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Das Leben ist manchmal eine Abfolge von miesen Entscheidungen. Es gehen einem die Spielzüge aus. Egal, wohin man seine Figur zieht, man landet in einer Ecke. Man kann nur noch reagieren, aber man ist nicht mehr frei in seinen Entscheidungen.

Irina, gespielt von Vita Smačeljuk, ist in Victim eine Spielfigur, die in einer Gesellschaft, die von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit und Korruption bestimmt wird, das Richtige tun will. Die Geschichte, die der Regisseur Michal Blaško erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. Sein erster Langspielfilm debütierte in Venedig, wurde auf Festivals sowohl in Hamburg als auch in Cottbus aufgeführt und schließlich schickte die Slowakei den Film ins Oscarrennen um den besten internationalen Titel.

Irina, alleinerziehende Mutter, ist mit ihrem Sohn aus der Ukraine in eine tschechische Kleinstadt gezogen. Wir erinnern uns, bereits vor 2022 gab es in der Ukraine Krieg. Sie versucht nun für sich und Igor (Gleb Kuchuk) eine Existenz aufzubauen. Auf den ersten Blick wirkt ihr Leben in dieser Fremde trist und prekär. Blaško beschönigt hier nichts. Er zeigt eine Welt, in der Armut auch wirklich Armut meint. In der halb verrottete Panelwohnungen genau das sind. Wo an den Rändern der Stadt die Zurückgelassenen, die Ausländer und die Roma leben.

“Victim” heißt “Opfer”, aber der Begriff kann für vielerlei stehen. Irina ist bereits in der ersten Szene in einer unverschuldet schwierigen Lage. Sie war in die alte Heimat gereist, um Unterlagen für die Behörden zu holen. Nun blieb ihr Bus an der Grenze hängen, weil ein anderer Bus liegen geblieben ist. So etwas kann Stunden dauern, die hat sie nicht. Scheinbar ist Igor, der Sohn, 13 Jahre alt und auf dem Weg ein Spitzensportler zu werden, Opfer eines Überfalls geworden. Er wurde übelst verletzt und liegt nun auf einer Intensivstation. Irina will also so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Bereits hier wird deutlich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten sind und wie äußere Umstände eine Figur behindern.

Igor liegt erst einmal im Koma. Die Ermittlungen laufen. Bevor die Polizei Informationen mit der geschockten Mutter teilt, soll sie ihren Aufenthaltsstatus belegen. Was sie wissen ist, dass Nachbarn bemerkt haben wollen, wie jemand weg gelaufen ist. Igor, als er aufwacht, benennt drei Roma-Jungen als Täter. Für die Polizei steht fest, dass diese aus der Nachbarschaft kommen. Die Nachbarn reagieren feindlich. Hier ist eine Randgruppe der anderen nicht wohl gesonnen. Irina spürt, dass die Hilfe und Solidarität, die sie auf einen Schlag erfährt, sich explizit gegen die Roma richtet.

Wer den Film ohne jede Kenntnis der Handlung und Entwicklung sehen möchte, sollte hier mit dem Lesen abbrechen. Der Regisseur behandelt jedoch keinen Kriminalfall, sondern eine moralische Parabel. Er weiht das Publikum in das, was wirklich geschehen ist, ein. Er macht das Publikum jedoch nicht zum Verbündeten, sondern schickt es durch eine Zwangslage nach der anderen. Irina ist die Figur, dessen Integrität zur Disposition steht und es gibt keinen Ausweg. Darum teilt die Handlung Igors Geheimnis mit der Mutter und dem Publikum. Seine Verletzungen sind so gravierend wie echt, aber er hat sie sich selbst zuzuschreiben. Es gab keine Täter. Als Irena dies erfährt, hat sich bereits eine Handlungskette in Gang gesetzt, in der ein Zurückziehen der Anzeige gegen unbekannt, keine Option mehr ist.

Nicht nur ihre Staatsbürgerschaftsprüfung steht auf der Kippe. Die Politik war sogleich bei Fuß und witterte die Möglichkeit zum Stimmenfang. Die Bürgermeisterin versprach ihr eine Neubauwohnung und die Sportkameraden des Jungen wollen sogleich eine Demonstration organisieren, um auf Missstände hinzuweisen. Irina weiß und das Publikum weiß, dass sowohl die eine als auch die andere Seite kein sauberes Spiel spielt. Irina muss jedem Versuch der Manipulation ausweichen und kann es doch nicht. Egal, was sie tut, und wenn es das vermutlich Richtige ist, ist eine Entscheidung unter dem Druck von außen.

Die erstarkende Rechte wittert ihre Chance, die Roma für alles verantwortlich zu machen. Die korrupte Politik will sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Die Beschuldigten stecken in einer sie unterdrückenden Justiz fest, die Ergebnisse feiern will, unabhängig davon, dass es keine Ermittlungsergebnisse gibt. Michal Blaško, der das Drehbuch zusammen mit Jakub Medvecký schrieb, arbeitet mit subtilen Hinweisen und knüpft ein realistisches Bild von den komplexen Strukturen unter denen die Mutter nicht nur für ein Leben ohne Lügen kämpft, sondern auch noch für ihren Sohn eine Zukunft sichern will.

Der Verleih Rapid Eye Movies hat “Victim” passend zum Internationalen Roma-Tag am 8. April, der auf deren Verfolgung und Diskriminierung aufmerksam machen will, in dieser Woche ins Kino gebracht. Die gesellschaftlichen und politischen Missstände, die “Victim” behandelt, könnten nicht aktueller sein.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oběť Regie: Michal Blaško Drehbuch: Michal Blaško, Jakub Medvecký Kamera: Adam Mach Montage: Petr Hasalík Mit Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil, Inna Zhulina, Alena Mihulová Slowakei / Tschechien / Deutschland 2022 91 Minuten Verleih: Rapid Eye Movies Kinostart: 6. April 2023 Festivals: Venedig 2022 / Hamburg 2022 TMDB

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