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Bella Baxter (Emma Stone) ist das arme Wesen, dass erst lernen muss, Besteck zu gebrauchen. Wie eine Ente watschelt sie durch das Herrenhaus ihres Ziehvaters, Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe). Der heißt nicht zufällig so. Er trägt den Schöpfer, Gott, im Namen, und ist entstellt, während sie die Schöne und die Unschuld ist. Nur eben noch ganz un-erzogen und Kind-gleich.

Dennoch lebt dieses Wesen im Körper einer erwachsenen Frau. Trotz einer Kamera, die hier zu Beginn einen subjektiven, wenn nicht gar verzerrten Blick auf den Raum gibt, der hier zum Ausgangspunkt von Bella Baxters Geschichte wird, bemerkt man, dass so einiges seltsam ist. Als hätte man Körperteile auseinandergenommen und sie nicht wieder “richtig” zusammensetzen können. Doch in der Veränderung liegt der Schlüssel zu neuen Erkenntnissen. Bella ist sich zuerst nur “Gott” bewusst, der sie, zugegeben mit viel Hingabe und auch Zärtlichkeit, zu erziehen trachtet. Dafür holt er auch einen Assistenten (Ramy Youssef) ins Haus, der ihre Entwicklung minuziös protokollieren soll.

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos galt 2009 mit seinem Film Dogtooth als Entdeckung. Mit The Lobster, Untertitel Hummer sind auch nur Menschen, eine skurrile Verwandlungsfantasie, etablierte sich Lanthimos im Arthouse-Bereich. Weit zugänglicher war sein Porträt von Queen Anne in The Favourite – Intrigen und Irrsinn, der Humor mit Traurigkeit (oder umgekehrt) zu verbinden wusste. Neben zahlreichen Auszeichnungen konnte The Favourite in seinem Jahrgang fast alle Europäischen Filmpreise für sich verbuchen. Bereits hier hatte Lanthimos Emma Stone eine Nebenrolle gegeben. Dass weit mehr in ihr steckt, beweist sie mit Poor Things. Womit Lanthimos für Emma Stone wohl genauso gern ein Dr. Baxter wäre.

Emma Stones Bella, ein frankensteinisches Geschöpf, saugt Wissen auf, wie ein verdorrter Schwamm. Vor unseren Augen erstrahlen ihre Augen, wann immer sie etwas entdeckt. Abgeschottet von der Welt, will sie hinaus aus dem Herrenhaus. Einmal hinausgekommen, kann man sie nicht mehr halten.

Mitnichten begnügt sie sich mit einem Assistenten. Sie lernt den Lebemann Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) kennen und brennt mit ihm durch. Noch ein Mann, der sie formen will nach seinem Ermessen und noch ein Mann, dessen Fassade sie einreißt, dessen Charakter sie entlarvt und den sie an sich selbst zerbrochen zurück lassen wird.

Konventionen und Gepflogenheiten, die guten Sitten und die Regeln des Zeitalters, hier die Viktorianische Zeit, gelten aus der Sicht eines Wesens, das frei von all diesen Hemmschuhen sich aus sich heraus entwickelt hat, nichts. Das darf man sich mal vorstellen. Natürlich entdeckt sie auch ihren Körper. Und was man damit anstellen kann. Und sie hat Freude daran. London hat sie da schon längst verlassen und nachdem sie über die Meere geschippert ist, landet sie dort, wo böse Mädchen weiterkommen. Es ist ein Spaß.

Yorgos Lanthimos hat sich für Poor Things das Buch des Schottischen Autors Alasdair Gray vorgenommen. Sein Roman Arme Dinger: Episoden aus den frühen Jahren des schottischen Gesundheitsbeamten Dr. med Archibald McBandless, ursprünglich 1992 veröffentlicht und 2000 auch auf Deutsch übersetzt, ist die Vorlage, aus der Lanthimos zusammen mit dem australischen Drehbuchautoren Tony McNamara, der auch schon für The Favourite verantwortlich war, dem Kanon der Frankenstein-Adaptionen ein neues Kapitel hinzufügt.

Bella weiß zuerst nichts von ihrer Herkunft. Aber Herkunft ist hier nur ein weiterer Puzzlestein im großen Ganzen. Bella auf ihrer Reise zur Selbstermächtigung und Erkenntnis zu begleiten ist das eine. Poor Things, den man gerne mehrmals anschauen möchte, um mehr und mehr der Referenz- und Zitat-Kaskaden einfangen zu können, handelt von der Lust an der Erforschung und der Freunde am Wissen. Das ist in einer vermehrt wissensfeindlichen Mainstreamzeit schon mal außergewöhnlich. Poor Things funktioniert als Komödie genauso gut, wie auf der Metaebene, die die Vorlagen aufgreift und das Publikum damit anlockt.

Aber machen wir uns nichts vor. Es ist ein männlicher Blick, der hier Bella Baxter ein- und vorführt. Bella hält in ihrer offenen und ehrlichen Art und ohne Worte zu verklausulieren den anderen Figuren zwangsläufig den Spiegel vor. Das filmische Geschöpf aus Vorlage, Umsetzung und Inszenierung wiederum sollte nun uns den Spiegel vorhalten. Nur Bedenken kommen hier nicht auf. Wissen ist Lust, Lust ist gut. Bella optimiert sich ohne auch nur einmal auf die Bremse zu treten. Da lässt der Film keinen Raum mehr übrig, etwas Zweifel ist also schon angebracht.

Poor Things feierte seine Premiere 2023 auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig und gewann dort prompt den “Goldenen Löwen” als besten Film. Seitdem sammelt auch dieser Film in allen darstellerischen als auch künstlerischen Gewerken die Preise ein. Damit gilt Poor Things als einer der besten und wichtigsten Filme des Kinojahres 2023 mit hohen Chancen für eine Nominierung am 21. Januar 2024 auf den vordersten Plätzen bei den 96. Academy Awards, die am 10. März 2024 verliehen werden.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Poor Things Regie: Yorgos Lanthimos Drehbuch: Tony McNamara Vorlage: Alasdair Gray Kamera: Robbie Ryan Montage: Yorgos Mavropsarides Musik: Jerskin Fendrix Mit Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Suzy Bemba, Jerrod Carmichael, Kathryn Hunter, Vicki Pepperdine, Margaret Qualley, Hanna Schygulla Großbritannien / Irland / USA 2023 142 Minuten Kinostart: 18. Januar 2024 Verleih: Walt Disney Studios Festivals: Telluride 2023 / Toronto 2023 / Viennale 2023 TMDB

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#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #WaltDisneyStudios

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Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine Geschichte über das abrupte Ende einer Freundschaft. Banshees sind mythologische Wesen, weibliche Geister aus der “Anderswelt”, einer Welt, die für Menschen nicht sichtbar ist. Sie klagen und wenn sie erscheinen, zumindest im irischen Volksglauben, kündigt sich ein Tod an. Wer das Klagen der Banshees vernimmt, gerät nahe des Wahnsinns.

Pádraic Súilleabháin, gespielt von Colin Farrell, ist ein einfacher Mann und sicherlich nicht der hellste. Ihm genügt sein Leben auf der abgelegenen, fiktiven Insel Inisherin, er hat keine Ambitionen. Er arbeitet selbstständig in der Landwirtschaft und verbringt seine freie Zeit in der Wirtschaft. In der Regel und bisher traf er dort immer auf seinen besten Freund Colm Doherty (Brendan Gleeson). Es ist der 1. April als ihm Colm zuerst wortlos die Freundschaft aufkündet. Kein Aprilscherz, es ist Colm bitterernst und Pádric befällt immer mehr der Wahnsinn, weil er diese Entscheidung nicht versteht und folglich auch nicht akzeptiert und schon gar nicht respektiert.

“The Banshees of Inisherin” von Martin McDonagh ist keine Fortsetzung von “In Bruges” (“Brügge sehen… und sterben?”), auch wenn der irische Regisseur und Drehbuchautor, der zuletzt in den Staaten mit “Three Billboards Outside Ebbing, Missouri” erfolgreich war, sich der beiden Hauptdarsteller der Krimikomödie von 2008, Colin Farrell und Brendan Gleeson, bedient.

Man könnte seinen neuen Film, der bereits für die OSCARS® hoch gehandelt wird und besonders Colin Farrells Nominierung in der Kategorie Schauspiel sollte als gesichert gelten, als Tragikomödie lesen. Das ist nicht falsch, doch ist dieser Film auch eine Parabel auf einen Bruderkrieg, auf den irischen Bürgerkrieg, auf den Krieg im allgemeinen.

Zeit der Handlung ist das Jahr 1923. Auf dem Festland in der Ferne herrscht Bürgerkrieg. Immer wieder verweist McDonagh auf das, was dort vor sich geht. Doch vielleicht lässt es sich dort besser leben. Immer mehr Einwohner der Insel verlassen diese. Die, die zurückbleiben, sollten doch in Eintracht leben können. Pádraic versteht die rigorose Ablehnung seines ehemaligen Freundes nicht und versucht die Freundschaft wieder ins Lot zu bringen. “The Banshees of Iisherin” handelt auch von der Vergeblichkeit dieser Bemühungen. Die gut gemeinten Anstrengungen von Pádraic lösen eine Kette von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Ereignissen aus.

Ursprünglich war die Vorlage ein Theaterstück. Martin McDonagh hatte bereits in den 90ern eine Theaterstück-Trilogie verfasst. “The Banshees of Inisherin”, als dritter Teil der “The Aran Islands Trilogy”, genügte seinen Vorstellungen nicht und so blieb das Stück in der Schublade. Wie wichtig die Zutaten für das Gelingen eines Stückes sind, beweist die Besetzung, die aus der Vorlage das Beste herausholt. Sturrheit, Verbissenheit, Verzweiflung, Unverständnis, Aufbegehren, Einsicht. All das liest man den Darstellern in der Mimik und Körperhaltung ab.

Brendan Gleeson spielt den Mann, der plötzlich Ambitionen hegt. Er möchte für seine Geige Musik komponieren und der Welt etwas hinterlassen. Man solle sich an ihn erinnern. Colin Farrell spielt den Mann, der keine Talente außer seiner Loyalität besitzt, der stets das Richtige tun möchte und das nicht immer schafft. Beiden Männern wohnt eine stille Wut inne, die ihnen keinen Ausweg bietet. Ganz anders reagiert Pádraics Schwester Siobhán, gespielt von Kerry Condon, die zuerst als Brücke zwischen den zwei Männern fungiert, die stets Harmonie und Geborgenheit ausstrahlt. Sie ist eine selbstbewusste Frau, die entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen. McDonagh flechtet in das Stück die Frage ein, ob ein Mensch der ist, der er ist, oder ob seine Taten ihn bestimmen. Und er stellt auch die Frage, ob die Charakterzüge eines Menschen oder seine Talente wichtiger sind. Oder ob diese Fragen uns überhaupt weiterbringen.

Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine düstere Komödie über zwei wortkarge Kontrahenten und ihrer Marotten. Man fühlt mit beiden Figuren und möchte doch nicht in ihrer Haut stecken. Die Handlung wird nicht von der Komik bestimmt, sondern zeichnet sich durch ihre Absurditäten aus. Die karge Landschaft zeugt von einer depressiven Grundstimmung, die Nährboden für die hier angerissene Verzweiflung ist. Die Sinnlosigkeit jedes Streites, die ihm zugrunde liegende Toxizität, die quasi unausweichliche Eskalation, die immer weiter von all dem abrückt, was man noch verstehen könnte, um zu einer Lösung zu gelangen, ist Gegenstand dieses sehr klugen und vielschichtigen Filmes mit historischen Bezügen. “The Banshees of Inisherin” ist großes Kino und vielleicht jetzt schon einer der schönsten Filme des jungen Jahres.

Eneh

Originaltitel: The Banshees of Inisherin Regie: Martin McDonagh Mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon, Barry Keoghan, Pat Shortt, Gary Lydon, David Pearse, Sheila Flitton, Bríd Ní Neachtain, Jon Kenny Großbritannien / Irland / USA 2022 114 Minuten Verleih: Walt Disney Studios Kinostart 5. Januar 2023 Festivals: Venedig / Toronto / Zürich / Hamburg

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