Interview mit dem Regisseur Veit Helmer

Aus dem Archiv von 2000

Anlässlich des Kinostarts von Gondola teile ich ein Interview mit dem Regisseur Veit Helmer zu seinem ersten Langspielfilm Tuvalu.

Ein Ort in einer anderen Welt. In einer verlassenen Stadt steht ein verfallenes Schwimmbad. Anton, der Bademeister und Martha, die Kassiererin, verwenden allerlei Tricks, um dem blinden Vater von Anton den Eindruck zu vermitteln, das Schwimmbad wäre voller tobender Kinder. Deren Lachen und Plantschen kommt vom Band. Doch es gibt noch mehr zu tun. Das Dach leckt, die Rohre schwitzen, die Kacheln fallen von den Wänden. Antons Bruder Gregor hat sich fest vorgenommen, der Stadt den Fortschritt zu bringen und das alte Schwimmbad abzureißen. Als sich Anton in die junge Eva verliebt, die regelmäßig das Schwimmbad besucht, da ist Gregors Ehrgeiz, gegen Anton zu intrigieren, noch größer. Bis sich Anton und Eva auf einem alten Schleppkahn Richtung Tuvalu aufmachen können, passiert so einiges.

Tuvalu ist ein Traum. Ein Märchen, das man sich gerne jeden Abend erzählen läßt. Veit Helmer hat sich allerhand einfallen lassen, um seinem ersten langen Spielfilm eine eindeutige Handschrift zu geben und den Zuschauer in eine andere Welt zu versetzen, die auch spannend bleibt, wenn die Handlung selbst nicht so kompliziert ist.

Helmer wurde 1968 in Hannover geboren. Bereits als 14jähriger drehte er mit einer Super-8-Kamera und nach der Schule arbeitete er sogleich als Regieassistent. Noch vor dem Mauerfall ging Helmer nach Ost-Berlin um dort mit einem DAAD-Stipendium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch zu studieren. Später besuchte er die Hochschule für Fernsehen und Film in München. Mit seinen Kurzfilmen besuchte er fast alle Festivals der Welt. Mit Veit Helmer sprach ich Ende April, kurz bevor er nach Ungarn auf ein Filmfestival reiste, von wo er erwartungsgemäß mit dem Hauptpreis abreisen konnte.

In den meisten Filmen ist sehr wenig Kino. Ich nenne das “fotografieren von redenden Leuten”. Wenn man im Kino eine Geschichte erzählt, sollte man nur Dialog verwenden, wenn es nicht anders geht. Man sollte dem Visuellen immer den Vorrang vor dem Dialog geben. – Alfred Hitchcock

Gerade hat man Dich nach Győr zum Mediawave Festival eingeladen. Was hältst Du von Filmfestivals?

Als ich das letzte Mal in Győr war, habe ich einen Ausstatter kennengelernt, den Cristi Niculescu. Der war auch der Ausstatter von Train de Vie. Damals suchte er deutsche Wehrmachts-LKWs. Ich recherchierte für ihn hier in Deutschland, und er hat im Gegenzug für mich rumänische Schwimmbäder abgeklappert. Ich habe dann letztendlich in Bulgarien gedreht, aber er hatte gute Arbeit geleistet. Er hat mir auch den Kontakt zu einem Casting-Direktor, Todor Giorgu, vermittelt. Durch Todor fand ich wiederum die Darstellerin für die Kassiererin in Tuvalu, Cătălina Murgea. So kommen Sachen zustande, man schließt Freundschaften. Ich freue mich auf Festivals, weil es da noch Möglichkeiten gibt, Leute kennenzulernen.

Im Presseheft zu Tuvalu zitierst Du Truffaut, Rossellini und Hitchcock. Wer sind Deine Vorbilder?

Ich hätte auch Zitate von Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone nehmen können. Es ging mir um die Bedeutung der Zitate, die haben natürlich, da sie von Hitchcock und so stammen, einen größeren Wert. Es geht um das Visuelle. Ich möchte keine Diskussion darüber führen, warum der Film keine Dialoge hat. Das interessiert mich nicht. Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, und das besagen die Zitate. Wenn so bedeutende Filmschaffende so etwas sagen, braucht man vielleicht gar nicht mehr groß darüber debattieren.

Filme sollten gedreht werden, um zu zeigen, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die unsere Freunde sein könnten, mit denen wir uns wunderbar verstehen könnten. – Roberto Rossellini

Das, was Rossellini gesagt hat, geht noch auf eine ganz andere Sache zurück. Es ist der Aspekt, daß ich mit Menschen aus vielen verschiedenen Ländern zusammengearbeitet habe. Der Film kann, um es mal in nostalgisch real-sozialistischen Worten auszudrücken, der Völkerverständigung dienen. Eigentlich etwas Wunderschönes. Wir haben in Sofia gedreht und die Crew kam aus Amerika, aus Russland, aus Deutschland und aus Bulgarien. Drei Monate waren wir auf engstem Raum in einem kleinen Schwimmbad tätig und haben uns wunderbar verstanden.

Du bezeichnest Osteuropa als eine große Chance für den deutschen Film. Ist das nicht ein bißchen idealistisch gedacht?

Das ist überhaupt nicht idealistisch, das ist rein praktisch ausgedrückt. Lass es mich so sagen: der deutsche Film hat auf dem Weltmarkt ein recht schlechtes Ansehen. Man kennt noch Rainer Maria Fassbinder, Werner Herzog, Wim Wenders oder Volker Schlöndorff. Tom Tykwer hat jetzt etwas bewegt, und vielleicht wird der Ruf des deutschen Filmes jetzt wieder besser, aber der französische Verleiher von Tuvalu wird meinen Film als bulgarischen Film herausbringen. Ein bulgarischer Film wird in Frankreich besser angesehen als ein deutscher. Zum Teil hat der Weltmarkt auch recht. In Deutschland ist so viel Schlechtes entstanden, Filme, die kein Mensch im Ausland sehen möchte. Dem gegenüber hat in Osteuropa eine Umwälzung stattgefunden, die interessante Geschichten ermöglicht. Das wäre wesentlich interessanter, als Filme über irgendwelche Wohngemeinschaften, Designerliebhabereien und ähnliche Marotten. Mich interessiert es im Moment, mit Autoren aus Osteuropa zusammenzuarbeiten. Dort spricht man noch über die Dinge, die das Leben stärker tangieren.

Was bedeutete Dein Film für die bulgarische Filmwirtschaft?

Na ja, so zynisch das klingen mag, mein Film gab dort 50 Leuten Lohn und Brot. Das bedeutete für Menschen, daß sie erst mal zu essen hatten. Es ist zum Teil traurig, daß, wenn man Komparsen sucht, die ganze Straße voll mit Leuten ist. Sogar Schauspieler und Regieassistenten bewerben sich für einen Job als Komparse. Zur gleichen Zeit hat Régis Wargnier in Bulgarien Teile von Est-Ouest gedreht, aber im Unterschied zu ihm habe ich den Bulgaren auch zugetraut, Hauptrollen zu spielen. Ich habe den Leuten vor Ort die Kameraführung, die Kostümgestaltung und die gesamte Tongestaltung anvertraut. Ich habe keine Assistenten gesucht und deren Position dann mit den Chefs besetzt. Nein, statt dessen habe ich kein Team von hier mitgenommen, sondern habe mit Leuten von dort gearbeitet. Bevor ich den Film gedreht habe, habe ich dort gelebt und die Leute kennengelernt. Ich habe mir ihre Filme angeschaut. Ich habe Kameraleute nach Deutschland eingeladen und mit ihnen hier Werbeclips gedreht. So habe ich mir ein Team zusammengesucht, mit dem ich menschlich gut klarkomme. Eine Grundvoraussetzung allerdings war, und viele Bulgaren konnten dem nicht genügen, daß meine Mitarbeiter Sprachen konnten. Man hatte mich gewarnt. Ich würde betrogen und beklaut werden, und die Leute wären faul. Ich wurde nicht betrogen, ich wurde nicht belogen, ich wurde nicht beklaut, die Leute haben sehr hart gearbeitet und die Mafia hat sich bei mir auch nie vorgestellt. Im Rückblick habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Und, daß manchmal die Dinge nicht so laufen, weil man dort den Dingen gegenüber eine andere Haltung hat, das ist klar. Darauf muß man sich einstellen. Das sind aber auch Dinge, die dem Film zugute kommen. Zum Beispiel ist eine bestimmte Technik nicht vorhanden. Also muß man sich mit Dingen behelfen, die vor Ort vorhanden waren.

Ich kenne noch Deinen Kurzfilm Surprise!. Du hast einen sehr eigenen Humor, die Handlung hat etwas Slapstickhaftes.

Eigentlich habe ich auf Deine Frage nach den Vorbildern nicht geantwortet. Ich meine, seitdem ich sechs Jahre alt war, gehe ich leidenschaftlich gerne ins Kino. In den 70er Jahren wurden die ganzen Charlie Chaplin-Filme restauriert ins Kino gebracht. Ich habe sie mir damals alle angeguckt. Ich sehe sehr gerne die Filme von Alfred Hitchcock und von François Truffaut. Ich schaue mir auch gerne Filme aus Osteuropa an. Momentan sind es die Filme von Emir Kustorica, die für mich Kino spannend machen, und nicht die Filme aus Amerika. Luna Papa, der demnächst bei uns ins Kino kommt, halte ich für absolut sehenswert. Ein Film wie dieser bereichert mich auch als Menschen. Aber als ich Tuvalu gemacht habe, gab es für mich kein direktes Vorbild. Ich hatte eine Idee für eine Geschichte, und ich wußte schon sehr früh, daß diese Geschichte eine besondere Form benötigen würde. Ich wollte eine visuelle Form, in der kein Dialog zum Transport der Handlung beitragen sollte. Dialog sollte eher eine lautmalerische Funktion innehaben. Ich wollte mit dieser Form vielleicht Erinnerungen an das bisherige Kino wachrufen, aber das Kino an sich noch ein Stückchen nach vorne bringen. Ich möchte mich eher als Visionär bezeichnen, als einer, der zurückblickt.

Erzähle mir von der Arbeit am Drehbuch!

Die Idee zu dem Film hatte ich schon vor 12 Jahren. Dann habe ich erst einmal meine Kurzfilme gemacht. Vor fünf Jahren lernte ich die Autorin Michaela Beck kennen und ihr stellte ich verschiedene Ideen vor. Sie war von der Geschichte mit dem Schwimmbad am meisten begeistert. Damals war die Story noch anders. Erst in der Zusammenarbeit mit Michaela Beck entstand das eigentliche Drehbuch zu Tuvalu. Sehr früh entstand auch ein Storyboard. Der Film wurde komplett gezeichnet, noch vor dem ersten Drehtag wurden 1200 Bilder angefertigt. Jetzt sind aber Dreharbeiten immer mit Tücken verbunden. Permanent muß man umdenken, weil Dinge nicht so sind, wie man sie haben wollte. Vögel fliegen nicht so wie sie sollen. Die alte Frau im Becken konnte nicht schwimmen. Der Polizist konnte nicht Radfahren und der Chauffeur konnte nicht Auto fahren. Im technischen Bereich wäre ein Beispiel, daß es für die Unterwasseraufnahmen in Bulgarien keine Cinemascope-Optiken gab. Daraus entwickelt man eine Lösung, die vielleicht viel schöner ist, als das, was man sich im vorhinein überlegt hatte. Eins darf ich nicht vergessen: der Einfluß der Schauspieler ist ungemein wichtig. Ich hatte eine Vorstellung von den Figuren, aber die waren sehr zweidimensional. Erst die Schauspieler bringen eine Lebendigkeit hinein. Mit den Darstellern hatte ich großes Glück. Ich habe in 14 Städten gecastet, habe über 1200 Schauspieler gesehen. Da stehen ganze Aktenordner mit Photos im Regal.

Mit Deinen Kurzfilmen hattest Du eine große Resonanz, aber im Grunde genommen bist Du ein Debütfilmer. Du kommst aus Deutschland, hast nicht viel Geld. Wie hast Du das alles auf die Beine stellen können?

Also, der Schlüssel zum Erfolg ist sicherlich, daß man besessen ist. Es ist ganz wichtig, daß man an etwas glaubt und sich selbst nicht davon abbringen läßt, daß das, was man macht, gut ist. Wenn man anfängt zu zweifeln, wird man nicht mehr nach außen hin transportieren können, daß es Sinn macht, dafür tätig zu sein. Man muß die Leute begeistern und sie motivieren, für einen zu arbeiten. Ich mache ja keine Animationsfilme, wo ich allein in meiner Kammer zeichne. An diesem Film haben über 100 Leute in den verschiedensten Funktionen mitgewirkt.

Aus vielen Ländern.

Das war ein absolute Pluspunkt. Jemand wie Denis Lavant sucht das Ungewöhnliche und Schwierige. Ich denke, daß es Leute gab, die nicht an dem Film mitarbeiten wollten, denen das Projekt zu riskant erschien, auch künstlerisch. Es gab Schauspieler-Agenturen, die nicht mit mir zusammenarbeiten wollten, weil sie meinten, ich würde die Schauspieler zu lange vom Markt nehmen. Die Dreharbeiten dauerten ja doppelt so lange, wie andere Filme. Deutsche Schauspieler können in der Zeit drei Fernsehfilme abdrehen.

Es kommen natürlich ein paar Flugtickets zusammen, wenn man durch 14 Länder reist, aber wenn ich in Deutschland einen Casting-Direktor beauftragt hätte, wäre mir das teurer gekommen. So habe ich meine Videokamera genommen und in den Goethe-Instituten Schauspieler aufgenommen. Wenn mich zum Beispiel ein Goethe-Institut eingeladen hat, meine Kurzfilme zu zeigen, dann konnte ich nachmittags die Zeit nutzen und Schauspieler treffen. Mit Surprise! bin ich auf 130 Festivals gewesen. Da kann man ab und zu für seinen nächsten Film Kontakte klar machen. Während ich jetzt mit Tuvalu unterwegs bin, habe ich auch schon mein nächstes Drehbuch im Reisegepäck.

Hattest Du mit der Entscheidung, in Bulgarien zu drehen, auch schon beschlossen, auf moderne Technik zu verzichten?

Der Film erzählt ja von dem Verschwinden des Alten. Eigentlich ist es fast schon ein Pamphlet für das Analoge, für das Aussterbende. Es bringt den alten Dingen eine große Liebe entgegen. Die Moderne wird mehr in ein lächerliches Licht geworfen. Mich interessiert dieses unmenschliche Digitale nicht. Eine digitale Information ist immer Null oder Eins. Das Analoge ermöglicht Zwischentöne. Ich ziehe einen handgeschriebenen Brief einer E-mail vor, ich freue mich über jede alte Vinylschallplatte und ärgere mich über den Klang von Compact Discs.

Welche Schwierigkeiten hattest Du dann vor Ort, und welche Chancen ergaben sich durch die alte Technik?

Wir benutzten Arg-Scheinwerfer, die machen wunderschönes Licht und sind viel weicher als die modernen Kompakt-Brut-Scheinwerfer. Die muß man noch mit Kohle laden und dafür braucht es zwei Beleuchter. Alle 20 Minuten muß man sie ausstellen und dann wieder neu feuern. Solche Scheinwerfer wurden in Hollywood in den 30er Jahren benutzt und seitdem auch dort nicht mehr, weil es sehr arbeitsintensiv ist, aber das Licht ist seit Sternberg nie mehr so schön gewesen. Mein Film hält den Vergleich nicht stand, aber mit Arg-Scheinwerfern kann man tatsächlich wieder das Licht erreichen, das alle seit 50 Jahren wieder hinzukriegen versuchen.

Du hast zudem mit Schwarzweißmaterial gearbeitet.

Kodak und Illford sind die einzigen Hersteller, die das noch haben. Es ist nicht so kompliziert, das zu bestellen. Und in Osteuropa gibt es eine bessere Infrastruktur, was die Kopierwerksarbeiten betrifft, als in Deutschland. Hier gilt das als Rarität und es wird ein Aufpreis bei der Entwicklung verlangt. Ich kam in der Hinsicht also günstiger weg.

Hinterher hast Du den Film eingefärbt. Wodurch hast Du dich dabei leiten lassen?

Wie so vieles, entstand das nicht einem kreativen Mastermind, sondern es waren Zwänge und Notwendigkeiten, die mich darauf gebracht haben. Ich wollte mit Chulpan Сhamatova drehen, die ich in Moskau entdeckt hatte. 1998 lief ein Film mit ihr, Strana Gluchich (Das Land der Gehörlosen) von Waleri Todorowski, auf der Berlinale, und über Nacht wurde sie zum Star. Damals wurde sie auch von Bachtijor Chudoinasarow für Luna Papa verpflichtet und so konnte ich nur drei Monate im Sommer mit ihr arbeiten. Der Sommer war aber für das Konzept des Filmes äußerst abträglich. Ich suchte doch eine kalte graue Stimmung. Ich wollte diese Tristesse im Kontrast zu dem warmen Schwimmbad setzen. Nach einigen Tests meines Kameramannes haben wir uns für Schwarzweiß entschieden, doch wir wollten keinen retro-nostalgischen Film machen noch dazu ohne Dialoge und dann auch noch in Schwarzweiß. Das wäre der Idee des Visionären total schädlich gewesen. Darum haben wir das Schwarzweiß-Negativ auf Farb-Positiv umkopiert. Auf einmal hat man dann die totale Freiheit, wie ein Maler kann man mit allen Farbtönen auf der Palette spielen. Ehrlich gesagt, habe ich erst nach dem Dreh, sogar nach dem Schnitt entschieden, welche Szene welchen Ton bekommen sollte. Ich habe hier ein kleines Arbeitszimmer mit einer kleinen Videoschnittanlage, im Kopierwerk wäre das teuer gewesen, und da habe ich Szene für Szene verschiedenfarbig eingefärbt. Ich kam dann auf die Idee, daß ich den Räumen Farben zuordne. Draußen sollte es eine kühl gräulich-bläuliche Tönung geben, der Keller sollte rötlich sein, dem bösen Bruder ordnete ich eine grünliche Farbe zu und so weiter. Eine Menge Arbeit, und dann mußte das auf Film nachvollzogen werden. Da haben wir hier in Berlin bei Geyer mehrere Wochen gesessen, bis auf der Leinwand das zu sehen war, was ich mir im Kopf ausgedacht hatte.

Zuerst merkt man es nicht, doch dann setzt sich dieses monotone Pochen im Hinterkopf fest. Der Klang der Imperial-Maschine, das Herzstück des Schwimmbades und des Filmes.

Die Maschine ist fast schon ein Hauptdarsteller des Filmes. Sie ist die Seele des Schwimmbades, und am Ende wird sie auch mitgenommen. Das hat eine fast schon religiöse Bedeutung. Der Körper des Schwimmbades stirbt, aber die Seele lebt auf dem Boot von Eva weiter. Diese Maschine wurde mit viel Liebe gestaltet und sie hat sich beim Dreh wunderschön bewegt, aber sie hatte einen Elektromotor. Ihr Klang wurde tatsächlich erst in der Postproduktion von einem Sounddesigner kreiert. Da haben wir dann mit Computern arbeiten müssen. Es war ein ungeheurer Aufwand, über 100 Minuten eine komplexe Tonebene zu gestalten, die einen vergessen macht, daß nicht geredet wird. Wir hatten unzählige Tonspuren mit Musik, Geräuschen, Atmosphären, Sprache, Sprachsynchro, Töne vom Drehort. Der Ton hat länger gedauert als die Dreharbeiten.

Eine Frage zu Eva. Die Geschichte ist ja nicht höllisch kompliziert. Da gibt es den guten und den bösen Bruder. Dann ist da Eva, und ich fragte mich, warum sie jetzt so gemein ist, und dem guten Bruder das für ihn Allerwichtigste zu stehlen und dabei hat sie noch nicht einmal Gewissensbisse.

Muß ich jetzt etwas dazu sagen? Ich finde, das macht die Schönheit der Figur aus. Chulpan hat etwas, was viele mit Audrey Hepburn vergleichen. Schau Dir Wie klaut man eine Million von William Wyler an. Chulpan ist immer dann am Verführerischsten, wenn sie zu lügen und betrügen anfängt.

Hast Du ihr die Rolle auf den Leib geschrieben?

Die Rolle stand bereits im Buch, aber erst beim Drehen setzt man Akzente. Da wird aus einer kurzen Nebenhandlung etwas Größeres, wenn man sieht, mit welcher Lust sie ins Schwimmbad einsteigt und den Kolben klaut. Chulpan entwickelt eine wahnsinnige Aura, wenn die Kamera sich auf sie richtet, sie versetzt den ganzen Raum unter Elektrizität, nimmt alle Umstehenden in ihren Bann. Das kann man als Regisseur später am Schneidetisch entdecken und es verwenden. Ich habe sehr früh gemerkt, daß Chulpan für diese Rolle fantastisch geeignet ist, darum habe ich auch sehr viel um sie gekämpft. Sie hatte viele Angebote, für meinen Film hat sie eine Theaterrolle bei Peter Stein ausgeschlagen, obwohl sie eine absolute Theaterfanatikerin ist. Ich hatte andere Schauspielerinnen gecastet, in Amerika und in Frankreich, und trotzdem denke ich, daß ich mit ihr einen absoluten Glücksgriff gemacht habe.

Dein nächstes Projekt hast Du mit Emir Kustoricas Drehbuchautoren Gordan Mihić erarbeitet. Erzähl mal was davon!

Gordan Mihić habe ich vor fünf Jahren getroffen. Ich war nach Belgrad geflogen, um Kurzfilme zu zeigen. Damals hatte ich ihn angerufen und ihm ein Projekt vorgeschlagen. Er hat sich dann meine Kurzfilme angeschaut und war eigentlich sehr angetan, wollte aber erst einmal eine längere Zeit mit mir verbringen, um meine künstlerischen Intentionen kennenzulernen. Wir waren dann beide zufälligerweise im gleichen Jahr in Cannes. Er mit Someone Else's America von Goran Paskaljević und ich mit Surprise!. Wir haben beide damals den Publikumspreis bekommen. Das haben wir damals als glückliches Zeichen gedeutet und wir haben uns dann eine Woche lang zusammengetan und an Geschichten gearbeitet. Es war ganz schnell klar, daß wir einen Film machen wollten, der an einem Flughafen spielt. Wir gehen in den Untergrund des Flughafens, dort wo die Maschinen stehen, wo die Arbeiter, Gepäckträger und Putzfrauen arbeiten. Wo sich Menschen aus Indien, Russland und Afrika treffen und versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Wir zeigen den Flughafen, so wie ihn Passagiere nicht kennen. Fließbänder und Rohre. Grundsätzlich mag ich es, an einem Ort zu drehen, diesen Ort dann, wie dieses Schwimmbad in Tuvalu, von allen möglichen Seiten zu beleuchten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Eneh

Tuvalu Deutschland 1999 Regie & Produktion: Veit Helmer Drehbuch: Veit Helmer & Michaela Beck Kamera: Emil Christov Produktionsdesign: Alexander Manasse Ausstattung: Prolet Georgieva Kostüme: Boriana Mintcheva Schnitt: Araksi Muhibian Ton: Svetlozar Georgiev Tondesign: Jörg Theil Musik: Jürgen Knieper Mit Denis Lavant, Chulpan Сhamatova, Philippe Clay, Terrence Gillespie, E.J. Callahan, Djoko Rossich, Cătălina Murgea, Todor Georgiev. 92 Minuten Verleih: Buena Vista International

Das Interview wurde von Elisabeth Nagy am 26. April 2000 in Berlin geführt.

Aus dem Archiv: Das Gespräch wurde 2000 unter anderem im [030] Magazin (in gekürzter Form) und im Fanzine May Way, Ausgabe #49, publiziert. Online sind die Artikel nicht verfügbar. Der Text wurde bis auf Verlinkungen nicht verändert und ist darum auch nicht gegendert.

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