Filmbesprechung: Die unendliche Erinnerung

Augusto Góngora ist ein bekannter chilenischer Journalist. Seine Frau Paulina Urrutia ist Schauspielerin (z.B. in Fuga von Pablo Larraín) und war sogar ein paar Jahre lang im ersten Kabinett der Präsidentin Michelle Bachelet Ministerin für Kultur und Medien des Landes. Vor einigen Jahren wurde bei Góngora die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert, seitdem kümmert sie sich um ihn. Alzheimer ist nicht nur eine perfide und grausame Krankheit. Góngora kämpfte seit Jahrzehnten gegen das Vergessen der Untaten des Pinochet-Systems. Nun droht ihm seine Biografie zu entgleiten. Die Regisseurin Maite Alberdi vermittelt auch mit dem Material, das Urrutia von ihrem Mann aufgenommen hat, in einer Langzeitstudie die Stationen dieser Krankheit. Sie bringt uns den schwierigen Zusammenhalt eines Paares nahe, und sie zeigt uns, wie wichtig Erinnerungen im Privaten als auch in der Gesellschaft sind.

Für Góngora war Erinnerung alles, es war seine Lebensaufgabe. Sein Motto “Erinnerung ist Identität” bezog er auf die Erinnerung eines Landes. Er wirkte zum Beispiel bei dem Sammelband Chile, die verbotene Erinnerung mit. Nichts, was dieses mörderische Regime verbrochen hatte, sollte verdrängt und vergessen werden. Ein grausamer Scherz, dass er nun kaum noch weiß, wer die Frau ist, die ins Zimmer kommt, der sich vor dem Hochzeitsbild an der Wand fürchtet und nicht mehr weiß, wer er selbst ist. Die Diagnose, 2014 gestellt, hat die Beiden, die über 20 Jahre zusammen waren, sicherlich auch zusammengeschweißt. Bereits damals griff sie zur Kamera und man kann davon ausgehen, dass er damals auch seine Einwilligung gab. Sicherlich berühren einige Momente auch schamhaft, die kurze Lauflänge weist aber darauf hin, dass das Material, das über so lange Zeit entstanden ist, mit Bedacht ausgewählt wurde.

Viele Dokumentarfilme widmen sich Biografien oder behandeln das Schicksal von bekannten Persönlichkeiten. Die unendliche Erinnerung der Regisseurin Maite Alberdi vermittelt uns das Schicksal zweier Persönlichkeiten, die in ihrem Heimatland Chile sehr, bei uns vielleicht eher nicht so bekannt sind. Gleichzeitig behandelt es auch das Schicksal eines ganzen Landes und darüber hinaus berichtet es von den Tücken einer Krankheit. Es ist sicherlich nicht einfach, diese schweren Themen so zu verknüpfen, dass Würde, Liebe und auch die Erinnerung, auf die der Titel anspielt, zugänglich, wenn nicht gar mit Leichtigkeit verknüpft werden.

Alberdis letzter Film war eine deutsche Co-Produktion: Der Maulwurf – Ein Detektiv im Altersheim sollte eine Mischung aus Dokumentar- und Spionagefilm sein. Ein verdeckter Ermittler sollte von der Einsamkeit in einem chilenischen Altersheim berichten. Alberdis aktueller Film debütierte in Sundance am Anfang des Jahres 2023 und gewann in seiner Kategorie den Hauptpreis. Darauf folgte die Festivalvorstellung auf der Berlinale in der Sektion Panorama, später lief der Film unter anderem auf dem DOK.Fest München.

Es ist natürlich schwierig. Die Aufnahmen, die Paulina Urrutia von ihrem Mann macht und mit der sie gemeinsame Momente, sozusagen für die Erinnerung, einfängt, sind derart intim, dass man sich als Publikum stark berührt fühlt und vielleicht den Einblick als zu persönlich deutet. Überwiegt hier der Wille des Dokumentierens der Regisseurin oder der des Paares, das auch auf Grund der Pandemie, sich am Ende nur in seiner Zweisamkeit darstellen kann? Überwiegt das Festhalten des Gedächtnisses eines Einzelnen, das mehr und mehr verfällt, die Dringlichkeit, ein nationales Gedächtnis zu bewahren? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Der Film existiert und seine Hauptfigur, Augusto Góngora, ist im Mai diesen Jahres verstorben. Vielleicht ist Die unendliche Erinnerung auch einfach nur ein Film über die Liebe.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: La memoria infinita Regie & Konzept: Maite Alberdi Kamera: Pablo Valdés Montage: Carolina Siraqyan Musik: Miguel Miranda, José Miguel Tobar Mitwirkende: Paulina Urrutia, Augusto Góngora Chile 2023 85 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Piffl Medien TMDB

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