Cineneh

NeueVisionen

L.o.l.a. ist eine Maschine. Genauer gesagt: L.o.l.a. ist eine Zeitmaschine. Sie wurde von den Schwestern Hanbury konstruiert.

Nach dem Tod der Eltern leben Thomasina (Emma Appleton) und Martha (Stefanie Martini) allein in einem Landhaus und sind sich selbst genug. Und dann ist da noch “Lola” oder auch L.o.l.a. Die Maschine besteht aus einer großen aufgehängten Platte, auf der man Bilder empfangen kann.

Unterhaltungssendungen aus der Zukunft entfachen plötzlich mitten im Weltkrieg die David-Bowie-Manie bei ihren Erfinderinnen. Doch was zuerst Vergnügen bereitet, bedeutet alsbald Verantwortung von den Beiden. Der Krieg fordert seinen Tribut, Luftgeschwader der Deutschen bedrohen auch die Zivilbevölkerung. Mit Hilfe der Zeitmaschine wissen die Schwestern, wann und wo es zu Angriffen kommen wird. Rechtzeitig übermitteln sie Warnungen via Funk.

Es heißt aber nicht von ungefähr, dass man sich bei Zeitreisen nicht in den Verlauf der Geschichte einmischen sollte. Jetzt ist die Implikation, wie die Zukunft verlaufen wird, für die Schwestern nur eine wage Möglichkeit, die ihnen bis zu einem gewissen Punkt nur Vergnügen bereitet hat.

Das Drehbuchteam von Regisseur Andrew Legge und Angeli Macfarlane bindet das Wissen des Publikums über den Verlauf des II. Weltkrieges und der Pop-Geschichte der Nachkriegszeit mit ein. Ohne zuerst zu wissen, inwiefern sich die Zukunft durch ihre Einmischung verändert, fuschen sie der Weltgeschichte “as wie know it” gehörig ins Handwerk. So sehr, dass sie zwar anfangs Menschenleben retten, aber Großbritannien mehr und mehr den Krieg zu verlieren droht.

Es kommt noch ärger: Insbesondere Thomasina verfällt ihrer Maschine und ihr gefällt die Macht, die sie erlangt. Andrew Legge versucht sein Gedankenexperiment, das visuell aufwendig gestaltet wurde und wahrlich fasziniert, hier auf einen philosophischen Kurs zu bringen. Ab wann verliert man die Kontrolle über das, was man tut, und ab welchem Punkt verliert man den ethischen und den moralischen Kompass? Was ist eine Zukunft wert, wenn es Stanley Kubrick, Bob Dylan und David Bowie so nie gegeben haben wird? Wenn alle Popsongs lyrisch stattdessen feuchte Nazi-Träume bedienen?

Lola ist als Mockumentary aufgezogen. Zum einen drehte das Filmteam über weite Strecken mit einer Bolex 16 mm, damit alles so aussieht, als wären wir wirklich in den 40er Jahren. Jede Menge Found Footage wurde erstellt. Handfestes Archivmaterial wurde mit eingebunden und teilweise verfremdet und es passt höllisch genau.

Andererseits bricht das Material auch immer wieder den Erzählfluss. Legge variiert hier einen seiner Kurzfilme. In The Chronoscope von 2009 hatte er einen Wissenschaftler erfunden, der mit einer Maschine in die Vergangenheit schauen konnte. Was Andrew Legge aber auch ausklammert, ist, dass seine alternative Wirklichkeit eigentlich mehr als ein paar handelnde Figuren haben müsste. Er konzentriert sich auf die Maschine und die beiden Schwestern. Es gibt keine Bevölkerung im Widerstand. Es gibt scheinbar überhaupt keinen Widerstand.

Die Ereignisse bedrohen schließlich auch das Schicksal der Schwestern. Eine Figurenentwicklung aus sich selbst heraus bleibt halbherzig. Eine angedachte Romanze überzeugt wenig. Dass ausgerechnet eine queere Figur auf die falsche Seite geraten könnte, verärgert sogar ein bisschen. Dass angedachte Fragestellungen nach der Wichtigkeit von Kultur und Wissenschaft irgendwann zugunsten von Spionage-Allerlei und Actionszenen vernachlässigt werden, ist bedauernswert. Andrew Legge möchte aus der Nummer herauskommen, indem er alle Änderungen rückgängig macht. Alles auf Anfang sozusagen. Nach Zeitreiselogik sollte das aber nur in parallele Wirklichkeiten führen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Lola Regie: Andrew Legge Drehbuch: Andrew Legge, Angeli Macfarlane Kamera: Oona Menges Montage: Colin Campbell Musik: Neil Hannon Mit Stefanie Martini, Emma Appleton, Hugh O'Connor, Rory Fleck Byrne, Aaron Monaghan, Ayvianna Snow, Philip Condron, Shaun Boylan Irland / Großbritannien 2021 79 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Neue Visionen Festivals: Hamburg 2023 / Sitges 2023 TMDB

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Cáit (Filmdebütantin Catherine Clinch) ist ein stilles Kind. In ihrer Familie wirkt und wird sie an den Rand gedrängt. Es fehlt an vielem. Die Familie ist arm. Sie ist eine von vier Schwestern und die Mutter ist wieder schwanger. Die Handlung spielt 1981, die Familie lebt auf dem Land. Die Mutter ist überfordert, der Vater schroff. Zuwendung, von Zuneigung mag man gar nicht erst sprechen, fehlt. Cáit ist nicht nur sehr still, sie zieht sich so sehr zurück, dass sie praktisch unsichtbar wird. Wie belastend die familiäre Kälte auf das Kind wirkt, merkt man, wenn man gewahr wird, dass sie sich wieder einmal nachts eingenässt hat.

Es ist den Eltern zu viel. Unvermittelt setzen sie ihr jüngstes Kind bei fernen Verwandten ab. Mit nichts weiter als dem Kleid, das sie gerade trägt. Ohne Erklärung und ohne zu wissen, ob sie irgendwann wieder abgeholt wird, findet sich das Kind in der Fremde wieder. Colm Bairéad nahm sich für seinen ersten Langfilm, zu dem er auch das Drehbuch verfasste, einer Kurzgeschichte an. Foster von Claire Keegan erschien 2010 in dem Magazin “The New Yorker”. Das Publikum erlebt die Ereignisse aus der Sicht von Cáit. Die Kamera von Kate McCullough (aktuell Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry), die für diese Arbeit den Europäischen Filmpreis für die beste Kameraarbeit gewann, engt sich auf das Vollbild 4:3 ein. Cáit ist noch zu sehr Kind, gerade 9 Jahre alt, ihre Sicht umfasst nur ihr nächstes Umfeld. Diese Beschränkung setzt sich in dem Format um. Doch Cáit ist aufmerksam, sie nimmt Dinge und auch Stimmungen wahr.

Ihr Zuhause für diesen Sommer ist auf dem Hof bei einem älteren, kinderlosen Ehepaar, das etwas besser situiert lebt. Mit einem einzigen Satz wendet sich für das Mädchen alles. Eibhlín Kinsella, gespielt von Carrie Crowley, fasst das erste unfassbare Gefühl in Worte. Worte, die hier so selten laut ausgesprochen werden, denn “The Quiet Girl” lebt von Zwischentönen, Gesten, dem Licht, das die Figuren umhüllt, und einem zurückgenommenen Pacing. Sie würde ihr Kind niemals bei Fremden aussetzen, sagt sie dem Kind. Cáit wurde zwar rigoros abgeschoben, doch das erste Mal in ihrem Leben wird sie hier gesehen. Und sehr langsam wagt sie sich aus ihrem Schneckenhaus. Eibhlín umhegt das Mädchen, schenkt ihr all die Liebe, die sie hat. Ihr zurückhaltender Mann Seán (Andrew Bennett) braucht etwas länger. Einfach ist es trotz allem nicht.

Viel mehr muss man gar nicht über diesen Film wissen. The Quiet Girl erzählt sich mit dem Herzen. Es ist ein leiser, ein lyrischer und doch auch vielschichtiger Film, der über die Sinne berührt. Alle Gewerke unterstützen die Darstellenden. Subtil kündigt sich schon früh eine weitere Geschichte hinter der Geschichte an, die das Kind auch bald erspürt. Eine Besonderheit ist, dass Bairéad den Film in Irisch drehte, einer Sprache, die viel zu selten auf der Leinwand zu hören ist. Doch die Hauptsprache von The Quiet Girl ist die Filmsprache, die Stille in vielen Variationen vermittelt. Ohne Worte vermitteln sich Kummer und Trauer. Kälte und Wärme. Auch das Publikum wird stiller und stiller.

The Quiet Girl wurde 2022 im Generation-Programm der Berlinale vorgestellt. Die Kinderjury zeichnete den Film mit einer lobenden Erwähnung aus. Die internationale Jury bedachte das stille Drama gar mit dem großen Preis. Es ist immer wieder erstaunlich welch stimmige, anspruchsvolle und doch leicht zugängliche Filme die Kplus-Sektion des Festivals zusammenzutragen weiß und man fragt sich, warum nicht mehr von genau diesen wunderbaren Filmen es tatsächlich in die Kinos schaffen. Besonders im Bereich Kinderfilm. Colm Bairéad bewies mit seinem Langspielfilmdebüt sein Talent. Seine Arbeit an Dokumentarfilmen bereitete ihn auch darauf vor, die Bilder bis ins Detail auf die Geschichte zu fokussieren. Sein Film eroberte Festival um Festival, gewann nationale und internationale Filmpreise und schaffte es als Irlands Einreichung für den Internationalen Oscar bis in die Nominierungsrunde. Mit einiger Verspätung kommt die Geschichte von Cáit nun doch noch in unsere Kinos.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: An Cailín Ciúin Regie: Colm Bairéad Drehbuch: Colm Bairéad Vorlage: Claire Keegan Kamera: Kate McCullough Schnitt: John Murphy Musik: Stephen Rennicks Mit Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh, Joan Sheehy, Tara Faughnan, Neans Nic Dhonncha, Eabha Ni Chonaola, Carolyn Bracken, Pádraig Ó Se, Breandán Ó Duinnshleibhe, Sean Ó Súilleabháin, Aine Hayden, Elaine O'Hara, Marion O'Dwyer, Jessica Joannides, Roise Crowley, Grainne Gillespie Irland 2022 95 Minuten Verleih: Neue Visionen Kinostart: 16. November 2023 Festivals: Berlinale 2022 TMDB

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Wer Museumsfilme mag, sollte sich Vermeer – Reise ins Licht nicht entgehen lassen. Wer es nicht in diese ultimative Vermeer-Ausstellung in Amsterdam dieses Jahr geschafft hat, sollte sich mit dieser Dokumentation trösten. Danach möchte man die einzelnen Häuser, die Bilder von Vermeer ihr Eigen nennen, zu gerne abklappern. Die Kuratoren der Ausstellung haben genau das gemacht. Die Planung war, einen möglichst umfassenden Katalog an Werken des Künstlers zusammenzubringen. Dafür musste das Team bei den anderen Museen anklopfen und dann verhandeln. Diplomatisches Geschick war gefragt, aber nicht immer gegeben. Suzanne Raes' Dokumentation ist quasi ein “Making-of” dieser Ausstellung.

Sie ermöglicht es dem Publikum einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Durchaus mit einem humorvollen Blick. Durchweg neugierig und mitunter richtig spannend. Mit ihrer Hilfe lernen wir die Arbeit der Kuratoren kennen. Wie wählt man Werke aus? Unter welchen Aspekten soll die Auswahl behandelt werden? Was macht man, wenn man einzelne Gemälde nicht bekommt? Bereits dieser Aspekt der Ausstellungsvorbereitung ist faszinierend. Bei Jan Vermeer van Delft (1632 – 1675) kommt nun erschwerend hinzu, dass man, obwohl nur etwa 37 Bilder bekannt sind, ihm nicht alle mit endgültiger Sicherheit zuschreibbar sind.

Darum machte man sich daran, die Werke auf ihre Echtheit hin auf den Prüfstand zu stellen. Die Fragestellung ist, unter anderem: was macht einen Vermeer zu einem Vermeer? Der Film will sich dem Künstler also über seine Kunst annähern. An biografischen Informationen gibt es ja nicht viel. Erkenntnisse über Faltenwürfe der Gewänder sind einfacher zu gewinnen. Dabei ist all das nur eine Perspektive, denn die Ausstellung soll nicht nur den Künstler erklären, sondern neue Aspekte finden und vermitteln. Denn letzten Endes ist eine gute Ausstellung eine, die das Publikum dazu bringt, mit neuen Augen zu sehen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Close to Vermeer Regie & Konzept: Suzanne Raes Kamera: Victor Horstink Montage: Noud Holtman Musik: Alex Simu Mitwirkende Jonathan Janson, Pieter Roelofs, Abbie Vandivere, Betsy Wieseman, Gregor J.M. Weber, Anna Krekeler, Xavier F. Salomon, Lisanne Wepler, Maud van Suylen, Otto Naumann, Thomas S. Kaplan, Annelies van Loon, Taco Dibbits, Adam Eaker, Silke Gatenbröcker, Alexandra Libby, Melanie Gifford Niederlande 2023 79 Minuten Kinostart: 9. November 2023 Verleih: Neue Visionen TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #NeueVisionen #DokFestMünchen2023

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