscht, könnten die Feinheiten in den Dialogen auch verloren gehen. Das Sujet ist auf jeden Fall sehr speziell. Auch nach der Vorführung für die Presse bildete sich sogleich eine Gruppe, die über das Thema sprechen wollte. Kinder, und nicht nur Kinder, sollte man hier nicht alleine lassen.

Visuell ist Deep Sea wunderschön. Unglaublich, was die Animation inzwischen alles kann. Tian Xiaopeng mischt Farben und Texturen, die ihre Vorbilder in der Malerei, dem Pop-Art und der chinesischen Kunst haben. Hier ist jeder Tropfen wahrnehmbar. Mal verfließen bunte Tuscheströme ineinander, mal geben winzige Perlen dem Bild Textur. Die einzelnen Bilder, wenn man sie vollständig wahrnehmen könnte, sind so detailreich, wie herzlich.

Deep Sea ist ein geradezu psychedelischer Filmtrip. Das Unterbewusste, das Ursprüngliche soll mit Reizen geflutet werden, um die innere, zerrissene Welt eines kleinen Menschen erfahrbar zu machen. Das Bunt auf Bunt, was hier durchaus auch als ermüdend und sogar repetitiv wahrgenommen werden kann, spiegelt aber gerade die Wahrnehmung, was ein Zuviel an Reizen auslösen kann und wie sich die innere Traurigkeit im Meer des scheinbar glücklichen Umfelds anfühlt. Hier wird vielleicht deutlich, was nicht für alle deutlich sein könnte. Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass der deutsche Verleih entschieden hat, den Film nur in einer 2D-Fassung in die Kinos zu bringen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Shen Hai Regie: Tian Xiaopeng Drehbuch: Tian Xiaopeng Kamera: Cheng Mazhiyuan Animation: Tian Xiaopeng Montage: Lin Aner Musik: Dou Peng Mit Tingwen Wang, Su Xin, Kuixing Teng, Yang Ting, Jing Ji, Haoran Guo, Xiaopeng Tian, Yi Dong, Taochen Fang Volksrepublik China 2022 113 Minuten Kinostart: 10. August 2023 Verleih: Leonine Festivals: Berlinale 2023 / Annecy 2023 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Animationsfilm #Leonine #Berlinale2023

© Eneh

Denkt man in Berlin an Uwe Johnson (1934 – 1984)... Präziser ausgedrückt, denkt man in Friedenau an Uwe Johnson, dann kommt oft direkt die Referenz an seinen berühmten Nachbar Günter Grass. Wobei: Uwe Johnson zieht im Herbst 1959 in die Niedstraße in Berlin-Friedenau. Günter Grass wiederum bezieht 1964 eine Wohnung im Nachbarhaus. Eventuell kommt dann in Gesprächen sogleich die Erinnerung an die Kommune 1 zur Sprache, die sich bei Johnson breit gemacht hatte, während Johnson in den Staaten lebte, und dass er dann Grass eine Vollmacht geschrieben hatte, damit er die Gäste, die über Gebühr sich breit gemacht hatten, hinauswerfen lasse. Das möge jetzt eine Randnotiz bleiben. In Volker Koepps Dokumentarfilm geht es zwar auch um eine Verortung, es geht sogar ganz konkret um Heimat und ein Heimatgefühl.

Aber Koepp, der aus Pommern stammt, spürt dem deutschen Schriftsteller in seiner Geburtsheimat nach. Es geht ihm um ein Gehen und um das Bleiben. Beides. Denn, es gibt einen Ort zu dem man sich, auch wenn man woanders eine Adresse hat, zugehörig fühlt. Im Fall Uwe Johnson ist das Mecklenburg. Zitat: “Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel.”

Johnsons wohl bekanntestes Werk ist der Zyklus Jahrestage, in dem er einen Bogen von der deutschen Geschichte von der Weimarer Republik bis zum Prager Frühling spannte, während die Hauptfigur Gesine Cresspahl auch im New York der 60er Jahre lebte. Johnson stammte aus Mecklenburg. Seine Eltern lebten in Anklam, nach Kriegsende zog die Familie vor der Roten Armee ausweichend in die Nähe von Güstrow, einer Kreisstadt im Landkreis Rostock. Später, als der Vater in russischer Kriegsgefangenschaft starb, wurde Güstrow der Lebensmittelpunkt. Den Studienort Rostock verlegte Johnson nach Leipzig und er ging dann nach Berlin. Mitte der 60er Jahre lebte er in New York. Viel zu früh starb er in Sheerness on Sea, in England, wo er die letzten 10 Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Volker Koepp, kam auf Uwe Johnson, als er nach einer Premiere seines Filmes Seestück, ein Buch über Geschichten von der Ostsee geschenkt bekommen hatte. Darin war auch ein Textauszug aus Jahrestage, genauer gesagt, eine Beschreibung von dem Untergang der Cap Arcona in der Lübecker Bucht 1945, an Bord Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme. Johnsons Texte, die sich gegen ein Vergessen richteten, klangen für Koepp aktueller denn je, denn eine Geschichtsvergessenheit unserer Gesellschaft lässt sich kaum mehr leugnen. Genau wie Johnson, sieht auch Koepp die Spuren eines Krieges, vieler Kriege, in dem Land der Heimat. Der Krieg, er warf einen Schatten auf die Biographie des Autors und der warf diesen Schatten nicht ab. Und so klammert Koepp in seinen Begegnungen mit dem Land und den Leuten, gedreht hatte er diese zwischen 2020 und 2022, den aktuellen Krieg in der Ukraine nicht aus. Der vollständige Filmtitel lautet darum auch Gehen und Bleiben. Uwe Johnson. Folgen des Krieges..

Koepp begegnet Menschen, die schreiben, photographieren, Filme drehen oder nichts dergleichen, die ihre eigenen Geschichten erzählen, die auch vom Gehen und vom Bleiben handeln. Sie lesen aus den Texten Uwe Johnsons vor, oder erzählen vom Ort oder der Nachbarschaft. Von Freundschaft und Verbundenheit. Vom Wegziehen und vom Zurückkehren. Koepp ist ein guter Zuhörer. Er gibt den Begegnungen auch hier keinen Rahmen, sondern einen Raum, der eigene, spannende und unvorhersehbare Akzente setzt. In diesen Begegnungen erkennt man auch Überschneidungen mit der Biographie von Johnson, der wahrnahm, was andere nicht sehen wollten, der nicht immer und oft nicht, verstanden wurde.

Damit ist Gehen und Bleiben eher ein Essay, dessen tatsächliche Lauflänge von knapp 3 Stunden, kein bißchen Länge aufweist. Das möchte ich nur betonen, falls sich jemand abgeschreckt fühlt. In Gehen und Bleiben taucht man ein wie in eine Meditation, in der die Zeit zusammenschrumpft und die innerliche Reise sich gleichzeitig ausweitet. All die kleinen Details, die Koepp einfängt, vertiefen das Gefühl der Zugehörigkeit mit einer Landschaft und den Leuten, die man aus seinem Filmwerk (z.B. Pommerland, Memelland, In Sarmatien, Landstück, Seestück) bereits zu kennen glaubt. Das Gefühl für eine Zeitgeschichte mag sich auch einstellen und ähnlich wie bei Johnson wird das Umfassende spürbar und stimmt, angesichts der Aktualität, des Krieges vor unserer Nase, nachdenklich.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Gehen und Bleiben Regie: Volker Koepp Buch: Barbara Frankenstein Kamera: Uwe Mann Montage: Christoph Krüger Mitwirkende: Stuart Roberts, Judith Zander, Erhard Siewert, Peter Kurth, Hans Jürgen Syberberg, Helga Elisabeth Syberberg, Aukje Dijkstra, Undine Spillner, Fritz Rost, Heinz Lehmbäcker, Hanna Lehmbäcker, Dietrich Sagert, Kristian Wegscheider, Christian Höser, Thomas Irmer, Uta Löber, Erdmut Wizisla, Karin Bosinski, Hartmut Bosinski Deutschland 2023 168 Minuten Verleih: Salzgeber Kinostart: 20. Juli 2023 Festivals: Berlinale 2023 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Salzgeber #Berlinale2023

© Eneh

Die Brautentführung, unter diesem Titel lief El secuestro de la novia auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Perspektive Deutsches Kino. Es ist die Geschichte von einem jungen, glücklichen Paar, das unter die Räder der “Traditionen” kommt. Sie, Luisa (Rai Todoroff), ist Argentinierin. Er, Fred (David Bruning), ist Deutscher. Ich präzisiere: Er stammt aus Brandenburg. Hier in Brandenburg leben die Beiden auch. Beide sind sehr aufgeschlossen. Ihre Beziehung begreifen sie auch als Spiel. Selbst Gendertausch ist für sie ein Weg, sich und einander näherzukommen. Sie haben da keine Berührungsängste. Wenn es da nicht die Angehörigen und die kulturellen Unterschiede geben würde.

Sophia Mocorrea, die Regisseurin, ist Deutsch-Argentinierin. El secuestro de la novia ist ihr Abschlußfilm an der Filmuniversität Babelsberg. Die Berlinale war gar nicht der Uraufführungsort. Ihr mittellanger Film wurde vom Festival in Sundance, das kurz vor der Berlinale stattfindet, eingeladen und gewann dort prompt in der Sektion internationaler Kurzfilm den Hauptpreis. 30 Minuten ist der Film lang. Die Länge ist kein Kriterium. Es gehört einiges dazu, zu wissen, wann ein Stoff rund und auserzählt ist.

Luisa und Fred feiern also Hochzeit. In Brandenburg. Ihre Eltern reisen an, seine Eltern haben die Oberhand. Und gute Ratschläge, die sie mit nicht sehr subtilen Druck an das Paar geben. Der Gipfel der Übergriffigkeit ist jedoch die Titel gebende Brautentführung. “Tradition”, da “müsse sie schon mitspielen”. Mitten in der Hochzeitsfeier wird sie also von der Provinzpolizei verhaftet und aufs Revier zum Verhör gebracht. Die Anklage lautet auf Erregung öffentlichen Ärgernisses. Kein Schenkelklopfen, eher Sprachlosigkeit sollte beim Publikum einsetzen. Jeder Satz sitzt. Die Dialoge entlarven den xenophoben Provinzialismus. Die Frauenfeindlichkeit ist evident. Während Luisa zuerst irritiert ist, dann gute Miene zum strunzdummen Spiel macht, breitet sich die toxische Stimmung immer mehr aus.

El secuestro de la novia ist eine Komödie. Nicht ohne Humor führt Sophia Mocorrea überkommende Rollenbilder und gestrige Sitten vor und zeigt, dass auf vergifteten Boden keine gleichberechtigte Liebe gedeihen kann.

Eneh

Mittellanger Spielfilm Originaltitel: El secuestro de la novia Regie: Sophia Mocorrea Drehbuch: Sophia Mocorrea Kamera: Jacob Sauermilch Schnitt: Jannik Eckenstaler, Sofia Angelina Machado Musik: Luca de Michieli, Linus Rogsch Mit Rai Todoroff, David Bruning, Anne Kulbatzki, Tatiana Saphir, Patricia Pilgrim, Daniel Wendler, Leon Dima Villanueva, Aroha Almagro Davies, Andreas Rogsch, Michaela Winterstein, Niels Bormann, Jeannette Urzendowsky, Alina Renk, Sigrun Gietzke, Julian Müller, Richard Kretschmar Deutschland 2022 30 Minuten Festivals: Sundance 2023, Berlinale 2023, Achtung Berlin 2023 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Kurzfilm #Studentenfilm #Berlinale2023

© Eneh

19 Filme konkurrierten um den goldenen Bären. Im Wettbewerb gab es 18 Spielfilme und einen Dokumentarfilm. “Sur l'Adamant” wurde relativ spät im Festivalverlauf angesetzt. Viele hatten da bereits ein, zwei oder sogar drei Favoriten in der eigenen Auswahl. Die sanfte und durchweg positiv gestimmte Beobachtung über die Arbeit in einer psychiatrischen Tagesklinik in Paris hatte wohl kaum jemand als Frontrunner betrachtet. Konnte sich die internationale Jury auf keinen der Spielfilme einigen?

Das Leben schreibt bekanntlich die besten Geschichten. Das wahre Leben, noch dazu mit prägnanten und spannenden Figuren, der Ansatz einen Blick auf das unverstellte Echte zu blicken, ist in unserer schwierigen Zeit scheinbar relevanter als eine künstlerische Umsetzung einer Interpretation derselben. Doch blickt Nicolas Philiberts Kamera nur scheinbar auf das, was ist. “Sur l'Adament” ist ein rundum wohlfühlender Film auf etwas, was eher nicht wohlfühlend ist und somit leider voller blinder Flecke.

Nicolas Philiberts vielleicht bekanntester Film ist von 2001. In “Sein und Haben” betrachtete er eine kleine Dorfschule, in der die Kinder aller Altersgruppen in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet werden. Damals konnte dieser den Europäischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm gewinnen. Auf der Berlinale trat Philibert zuletzt 2013 mit “La Maison de la Radio”, einer Betrachtung des Senders Radio France an. Nun also ein von der Gesellschaft ausgegrenztes Thema.

Die L'Adamant ist ein fest angelegtes Boot auf der Seine in Paris. Architektonisch wirkt die Klinik durch die Verwendung von Holz warm und einladend und von den rundum aufklappenden Fensterblöcken ist ein freier, durchlässiger Blick nach außen möglich. Psychiatrie stellt man sich gewöhnlich anders vor. Allerdings ist die Tagesklinik, die erst 2019 vom Büro Seine Design auch unter Einbindung seiner Nutzer konzipiert wurde, Teil der Paris Central Psychiatric Group. Die Tagesklinik richtet sich auch nur an Patienten und Patientinnen aus den ersten vier, also den umliegenden 4 Arrondissements. Keineswegs an Besucher aus den entfernteren und wohlmöglich ärmeren Bezirken.

Aber um Architektur geht es hier ja nicht und auch nicht um eine gesellschaftliche Einordnung. Um die Probleme in der Psychiatrie und ihren Methoden der Behandlungsfindung geht es aber auch nicht. Aus den Erzählungen der Mitwirkenden, kann man durchaus einen priveligierten Hintergrund herauslesen. Ein Vergleich mit anderen Kliniken bleibt jedoch auch aus.

Die L'Adamant ermöglicht vorrangig Workshops, in denen sich die Patienten und Patientinnen malerisch und musikalisch und überhaupt künstlerisch ausprobieren können. Dass sie dazu bereits die Voraussetzungen mitbringen, merkt man recht bald und schon in der ersten Szene, als ein Patient (leider blendet das Presseheft die Namen der Mitwirkenden aus, als würden sie eine anonyme Gruppe bilden) den Song “La bombe humaine” der französischen Rockformation »Téléphone« schmettert. In einem deutschen Film hätte man vielleicht einen Song von der Band »Ton Steine Scherben« genommen. Das wäre vergleichbar. Eindruck macht auch, dass gleich mal ein Filmfest geplant wird, denn es gibt einen festen Filmclub.

Wer darf nun eigentlich hier täglich oder regelmäßig dabei sein? Wer wird abgewiesen? “Sur l'Adamant” blendet sowohl den Alltag, als auch Probleme aus. Nur einmal kommt es zu einem Riss in der schönen Fassade, als eine Patientin einen Tanzkurs vorschlägt und, weil sie Tänzerin war, den Kurs auch gleich selbst halten möchte. Das wiederum ist nicht vorgesehen. Sanft wird dieser Vorschlag erst einmal geparkt. Ob nun die Anwesenheit der Kamera Einfluss hatte oder ob es grundsätzlich keine Reibungen gibt, wer weiß das schon. Die Arbeit auf der L'Adamant ist durchaus eine erfolgreiche, könnte man meinen. Aber man fragt sich schon, wie mit Kranken verfahren wird, die im Sinne der Gruppe nicht hineinpassen. Man fragt sich, wie Medikamentenpläne erstellt und kontrolliert werden. Von dieser Seite der Arbeit zeigt Philibert nichts.

Dabei hat Philibert bereits Mitte der 90er mit “La Moindre des choses” einen Film über eine psychiatrische Klinik, der La Borde Clinic, gedreht. Eine gewisse Furcht, die Mitwirkenden bloßzustellen, hatte er offensichtlich schon. Zumindest konnte er im kleinen Team arbeiten.

Philibert führte auch die Kamera, ab und an hatte er aber noch jemanden an seiner Seite. Die Mitwirkenden kannten seine Filme, auch das war ein Pluspunkt. Sie redeten offen mit ihm, Gespräche gibt es zuhauf. Sie erzählen von ihrer Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung der Außenwelt und der Diskrepanz.

Doch die Kamera kann die Aufgabe, psychische Krankheiten für ein Publikum erfahrbarer machen, nicht einlösen. Die Mitwirkenden bleiben auf Distanz. Zu fragmentarisch erleben wir ihren Alltag. Die Szenen konzentrieren sich immer wieder auf die Workshops und auf die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die dann zum Teil doch gebremst werden.

Ein Limit an Möglichkeiten für diesen Tagesalltag wird deutlich, wenn man genau hinschaut. Hinterfragt werden diese Grenzen nicht. Hinterfragt und eingeordnet wird hier gar nichts. Die ruhige, respektvolle Umsetzung ist dann doch sich selbst im Weg und liefert letztendlich ein mittelprächtiges Feel-Good-Movie, dass kein bisschen innovativ ist. Von einem goldenen Bären erwartet man eigentlich neue Akzente und man fragt sich, ob man diesem Dokumentarfilm mit der Auszeichnung nicht einen Bärendienst erwiesen hat.

Eneh

Originaltitel: Sur l'Adament Dokumentarfilm Regie: Nicolas Philibert Mitwirkende: Mamadi Barri, Walid Benziane, Sabine Berlière, Romain Bernardin, Jean-Paul Hazan, Pauline Hertz, Frédéric Prieur, Muriel Thourond, Sébastien Tournayre Frankreich / Japan 2022 109 Minuten Verleih: Grandfilm Kinostart: 14. September 2023 zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Grandfilm #Berlinale2023

© Eneh

Eine Liebesgeschichte, die keine sein darf, das ist der nigerianische Spielfilm “All the Colours of the World are Between Black and White”. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es alle Farben der Welt. Nigeria ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land auf dem afrikanischen Kontinent, es hat auch eine bedeutende Filmproduktion. Nicht annähernd so viele Filme aus Nollywood schaffen es in europäische Kinos wie beispielsweise aus Bollywood.

Babatunde Apalowo, der Regisseur dieser ruhig erzählten Geschichte, drehte zwar in seiner Heimat Lagos, lebt aber inzwischen in Großbritannien. “All the Colours” ist ein gelungenes Regiedebüt, der in Zwischentönen all die komplizierten Gefühlszustände seiner Protagonisten zu vermitteln weiß.

Dabei sollte es eigentlich eine Liebesgeschichte an seine Heimatstadt Lagos werden. Apalowo wollte eine Geschichte von einem Kurier erzählen, der unterwegs Fotos von seiner Stadt schießt. Der Regisseur wurde jedoch Zeuge einer Gewalttat. Gewalt ist in Lagos und in Nigeria Teil des Alltags, jedoch sah er, wie ein Kommilitone aufgrund seiner Sexualität von einem Mob gelyncht wurde. Queerness ist in Nigeria nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern wird mit langen Haftstrafen geahndet. So wurde aus einer Geschichte über eine Stadt auch eine Geschichte von ihren Bewohnern. Allerdings ist Apalowo, und da macht der Regisseur gar keinen Hehl draus, straight. Er versuchte trotzdem eine Liebesgeschichte zu erzählen, die zwischen zwei Männern verläuft. Das Gefühl des Liebens und der Zurückweisung, der Unsicherheit der eigenen Gefühle und der Selbstkenntnis und all dem dazwischen sind das Rückrad der Handlung.

Tope Tedela, der nicht nur in seiner Heimat ein renominierter Schauspieler ist, spielt Bambino. Bambino ist ein angesehener Nachbar in seinem Viertel. Er hilft aus, wo er kann, und auch finanziell reicht es zum Leben. Er lebt als Single und denkt gar nicht weiter darüber nach. Doch dann trifft auf Bawo, gespielt von Riyo David, der ihn fotografiert und mit dem er dann in der Stadt herumfährt, um gemeinsam für ein Fotoprojekt Aufnahmen zu machen. Die Kamera von Bawo bringt Bambino nicht nur dem Publikum näher. Doch in der rigiden gesellschaftlichen Haltung gegenüber gleichgeschlechtliche Avancen, braucht es einen Grund, damit sich zwei Männer berühren können, die sich bis dahin mit Blicken taxierten. Als Bambino einen Unfall hat, ist es Bawa, der ihn pflegt und damit Bambinos Selbstbild ordentlich ins Wanken bringt. Es geht in erster Linie um das Gefühl der Zuneigung und Anziehung und Apalowo bringt eine Nachbarin (Martha Ehinome Orhiere) ins Spiel, die sich zu Bambino hingezogen fühlt und dieses auch vermittelt. Nur kann Bambino dieses Gefühl nicht erwidern.

Apalowo vermeidet Klischees und setzt auf Stimmungen. Die Kamera unterstützt in Statik und Bewegung die Grundzüge der Charaktere der Figuren. Lagos als Stadt spielt immer noch eine der Hauptrollen in der Erzählung, wobei Apalowo und sein Partner an der Kamera, David Wyte (“Gbomo Gbomo Express”), einen möglichst realistischen Look anstrebten, auch um das Gefühl der Authentizität zu unterstreichen. Authentizität ist auch in der Handlung wichtig. Bambino kann sich den Zwängen nicht auf Kommando entledigen und er tut es auch nicht. Es tut weh, den beiden, das heißt eigentlich den drei Figuren zuzuschauen. “All the Colours” vermittelt die Stimmungen subtil, aber fühlbar.

Der Teddy ging in diesem Jahr, der reich an queeren Stoffen war, nicht nur in der Sektion Panorama, an diesen nigerianischen Film und ich hoffe, dass der Film auch einen weltweiten Einsatz bekommt. Das, was er zeigt, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen in Nigeria tabuisiert und strafrechtlich verfolgt werden, ist mit Abstrichen zum Glück nur noch auf eine kleine Anzahl von Ländern beschränkt. Die Gefühle, die die Figuren durchlaufen, kennen viele. Lieben und zurück geliebt werden, darum dreht es sich doch. Apalowos Film ist ein Aufruf, und durchaus auch politisch gemeint, diese Liebe, in welcher Farbe auch immer, zuzulassen und Empathie zu entwickeln.

Eneh

Originaltitel: All the Colours of the World are Between Black and White Regie: Babatunde Apalowo Mit Tope Tedela, Riyo David, Martha Ehinome Orhiere, Uchechika Elumelu, Floyd Anekwe, Ciroma Chukwuma Adekunle, Yusuf Olalekan, Bolaji Gelax, Emmanuel Adex, Oni Mercy, Emmanuel Oteikwu-Adah, Nurudeen Obi, Wilson Joseph Nigeria 2023 92 Minuten Auszeichnungen: Teddy für den besten Spielfilm auf der Berlinale 2023 Verleih: bisher kein deutscher Kinostart Coccinelle Film zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

#Filmkritik #Berlinale2023 #Spielfilm #OhneKinostart

© Eneh