Filmbesprechung: Past Lives – In einem anderen Leben

Die schönste Liebesgeschichte des Jahres, so könnte man Past Lives knapp beschreiben. Aber eigentlich ist Past Lives gar keine Liebesgeschichte. Zumindest ist sie das nur zum Teil. Der deutsche Titel benennt das Spielfilmdebüt der koreanisch-amerikanischen Bühnenautorin Celine Song (Endlings), die mit diesem Erstling selbst am Scheideweg steht und fortan Filme drehen möchte, ganz treffend Past Lives – In einem anderen Leben.

Die “vergangenen Leben” beziehen sich dabei auf das koreanische Konzept des “In-Yun”, das besagt, dass Seelen sich über Reinkarnationen hinweg immer wieder aufeinandertreffen und eine Verbundenheit aufbauen. Diese Verbundenheit kann nach unzähligen Zirkeln zu einer tiefen Liebesbeziehung führen.

Nora (Greta Lee) erzählt Arthur (John Magaro) von “In-Yun”, als sie ihn kennenlernt und fügt hinzu, dass Koreaner den Begriff gerne als einen netten Anmachspruch verwenden. Aber so ganz abstreiten möchte Celine Song diese Idee in ihrem Werk nicht. Der deutsche Zusatztitel vermittelt das Gefühl, dass ein Leben mit all seinen Abzweigungen auch anders verlaufen könnte. Damit bezieht Celine Song in ihrem semiautobiographischen Drama sich nicht nur auf Liebe und Zweisamkeit, sondern auf die Schmerzen bei der Suche nach Identität, die aus all den Möglichkeiten, die ein Leben bietet, aufkommen und sowohl die Figuren als auch ihre Beziehung zueinander formen.

Wir standen alle schon an Scheidewegen. Manchmal wählen wir unseren Weg selbst. Wir wählen eine andere Stadt, weil uns zum Beispiel der Beruf diese Möglichkeit gibt. Manchmal werden uns diese Entscheidungen abgenommen. Nora ist 12, als sie mit ihrer Familie die Heimat verlässt, um nach Kanada auszuwandern. Für einen Nachmittag schenken die Mütter von Nora, die da noch den koreanischen Namen Na Young hat, und Hae Sung (als Erwachsener wird er von Teo Yoo gespielt), einen gemeinsamen Ausflug. Die beiden Kinder besuchen die gleiche Schule und haben weitgehend den gleichen Schulweg. Hae Sung mag Nora sehr, Nora fühlt sich in seiner Gegenwart verstanden. Dieser Nachmittag im Park soll den beiden Kindern eine Erinnerung schenken. Auch wörtlich trennen sich ihre Wege dann.

Erst Jahre später finden die beiden eher zufällig und über die sozialen Medien wieder zueinander und sind sich auch über die Kontinente hinweg so nahe, wie es nur gute Freunde mit gemeinsamer Vergangenheit sein können. Für eine Weile erzählen sie sich und damit uns in Videoschaltungen von ihrem Alltag und ihrem Leben, bis das Leben selbst sie jeweils wieder ganz in Beschlag nimmt.

Auslöser für eine Betrachtung des Daseins der gelebten und der nicht gelebten Möglichkeiten ist eine Szene, die der Film ganz an den Anfang stellt. Das Publikum nimmt sogleich die Position des außenstehenden Betrachters ein, der sich fragt, wie die drei Figuren, die gemeinsam in einer Bar in New Yorks East Village sitzen, aber sich nicht wirklich gemeinsam unterhalten, zueinanderstehen.

Nora ist hier der Mittelpunkt, die sich mit einem der Begleiter in einer Sprache unterhält, die der andere nicht versteht. Womit beide männlichen Figuren gemeint sein können. Der eine spricht Koreanisch, der andere Englisch und Beide haben rein gar nichts miteinander zu tun. Ohne Nora würden sich ihre Lebenswege nie kreuzen. Nur Nora ist ihnen beiden gemeinsam. Was hat sie also zueinander geführt? Wie stehen sie zueinander? Diese Szene hat sich in etwa so auch in Celine Songs Leben abgespielt. Sie spürte die fragenden Blicke anderer Gäste und blickte innerlich zurück, welche Fragen das sein mögen und welche Antworten die anderen finden könnten.

Die Betrachtung eines Außenstehenden kann diese Szene deuten, instinktiv begreifen, interpretieren und aufs Neue interpretieren. Celine Song, springt nach der Eröffnung 24 Jahre zurück in die Kindheit seiner Hauptfigur Nora. Doch es kann auch sein, dass wir eine Erinnerung sehen. Eine Liebesgeschichte ist Past Lives nur insofern, dass sowohl Hae Sung als auch Arthur Gefühle für Nora hegen und auch bereit sind, auf ihren Lebensweg einzugehen, sie loszulassen, um mit ihr verbunden zu bleiben.

Dabei schafft es Celine Song uns die innere Zerrissenheit einer eigentlich sehr starken Nora erfahrbar zu machen. Nora ist eine Figur, die weiß, was sie will, die zielstrebig ihren Weg geht, aber die sich dennoch fragt, was sie dabei aufgegeben hat. Past Lives spricht vielleicht besonders die an, die eine Biografie mit Brechungen haben. Aber haben wir die nicht alle?

Das Werk debütierte dieses Jahr auf dem Festival in Sundance und gehörte auf der Berlinale, wo der Film im Wettbewerb gezeigt worden ist, zu den Favoriten. Ganz sicher ist Songs Debüt ein Film, der mal an die Before-Trilogie von Richard Linklater, von der Stimmung her aber auch an In the Mood for Love von Wong Kar Wei erinnert, der bleiben wird.

Celine Song beweist ein Talent Unausgesprochenes fühlbar zu gestalten, was sie zu einer Entdeckung macht. Ihr Past Lives baut ein Geheimnis auf, weil jeder Mensch ein Geheimnis ist, vielleicht auch für sich selbst, und dieses Geheimnis nicht sofort auflöst und die Möglichkeit gibt, dieses immer wieder entschlüsseln zu wollen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Past Lives Regie: Celine Song Drehbuch: Celine Song Kamera: Shabier Kirchner Montage: Keith Fraase Musik: Chris Bear, Daniel Rossen Mit Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, Moon Seung-ah, Seung Min Yim, Ji Hye Yoon, Won Young Choi, Ahn Min-Young, Seo Yeon-Woo, Kiha Chang, Shin Hee-Chul, Jun Hyuk Park, Jack Alberts, Jane Kim, Noo Ri Song, Si Ah Jin, Yoon Seo Choi, Seung Un Hwang, Jojo T. Gibbs, Emily Cass McDonnell, Federico Rodriguez, Conrad Schott, Kristen Sieh USA 2022 105 Minuten Verleih: Studiocanal Kinostart: 17. August 2023 Festivals: Sundance 2023 / Berlinale 2023 TMDB

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