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Ein Elite-Internat Anfang der 70er Jahre. Das Jahrzehnt ist noch jung. Und doch kann von Aufbruch keine Rede sein. Die Hoffnungen der 60er haben sich zerschlagen. Die verhärteten Strukturen an der fiktiven Barton-Schule lassen für einen Wandel keinen Raum. In dieses Setting setzt der Regisseur Alexander Payne (Sideways) und sein Drehbuchautor David Hemingson, drei Figuren, die hier das Alte, das Vergangene und die Verletzungen der Vergangenheit zurücklassen und sich neu orientieren werden. Es ist das Schauspiel dieser drei Figuren, das den Film über sein Setting, eben die Verortung in den 70er Jahren, hervorheben wird. Dabei ist The Holdovers zum Teil Weihnachtskomödie, zum Teil Gesellschaftsstudie. Komik und Trauer gehen hier Hand in Hand. Dazu ruft Payne eine gehörige Dosis Wehmut und Nostalgie hervor.

Zuerst sollte man den Filmtitel erklären. The Holdovers heißt so viel wie “die Zurückgelassenen”. Es ist Winter, die Weihnachtsferien stehen an. Nicht alle Schüler dürfen oder können in den Ferien nach Hause fahren. Es ist eine Schule für privilegierte Jungen, sowie die Staaten auch eine Gesellschaft für privilegierte Männer sind. Frauen sind hier, gemäß der Zeit, Objekt der Begierde, Mütter und Servicekräfte. Ein Lehrer wird stets ausgewählt, der vor Ort bleibt und eine Art Beschäftigungsplan durchzieht. Die Wahl vom Kollegium fällt auf den misanthropischen Paul Hunham (Paul Giammati), den eh niemand leiden kann. Weder die Schüler noch die Kollegen. Hunham hat sich zu sehr in seine Existenz als Lehrer ohne Achtung eingeigelt, als dass ihn die Sticheleien erreichen würden. Er lehrt, auch nicht ganz zufällig, die Geschichte des Römischen Reiches und seine Strenge, gepaart mit einer Freude, die zukünftige Elite der amerikanischen Gesellschaft ob ihrer Fehler abzustrafen, macht ihn berüchtigt. Es ist sicherlich nicht unbeabsichtigt, dass wir in diesen Schülern und ihrer Haltung die wiedererkennen, die heute die USA politisch lähmen.

Aus der Schar der Zurückgebliebenen, die nach und nach aus der Erzählung fallen, sobald sie ihre dramaturgische Funktion erfüllt haben, sticht ein Junge heraus. Angus Tilly ist der Exzentriker unter den Schülern und ihn trifft das Schicksal doppelt, als er nicht doch noch aus der Ferienstarre befreit wird. Seine Rolle wurde sehr gut besetzt mit Dominic Sessa. Auch er ist ein Internatsschüler, der sich für diese seine erste Rolle beworben hatte. Angus und Hunham sind Spiegelbilder ihrer selbst. Hunham erkennt sich in dem Jungen wieder und dem Jungen fehlt es an einer Vaterfigur, die er immer mehr in Hunham erkennt.

Die dritte Figur ist auch eine Zurückgelassene. Mary Lamb (Da'Vine Joy Randolph) ist Köchin in dem Internat. Sie hat die Stelle an der Schule nur angetreten, um ihrem Sohn die Möglichkeit zu geben, durch ein Stipendium eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Er durfte Schüler an dem Internat für die gehobene Klasse und die Gutverdienenden sein. Doch er ist es, der im Vietnam-Krieg gefallen ist und der bereits aus dem Gedächtnis der Mitschüler gelöscht wurde.

Diese drei Figuren sind eng in das Korsett der 70er geschnürt. Doch es ist ihre Darstellungskunst, die hier noch über dem Regietalent Payne herausragt und den Film, der sich zu sehr auf sein Setting verengt, die ihn sicherlich zum Klassiker machen wird. Eine Oscar-Nominierung für Paul Giamatti galt bereits früh als ausgemacht. Die stille Trauer der Mary Lamb brachte Da'Vine Joy Randolph, bekannt aus der Fernsehserie Only Murders in the Building und z.B. dem Film The United States vs. Billie Holiday, eine Nominierung als beste Darstellerin in einer Nebenrolle ein. Dominic Sessa ist ein unbeschriebenes Blatt. Bisher besuchte er die Deerfield Academy, eine der Schulen, die nicht so modern aussehen und darum als Drehort verwendet worden war. Zuvor spielte er mit Begeisterung am Schultheater. Für sein Spiel in The Holdovers setzte ihn das Branchenblatt Variety prompt in die Liste der “10 Actors to Watch”. Zurecht.

Alexander Payne wollte nicht nur einen Film drehen, der in den 70ern spielt, er sollte auch so wirken, als wäre er in den 70ern gedreht worden. Die 70er, die auch sein filmisches Coming-of-Age verorten, sollten nicht nur in Ausstattung und Kostüm lebendig werden, sondern auch den Zeitgeist der Figuren und ihrer Entwicklung widerspiegeln. Einer Zeit, in dem der junge amerikanische Film auf Geschichten von authentischen Figuren setzte, statt auf Action und Attitude. Für Payne sollte The Holdovers eine Art Zeitkapsel in diese Vergangenheit sein. Dabei stand ein viel älterer Film Pate. Das war Marcel Pagnols Merlusse (1935), über einen Lehrer, der die Weihnachtsferien mit seinen Schülern an einem Internat verbringt und diese besser kennen lernen wird.

Paul Giamattis Lehrerfigur ist kein Sympathieträger, er ist sogar in Statur und Haltung eher lächerlich. Und doch geht er einem irgendwann zu Herzen. Das gleiche gilt für den aufsässigen Widerpart in dem jungen Schüler Angus Tilly. Seine Leck-mich-am-A-Haltung wird nach und nach aufgebrochen. Mary Lamb ist eine Figur, der man das andere Amerika aufgebürdet hat, die als schwarze, alleinerziehende Frau auch noch alles verliert, man spürt ihren Schmerz, aber man bemitleidet sie nicht.

The Holdovers ist Kino aus einer Zeit, in der alles im Stillstand verharrte, wenn nicht sogar sich zurückwendete. Alexander Payne nimmt das Beste aus der New Hollywood-Zeit und versucht in dieser Zeit, die auch vom Stillstand und der Rückwende in eine schlechtere Zeit geprägt ist, dem Mainstream-Kino einen Impuls zu geben. Das ist ihm vielleicht nicht ganz gelungen. Aber seine Figuren werden bleiben.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: The Holdovers Regie: Alexander Payne Drehbuch: David Hemingson Kamera: Eigil Bryld Montage: Kevin Tent Musik: Mark Orton Mit Paul Giamatti, Dominic Sessa, Da 'Vine Joy Randolph, Carrie Preston, Andrew Garman, Tate Donovan, Gillian Yigman USA 2023 133 Minuten Kinostart: 25. Januar 2024 Verleih: Universal Festivals: Telluride 2023 / Toronto 2023 / Viennale 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

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J. Robert Oppenheimer gilt als Vater der Atombombe. Auch wenn man filmbegeistert ins Kino drängt, um Christopher Nolans neues Werk auf der größtmöglichen Leinwand zu sehen, um im Dunkel eines Saales die Explosion von Trinity, so nannte man die erste Bombe, die in Los Alamos erfolgreich als Test gezündet worden war, “heller als tausend Sonnen” das Bild ins helle Nichts ausbrechen zu sehen, ein paar Brocken Geschichtswissen sollte man mitbringen. Nolan ist für die einen der Erzähler im Rückwärtsgang (Memento), für andere der Ergründer der tiefsten Dunkelheiten im Genre der Superhelden (Batman Begins, The Dark Knight) und natürlich der Zauberer der verschachtelten Erzählstränge (Inception, Tenet).

Mit Oppenheimer bricht auch für Nolan ein neuer Abschnitt an. Als während der Pandemie die Kinos, wie so ziemlich alles, geschlossen wurden, wollten die Studios, im Fall von Tenet war das Warner Bros., auf Streaming Portale ausweichen. Nolan, ein Verfechter der Filmrezeption im Kinosaal überwarf sich mit Warner und so sind es jetzt die Universal Studios, die Oppenheimer ins Kino bringen. Die Zeiten, in denen die Studios Streaming parallel denken, ist eigentlich auch schon wieder vorbei und man könnte diesen Wechsel der Studiobeheimatung fast vergessen, wenn die amerikanischen Warner Bros. Pictures nicht bewußt ihr Zugpferd Barbie zum gleichen Starttermin angesetzt hätten. Was immer der Auslöser für dieses Kopf an Kopf-Rennen war, Filmenthusiasten nahmen die Herausforderung an. Kinos terminierten Doppelvorführungen, Fans konzipierten Filmplakate, die diese im Prinzip gegenteiligen Filmgenres derart verschmolzen, dass Barbenheimer in aller Munde ist.

Ein klein bißchen Beleidigtsein spielt auch in Oppenheimer eine entscheidende Rolle. Aber ich will der Handlung in dem Biopic nicht vorgreifen. Auch Nolan konnte sicherlich nicht ahnen, dass ein Film über die Erweiterung des Waffenarsenals, um eine Machtstellung im Weltgefüge zu demonstrieren und zu halten, derart an Aktualität gewinnt, wie es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr der Fall war. Nolan bedient sich einem Monsterwerk an Biographie. Über 20 Jahre arbeiteten der Historiker Martin J Sherwin und der Publizist Kai Bird an American Prometheus: The Trial and Tragedy of J. Robert Oppenheimer. Auf diesem Werk baut nun Christopher Nolan seine Erzählung auf und stellt damit auch die Frage nach der Verantwortung. Ohne aber hier das letzte Wort zu sprechen. Oppenheimer, der aktuelle Film, ist nur das aktuelle Kapitel in der Reihe von Filmen über die historische Figur, über die damaligen Ereignisse, über die Atombombe, das Manhattan-Projekt, über den Abwurf von Little Boy und Fat Man über Japan und über deren Folgen.

Dabei spielt Nolan wieder einmal mit mehreren Zeitebenen. Zu einem Drittel erzählt er den Werdegang von Oppenheimer, der hier von Cilian Murphy gespielt wird. Von der Langeweile im Labor führt ihn sein Weg bis nach Deutschland, wo er Heisenberg begegnet, und zurück. Oppenheimer ist dabei kein Film über die Quantenphysik oder über Wissenschaft, auch wenn hier so viele Wissenschaftler (und leider keine Wissenschaftlerin) auftauchen, dass man nur wenige von ihnen wirklich einordnen kann. Vielleicht bleibt neben Heisenberg gerade noch Albert Einstein (Tom Conti) im Gedächtnis. Heisenberg weil Matthias Schweighöfer ihn darstellt. Einstein weil die Dramaturgie hier bewußt einen Bogen wirft. Und ferner der spätere Kontrahent Ed Teller, ihn spielt der Schauspieler und Regisseur Benny Safdie, der auf die Entwicklung der Wasserstoffbombe setzt. Er gilt als “Vater der Wasserstoffbombe”, die Oppenheimer vehement ablehnte.

Nolan setzt zu einem weiteren Drittel auf den Aufbau des Manhatten-Projektes, dessen Projektleitung in militärischer Hand lag. General Leslie Groves Jr., gespielt von Matt Damon, ist zwar ein misstrauischer Hund, aber ohne die Wissenschaftler geht es halt nicht und somit kommt Oppenheimer als Leiter der Forschung zum Einsatz. Nolan spielt mehr auf das Zusammenspiel der unzähligen Akteure, die rasante Entwicklung wird gerade mal mit dem Blick auf eine Glasschale getaktet, die sich mehr und mehr mit Murmeln füllt. Die Frage, ob der Krieg nun wirklich nur mit dem Eintritt in ein nukleares Waffenzeitalter zu beenden war, ob die Mittel, die ins Manhatten-Projekt gesteckt wurden, nicht anders besser angelegt gewesen wären, als das kommt hier nicht zur Sprache. Das macht Oppenheimer quasi zum Militärfilm und eben nicht zum Wissenschaftsfilm und nur bedingt zum Politik- beziehungsweise Geschichtsfilm.

Ja, die Politik. Schon recht früh führt Nolan den dritten Handlungsstrang ein, der Oppenheimer im Verhör zeigt, weil man in ihm, auf Grund seiner Kontakte zur kommunistischen Partei, einen russischen Spion vermuten wollte. Robert Downey Jr. spielt den Politiker Lewis Strauss und drückt damit Murphy fast an die Wand. Strauss, Mitglied und später Vorsitzender der United States Atomic Energy Commission, war die maßgebliche Triebfeder, Oppenheimers Sicherheitsberechtigung zu entziehen. Als Referenz sollte man mal kurz die Suchmaschine anwerfen und nach der deutschen Fernsehproduktion In der Sache J. Robert Oppenheimer von 1964 suchen, die diese Verhöre anhand von den damaligen Protokollen, so authentisch wie nur möglich, in Szene setzte.

Ist denn nun Christopher Nolans Oppenheimer großes Kino? Unbedingt. Allerdings ist es nicht der ultimative Film im Werk des Regisseurs. Es liegt gar nicht mal an dem Zuviel an Akteuren, oder dass man auch mit guten englischen Sprachkenntnissen nicht immer alles akustisch versteht. (Was vielleicht in der deutschen Synchronisation ausgebügelt werden kann.). Nolan setzt auf 70mm Film, sogar auf Imax (wenn man denn ein Imax-Kino in der Nähe hat). Visuell ist das phänomenal, was sein Director of Photography Hoyte Van Hoytema für die Leinwand entwirft. Man möchte den Film gerne noch einmal sehen, einfach um all die hervorragenden Darsteller wirklich wahrzunehmen. Da ist es vielleicht ein Wermutstropfen, dass Nolan nun wahrlich nicht für komplexe Frauenrollen bekannt ist. Es mag Jammern auf hohem Niveau sein, doch es fällt auf, dass weibliche Errungenschaften im Feld der Kernspaltung nicht einmal Erwähnung finden. Es gibt im Umfeld Oppenheimers gerade mal zwei prominente Frauenrollen und beide verblassen hier zu Klischees. Emily Blunt spielt Oppenheimers Frau Kitty und Florence Pugh die Geliebte Jean Tatlock, die vielleicht interessant wäre, würde sie hier nicht nur als Objekt des Frauenheldes gezeichnet werden. Dieses Bild eines Frauenheldes, der zumindest für eine Einstellung mit einem noch gewaltigeren Moment, als die Explosion von Trinity, in Gedächtnis bleiben wird, fügt der gebrochenen Figur eines Wissenschaftlers, der an den Folgen seiner Forschung arbeiten muss oder sollte, nichts hinzu, sondern lenkt ab. Die Frage nach der Verantwortung, die beantwortet Nolan nicht.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oppenheimer Regie: Christopher Nolan Drehbuch: Christopher Nolan Kamera: Hoyte Van Hoytema Montage: Jennifer Lame Musik: Ludwig Göransson Mit Cillian Murphy, Emily Blunt, Robert Downey Jr., Alden Ehrenreich, Scott Grimes, Jason Clarke, Kurt Koehler, Tony Goldwyn, John Gowans, Macon Blair, James D'Arcy, Kenneth Branagh, Harry Groener, Gregory Jbara, Ted King, Tim DeKay, Steven Houska, Tom Conti, David Krumholtz, Petrie Willink, Matthias Schweighöfer, Josh Hartnett, Alex Wolff, Josh Zuckerman, Rory Keane, Florence Pugh, Sadie Stratton, Jefferson Hall, Britt Kyle, Guy Burnet, Tom Jenkins, Matthew Modine, Louise Lombard, Matt Damon, Dane DeHaan, Jack Quaid, Brett DelBuono, Benny Safdie, Gustaf Skarsgård, James Urbaniak, Rami Malek, Olivia Thirlby, Casey Affleck, James Remar, Gary Oldman USA / Großbritannien 2023 178 Minuten Verleih: Universal Kinostart: 20. Juli 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

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Der Titel bezieht sich auf eine Hausnummer. Ein Haus, ein Zuhause. Was gehört zu einem Zuhause? Familie, Kinder, Liebe. Die Regisseurin A.V. Rockwell, die 2018 mit ihrem Kurzfilm “Feathers” auf sich aufmerksam machte, erzählt in ihrem Langspielfilmdebüt von einer Mutter und ihrem Sohn. Dabei umspannt sie eine Zeit der Umbrüche.

New York City ist hier nicht nur Handlungsort, sondern Hauptdarsteller oder auch Gegenspieler. Die Entwicklung der Stadt läuft nebenher. Aus den Nachrichten erfahren wir, woran sich ein älteres Publikum vielleicht nur noch dunkel erinnert und was hier wahrhaftig an die Oberfläche drängt. Rudy Giuliani, Bürgermeister von New York City von 1994 bis 2001, war ein Verfechter der Law-and-Order-Politik, er räumte sozusagen auf. Die Kriminalität sollte mit Nulltoleranzmaßnahmen gedrückt werden. Während sich Teile der Bevölkerung sicherlich sicherer fühlten ob der Maßnahmen, waren andere Bevölkerungsgruppen, besonders auch in Harlem, wo Rockwell ihre Geschichte verortet, verstärkt Polizeigewalt ausgesetzt. Verschärft wurde die systematische Gewalt besonders gegen die Gruppen der Afroamerikaner und Latinos unter Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg.

“A Thousand and One” begleitet Inez, gespielt von der Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin Teyana Taylor, aus dem Knast in ein Leben der Chancenlosigkeit. Zu viele Details sollen hier gar nicht aufgeschlüsselt werden.

Rockwell stellte ihren Film dieses Jahr in Sundance als Weltpremiere vor und gewann prompt den Grand Jury Prize, den Hauptpreis in der Dramatic Sektion. Nicht nur wählte sie eine relevante Geschichte, sondern sie legte den Finger in eine alte Wunde, ohne gleichzeitig den Zeigefinger zu heben. Sie entwickelte ein Porträt, dass während viele Filme idealisierte Figuren und Situationen verhandeln, ohne falsche Töne von wahrhaftigen Figuren erzählt, deren Probleme wirklich Probleme sind. Dabei hält sie sich mit Wertungen zurück und entwickelt die Figuren aus sich heraus. Ihr Debüt ist ein Zeitporträt einer Stadt und ihren abgedrängten Bewohnern, die sich durch alltägliche Schikanen und Gentrifizierung ihres Zuhauses nie sicher sein konnten.

Inez steht vor dem Nichts. Aus diesem Nichts baut ihre Figur etwas auf. Obwohl das Leben ihr Steine in den Weg legt, obwohl Giulianis Stadtpläne mehr und mehr Menschen wie sie ins Abseits drängt.

Zuerst ist Inez auf der Suche nach Terry (Aaron Kingsley Adetola, später Aven Courtney und Josiah Cross), ihrem sechsjährigen Jungen, der in einer Pflegefamilie untergebracht ist, die ihm keine Familie sein will und kann. Als der Junge nach einem Unfall im Krankenhaus landet, entführt sie ihn von der Station und damit beginnt die eigentliche Handlung dieses Familienporträts. Die Entführung selbst ist ganz klar eine Straftat. Niemand interessiert sich aber für den Verbleib eines schwarzen Jungen. Allerdings sind die Konsequenzen einer Biographie unter dem Radar enorm. Was das Kind nicht abschätzen kann, ist Inez durchaus bewusst. Sie stellt jedoch die Fürsorge für das Kind ihren Bedürfnissen voran, bis ihr Wille, es gut zu machen, alles wieder in Frage stellt.

Einfach ist es nicht für sie. Natürlich nicht. Sie hatte selbst nie eine Familie. Die Fürsorge muss sie erst lernen. Umso resoluter kämpft sie für das Heranwachsen eines Kindes, dem sie die bestmögliche Bildung zukommen lassen möchte, als auch für ihr persönliches Glück und ihre Vorstellung von Familie, welches sie vielleicht bei Lucky (William Catlett) findet, der bei ihr einzieht und auch bereit ist, zu einer Vaterfigur zu wachsen. Rockwell findet einen fast dokumentarischen Blick auf die Stadt. Mit jedem Zeitsprung, mit dem sie ihre Figuren zuerst Mitte der 90er Jahre bis in die 2000er immer wieder einfängt, hat sich auch die Stadt weiterentwickelt. Rockwell stellt ihre Figuren geradezu in Opposition mit dieser Entwicklung. Das Leben dieser Figuren ist ein Leben trotz der Entwicklung, im täglichen Kampf gegen den systematischen Rassismus und einer Politik, die ihresgleichen aus der Stadt und der Stadtplanung eliminieren will. Gleichzeitig ist “A Thousand and One” trotzdem eine Liebeserklärung an New York City, eben nur ohne eine falsche Glorifizierung.

Die Erzählung von Inez, Lucky und Terry ist eine von 1001er Geschichten, die um ihre Existenz und um ihre Würde kämpfen. “A Thousand and One” ist ein großartiges, facettenreiches Debüt, A.V. Rockwell eine Entdeckung.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: A Thousand and One Regie: A.V. Rockwell Drehbuch: A.V. Rockwell Kamera: Eric K. Yue Schnitt: Sabine Hoffman, Kristan Sprague Musik: Gary Gunn Mit Teyana Taylor, Aaron Kingsley Adetola, Aven Courtney, Josiah Cross, William Catlett, Terri Abney, Delissa Reynolds, Amelia Workman, Adriane Lenox, Gavin Schlosser, Jolly Swag, Azza El, Alicia Pilgrim, Jennean Farmer, Kal-El White, Jamier Williams, Naya Desir-Johnson, Mychelle Dangerfield, John Maria Gutierrez, Artrece Johnson, Mark Gessner, Tara Pacheco USA 2022 117 Minuten Verleih: Universal Kinostart: 18. Mai 2023 Festivals: Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

© Eneh