Filmbesprechung: Gehen und Bleiben – Uwe Johnson. Folgen des Krieges.

Denkt man in Berlin an Uwe Johnson (1934 – 1984)... Präziser ausgedrückt, denkt man in Friedenau an Uwe Johnson, dann kommt oft direkt die Referenz an seinen berühmten Nachbar Günter Grass. Wobei: Uwe Johnson zieht im Herbst 1959 in die Niedstraße in Berlin-Friedenau. Günter Grass wiederum bezieht 1964 eine Wohnung im Nachbarhaus. Eventuell kommt dann in Gesprächen sogleich die Erinnerung an die Kommune 1 zur Sprache, die sich bei Johnson breit gemacht hatte, während Johnson in den Staaten lebte, und dass er dann Grass eine Vollmacht geschrieben hatte, damit er die Gäste, die über Gebühr sich breit gemacht hatten, hinauswerfen lasse. Das möge jetzt eine Randnotiz bleiben. In Volker Koepps Dokumentarfilm geht es zwar auch um eine Verortung, es geht sogar ganz konkret um Heimat und ein Heimatgefühl.

Aber Koepp, der aus Pommern stammt, spürt dem deutschen Schriftsteller in seiner Geburtsheimat nach. Es geht ihm um ein Gehen und um das Bleiben. Beides. Denn, es gibt einen Ort zu dem man sich, auch wenn man woanders eine Adresse hat, zugehörig fühlt. Im Fall Uwe Johnson ist das Mecklenburg. Zitat: “Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel.”

Johnsons wohl bekanntestes Werk ist der Zyklus Jahrestage, in dem er einen Bogen von der deutschen Geschichte von der Weimarer Republik bis zum Prager Frühling spannte, während die Hauptfigur Gesine Cresspahl auch im New York der 60er Jahre lebte. Johnson stammte aus Mecklenburg. Seine Eltern lebten in Anklam, nach Kriegsende zog die Familie vor der Roten Armee ausweichend in die Nähe von Güstrow, einer Kreisstadt im Landkreis Rostock. Später, als der Vater in russischer Kriegsgefangenschaft starb, wurde Güstrow der Lebensmittelpunkt. Den Studienort Rostock verlegte Johnson nach Leipzig und er ging dann nach Berlin. Mitte der 60er Jahre lebte er in New York. Viel zu früh starb er in Sheerness on Sea, in England, wo er die letzten 10 Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Volker Koepp, kam auf Uwe Johnson, als er nach einer Premiere seines Filmes Seestück, ein Buch über Geschichten von der Ostsee geschenkt bekommen hatte. Darin war auch ein Textauszug aus Jahrestage, genauer gesagt, eine Beschreibung von dem Untergang der Cap Arcona in der Lübecker Bucht 1945, an Bord Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme. Johnsons Texte, die sich gegen ein Vergessen richteten, klangen für Koepp aktueller denn je, denn eine Geschichtsvergessenheit unserer Gesellschaft lässt sich kaum mehr leugnen. Genau wie Johnson, sieht auch Koepp die Spuren eines Krieges, vieler Kriege, in dem Land der Heimat. Der Krieg, er warf einen Schatten auf die Biographie des Autors und der warf diesen Schatten nicht ab. Und so klammert Koepp in seinen Begegnungen mit dem Land und den Leuten, gedreht hatte er diese zwischen 2020 und 2022, den aktuellen Krieg in der Ukraine nicht aus. Der vollständige Filmtitel lautet darum auch Gehen und Bleiben. Uwe Johnson. Folgen des Krieges..

Koepp begegnet Menschen, die schreiben, photographieren, Filme drehen oder nichts dergleichen, die ihre eigenen Geschichten erzählen, die auch vom Gehen und vom Bleiben handeln. Sie lesen aus den Texten Uwe Johnsons vor, oder erzählen vom Ort oder der Nachbarschaft. Von Freundschaft und Verbundenheit. Vom Wegziehen und vom Zurückkehren. Koepp ist ein guter Zuhörer. Er gibt den Begegnungen auch hier keinen Rahmen, sondern einen Raum, der eigene, spannende und unvorhersehbare Akzente setzt. In diesen Begegnungen erkennt man auch Überschneidungen mit der Biographie von Johnson, der wahrnahm, was andere nicht sehen wollten, der nicht immer und oft nicht, verstanden wurde.

Damit ist Gehen und Bleiben eher ein Essay, dessen tatsächliche Lauflänge von knapp 3 Stunden, kein bißchen Länge aufweist. Das möchte ich nur betonen, falls sich jemand abgeschreckt fühlt. In Gehen und Bleiben taucht man ein wie in eine Meditation, in der die Zeit zusammenschrumpft und die innerliche Reise sich gleichzeitig ausweitet. All die kleinen Details, die Koepp einfängt, vertiefen das Gefühl der Zugehörigkeit mit einer Landschaft und den Leuten, die man aus seinem Filmwerk (z.B. Pommerland, Memelland, In Sarmatien, Landstück, Seestück) bereits zu kennen glaubt. Das Gefühl für eine Zeitgeschichte mag sich auch einstellen und ähnlich wie bei Johnson wird das Umfassende spürbar und stimmt, angesichts der Aktualität, des Krieges vor unserer Nase, nachdenklich.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Gehen und Bleiben Regie: Volker Koepp Buch: Barbara Frankenstein Kamera: Uwe Mann Montage: Christoph Krüger Mitwirkende: Stuart Roberts, Judith Zander, Erhard Siewert, Peter Kurth, Hans Jürgen Syberberg, Helga Elisabeth Syberberg, Aukje Dijkstra, Undine Spillner, Fritz Rost, Heinz Lehmbäcker, Hanna Lehmbäcker, Dietrich Sagert, Kristian Wegscheider, Christian Höser, Thomas Irmer, Uta Löber, Erdmut Wizisla, Karin Bosinski, Hartmut Bosinski Deutschland 2023 168 Minuten Verleih: Salzgeber Kinostart: 20. Juli 2023 Festivals: Berlinale 2023 TMDB

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