Cineneh

Filmjahr2023

Joyland erzählt von einer pakistanischen Großfamilie. Da gibt es den alten Patriarchen, der allerdings im Rollstuhl sitzt und auf Hilfe angewiesen ist. Dieser hat zwei Söhne. Der eine, Kaleem (Sohail Sameer), wird, als die Handlung einsetzt, zum vierten Mal Vater. Seine Frau Nucchi (Sarwat Gilani) bringt ein Mädchen zur Welt. Schon wieder ein Mädchen. Dabei braucht es doch einen männlichen Erben. Der jüngere Sohn, Haider (Ali Junejo), ist zwar mit Mumtaz (Rasti Farooq) verheiratet, aber er hat noch keine Kinder. Haider steht als Identifikationsfigur im Mittelpunkt der Handlung. Denn er ist verheiratet und doch verliebt er sich in eine andere. Als sich seine gesellschaftliche Rolle ändert, ändert sich ein ganzes Gefüge.

Der pakistanische Regisseur Saim Sadiq hat in seinem Langspielfilmdebüt, welches im letzten Jahr in Cannes Weltpremiere hatte, ein ganzes Ensemble vielschichtiger Figuren zusammengebracht. Indem er die Beziehung zwischen den Einzelnen aufschlüsselt und ihre Interaktionen behandelt, gibt er Einblick, wie groß die Bürde des Patriarchats auf den Akteuren lastet. Die tradierten Werte, die überkommenen Strukturen, machen hier allen zu schaffen. Sadiq zeichnet die Charaktere so authentisch und unmittelbar, dass selbst wenn uns in Mitteleuropa der Alltag in Lahore, wo der Film spielt, fremd ist, wir instinktiv die Nöte der Familienmitglieder begreifen, wir mit ihnen mitfühlen und von ihnen berührt werden.

Haider gilt sowohl in seiner Familie als auch in der Gemeinschaft als verweichlichter Mann. Er ist seit langem arbeitslos, während seine Frau erfolgreich als Make-Up-Artist den Unterhalt verdient. Haushaltspflichten liegen Mumtaz nicht, ihre Arbeit gibt ihr bisher Freiheiten. Doch Haider wird gedrängt, endlich einen Job anzunehmen. Als er tatsächlich Arbeit findet, spricht der Patriarch der Famile, Vater Aman (Salmaan Peerzada), ein Machtwort. Haider, der bis dahin den Haushalt geführt und sich um die Nichten und den Vater gekümmert hatte, gehe nun arbeiten. Mumtaz solle darum fortan im Haushalt ihre Erfüllung finden. Was keiner in der Familie weiß, ist, welche Art Arbeit Haider gefunden hat. Es ist jetzt kein Spoiler zu verraten, dass er in einem queeren Tanzclub im Background tanzen wird. Die Transfrau Biba (Alina Khan), in deren Ensemble er tanzen soll, unterstützt ihn, soweit ihr das möglich ist. Haider fühlt sich zu ihr, und das ist für ihn ein moralisches Dilemma, hingezogen.

Das Drehbuch von Sadig und Maggie Briggs gibt den Figuren einen kurzen Blick auf die Freiheiten, nach denen sich jede und jeder sehnt, und zeigt dann doch auf, wie sehr diese außer Reichweite liegen. Joyland ist somit eine kritische Parabel auf die Gesellschaft Pakistans. Darüber hinaus brennen sich, vor allem durch die wunderbare Kameraführung von Joe Saade und der Montage von Sadiq und Jasmin Tenucci, zahlreiche kleine Szenen in die Erinnerung ein. Der Film wirkt nach.

In Cannes wurde Joyland hoch gelobt. Das Debüt gewann in der Sektion Un certain regard den Jurypreis und darüber hinaus die Queer Palm. Nach der Premiere wanderte der Film von Festival zu Festival. Das US-Branchenmagazin Variety erkor seinen jungen Regisseur, Saim Sadiq, der sein Filmstudium an der Columbia University, NYC, abgeschlossen hat, zu einem der “10 Directors to Watch” für 2023. Pakistan wählte Joyland, nachdem man den Film zuerst als Angriff auf nationale Werte verboten hatte, sogar als seinen Beitrag für den internationalen Oscar, wo er es bis auf die Shortlist schaffte. In der pakistanischen Provinz Punjab, dessen historische Hauptstadt Lahore ist, darf der Film allerdings weiterhin nicht gezeigt werden.

Für Sadiq spricht, dass er es bereits in den ersten Szenen schafft, das Publikum in ein kompliziertes Familiengefüge hineinzuversetzen. Er wertet seine Figuren nicht, er überlässt es den Zuschauenden, die Fallstricke zu erkennen. Er arbeitet subtil die Restriktionen der pakistanischen Gesellschaft heraus und die ablehnende Rezeption seines Heimatlandes zeigt nur, wie sehr diese nottut. Man erkennt tatsächlich, welche Werte die Figuren einengen, welche Freiheiten sie sich erkämpfen müssen und wie schwer das mitunter ist.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Joyland Regie: Saim Sadiq Drehbuch: Saim Sadiq, Maggie Briggs Kamera: Joe Saade Schnitt: Jasmin Tenucci, Saim Sadiq Musik: Abdullah Siddiqui Mit Ali Junejo, Rasti Farooq, Sarwat Gilani, Alina Khan, Sohail Sameer, Salmaan Peerzada, Sania Saeed Pakistan / USA 2022 127 Minuten Verleih: Filmperlen Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Cannes 2022, Zürich 2022, Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Filmperlen #Spielfilm #Cannes2022 #Sundance2023

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Die Zeitspanne zwischen realen Ereignissen und ihrer fiktionalen Verfilmung wird gefühlt immer kürzer. Ein gewisser Abstand ermöglicht Reflektion. Die Nachrichten über den Hype rund um die GameStop-Aktien überschlugen sich 2021 und haben sich kaum gelegt, da bringt der australische Regisseur Craig Gillespie (I, Tonya) eine biographisch-historische Aufarbeitung ins Kino. Vorlage war ein Sachbuch mit dem griffigen Titel The Antisocial Network: The GameStop Short Squeeze and the Ragtag Group of Amateur Traders That Brought Wall Street to Its Knees von Ben Mezrich.

Mezrich hatte übrigens auch ein Sachbuch über Facebook verfasst, das ebenfalls verfilmt worden ist. David Fincher machte daraus The Social Network. Zurück zu Gillespie, der hatte einen der jungen Kleinanleger, die von Finanzhaien ob ihrer vermeintlichen Naivität schlicht als “Dumb Money” bezeichnet wurden, sprich einen Sohn, während der Pandemie-Zeit im Haus und kriegte die Entwicklung hautnah und in Echtzeit mit.

Muss man denn über die Finanzwelt Bescheid wissen? All die Fachbegriffe wie Leerverkäufe kennen? Nein. Dumb Money erklärt, was man braucht, und ist dabei auch nicht ganz so stilistisch überbordend wie dem sehr ähnlichen The Big Short (Regie Adam McKay, 2015), der die Gier der US-Finanzwelt exaltierter vorführte, damit noch pointierter den Finger in die Wunde legte, aber keine Identifikationsfigur hatte.

Gillespie und die Drehbuchautorinnen Lauren Schuker Blum und Rebecca Angelo machen keinen Hehl daraus, welcher Seite der Geschichte sie die Daumen drücken. Ja, Dumb Money ist eine David gegen Goliath-Story. Während die reichen Finanzjongleure mit gerade noch legalen Tricks noch reicher werden, aus Geld Geld machen, gehen alle anderen finanziell baden. Gerade die Covid-Pandemie zeigte eindrücklich, wer an Krisen gewinnt und wer nicht. Dumb Money ist somit nicht nur ein Film über das Gebaren an der Börse, sondern ein erstaunlich präzises Bild über die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen bzw. das Fehlen der Auswirkungen in den zwei diametral entgegengesetzten Akteursgruppen.

Im Mittelpunkt steht Keith Gill, wunderbar gespielt von Paul Dano, der im Keller seines Hauses als Finanz-Influencer sich für die Aktien von GameStop begeistert. Dabei ist die Ladenkette für Computerspiele ziemlich am Ende. So auf dem letzten Meter wollen die großen Akteure, zum Beispiel gespielt von Seth Rogen und Nick Offerman, mit deren Pleite Geld machen. Ihnen kommt gar nicht zupass, dass der Wert der Aktien plötzlich steigt, weil irgendein Nerd mit Stirnband und Katzen-T-Shirt sein Erspartes da reinsteckt und dafür überzeugend brennt. Und der Aktienwert steigt und steigt. Was wie ein kurzfristiger Trend wirkt, wie ein Spiel, wird richtig ernst, als all die kleinen Anleger, die über eine Schnittstelle wie der Robinhood-App, die einen leichten und kostengünstigen Zugang gewährte, und einer Plattform wie Reddit, wo diese sich vernetzen konnten, erkennen, welche Macht sie im Verbund haben. Sie können die mit dem großen Geld mal so richtig bluten lassen.

Dumb Money stellt uns ein paar dieser Kleinanleger exemplarisch vor. Studentinnen, die ihre Studiengebühren bezahlen müssen, eine Krankenpflegerin, die in Pandemie-Zeiten ihr Letztes gibt und ob ihrer horrenden Schulden sich nicht einmal eine Verschnaufpause leisten kann. Kleine Leute, für die jeder noch so kleine Gewinn viel bedeutet und die ihre Aktien trotzdem hielten. Gillespie weiß auch die Lockdown-Zeit visuell und emotional einzufangen. Das war eine Zeit, in der Bewegung höchstens auf Computerbildschirmen stattfand. Eine Zeit, in der erwachsene Kinder in ihre Elternhäuser zurückkehren mussten, weil sie ihre Jobs verloren haben. Eine Zeit, in der die Diskrepanz zwischen der Enge eines Kellers und Gärten mit Swimming-Pools die Ungerechtigkeiten noch deutlicher sichtbar machte.

Jetzt wäre die Geschichte, die sich erst 2021 zugetragen hat, fast nur noch eine Fußnote. Dumb Money überdramatisiert die Ereignisse nicht und bleibt wohl ziemlich nahe dran an den wahren Abläufen. Der Film, der zum Großteil von einem hervorragenden Darstellenden-Ensemble lebt, nimmt die Wendungen mit auf. Mit fiesen Moves wollte man die Kraft der Kleinanleger brechen. Gillespie lässt den durchaus auch humorigen Film zum emotionalen Drama werden, bei dem das Publikum sicherlich zwischen Genugtuung und Frustration, Schadenfreude und Wut hin und her schwanken wird.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Dumb Money Regie: Craig Gillespie Drehbuch: Lauren Schuker Blum, Rebecca Angelo Kamera: Nikolas Karakatsanis Schnitt: Kirk Baxter Musik: Will Bates Mit Paul Dano, Pete Davidson, Vincent D'Onofrio, America Ferrera, Myha'la Herrold, Nick Offerman, Anthony Ramos, Seth Rogen, Talia Ryder, Sebastian Stan, Shailene Woodley, Kate Burton, Clancy Brown, Rushi Kota, Larry Owens, Dane DeHaan, Olivia Thirlby, Andrea Simons USA 2023 104 Minuten Verleih: Leonine Kinostart: 2. November 2023 Festivals: Toronto 2023 / San Sebastián 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Leonine

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Eine kleine Terrier-Hündin unternahm einmal eine Reise in die Arktis. Das ist sicherlich nur eine Fußnote in der Enzyklopädie der Entdeckungsreisen. Die Geschichte, die die Drehbuchautoren Kajsa Næss und Per Schreiner erzählen, hat sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen. Titina war eine streunende Hündin in den Gassen der italienischen Hauptstadt, als sie dem Ingenieur Umberto Nobile zulief, der sie bei sich aufnahm. Nobile baute “fliegende Schiffe”. Es war der norwegische Polarforscher Roald Amundsen, der, nachdem er schon den Südpol mit seiner Mannschaft als Erster erreicht hatte, sich dem Nordpol aus der Luft nähern wollte. Für eine Expedition per Luftschiff fragte er Nobile an, der eines seiner Flugobjekte umbaute, so dass dieses 1926 unter dem Namen “Norge” zum Nordpol aufbrach. Nobile war sicherlich nur der Kapitän und Ingenieur, der zusammen mit Amundsen auch noch diesen Flecken Erde erkunden wollte, aber seine Leistung war schließlich keine, die man so beiseiteschieben sollte.

Es war eine Zeit der Entdeckungen und es war eine Zeit der Wettläufe. Wer als Erster etwas entdeckt und vollbringt, dem fliegen Anerkennung und Ruhm zu. Um es kurz zu machen, Nobile und Amundsen stritten sich um den Ruhm. Den Namen Amundsen kennt vielleicht heute auch nicht mehr jedes Kind, aber von Umberto Nobile haben noch viel weniger Leute gehört. Dabei sind beide Namen eng verknüpft. Die norwegische Regisseurin Kajsa Næss erzählt in ihrem Animationsfilm, übrigens nach sehr erfolgreichen Kurzfilmen ihr Langspielfilmdebüt, von der Reise, die diese beiden Forscher gemeinsam unternommen haben und von der Konkurrenz zwischen den beiden. Immer wieder baut Næss Archivaufnahmen von Amundsen, Nobile und auch seinem Hund mit ein, so dass das Publikum die doch so einfach wirkende Geschichte einordnen kann. Denn die Erzählperspektive ist die der kleinen Hündin. Titina kümmert sich nicht um Ruhm und ihr ist sicherlich auch egal, ob sie sich auf einem Luftschiff über der Arktis oder in den italienischen Gassen befindet. Sie ist eine unparteiische Beobachterin.

Die Animation ist klar und flächig, aber sehr detailreich. Kajsa Næss fängt sowohl die italienischen Städte, die norwegischen Häfen und die arktische Landschaft wunderbar ein. Ihr Film lief zum Beispiel auf dem tschechischen Filmfest Zlín, das sich dem Kinder- und Jugendfilm verschrieben hat und wo die Kinderjury “Titina” in ihrer Kategorie ausgezeichnet hat. Auch das sächsische Kinderfilmfest Schlingel in Chemnitz hatte den Film im Programm und das Internationale Trickfilmfestival Stuttgart führte “Titina” sogar im Hauptwettbewerb. Næss zeigt die Rivalitäten, aber zeigt die Hauptfiguren in all ihrer Komplexität, ihren unterschiedlichen Ambitionen und Intentionen. Bei ihr sind diese historischen Figuren keineswegs Helden, sondern widersprüchliche Menschen mit Fehlern und Kanten. Und gerade dadurch gibt sie ihnen etwas sehr Menschliches.

Der Animationsfilm “Titina” ist ein Abenteuerfilm für kleine und große Zuschauende. Es geht vordergründig um Entdeckerdrang und Konkurrenz. Dazu kommt noch eine Prise Nationalstolz für eine norwegische Leistung oder eben für eine italienische Leistung. Denn nicht nur bei Fußball-Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen gilt es als Nation über andere zu triumphieren. Dieser Aspekt wird durchaus mit eingebaut. Und so macht sich der im Streit unterlegene Nobile zu einer zweiten Expedition auf, um die Reise zu wiederholen.

Sein Flugschiff heißt nun “Italia”. Es ist keine Geschichte des Erfolges, es ist vielmehr eine behutsame Erzählung, was Eitelkeit und der Drang besser, schneller, Erster zu sein, mitunter kostet. Für einen Hund spielt all das keine Rolle. Und auch Amundsen wollte dem einstigen Freund in der Not beistehen. Wer die Geschichte nicht kennt, dem werde ich sie auch nicht verraten. So viel sei dennoch gesagt, “Titina” erzählt von einer Expedition, aber auch von einem Zusammenhalt, vom Bedauern und vom Verzeihen. Themen, die zumeist vernachlässigt werden.

Eneh

Spielfilm, Animationsfilm, Kinderfilm Originaltitel: Titina Regie: Kajsa Næss Drehbuch: Kajsa Næss, Per Schreiner Kamera: Cecilie Semec Schnitt: Anders Bergland, Jens Christian Fodstad, Zaklina Stojcevska Musik: Kåre Vestrheim Land Norwegen / Belgien 2022 Länge 92 Minuten Verleih: Grandfilm Kinostart: 2. November 2023 Festivals: Zlín 2023 / Schlingel 2023 / Trickfilmfest Stuttgart 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Animationsfilm #Kinderfilm #Grandfilm

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“Anselm – Das Rauschen der Zeit” heißt Wim Wenders' Hommage an den Universalkünstler und persönlichen Freund Anselm Kiefer. Wenders und Kiefer kennen einander seit gut 30 Jahren. Beide sind 1945 geboren und haben ähnliche Nachkriegserfahrungen machen können. Das Schweigen über die Vergangenheit war Kiefers Sache nie. Seine Kunst sollte der Gesellschaft durchaus auch einen Spiegel vorhalten. Wim Wenders führt sein Publikum allerdings nicht in eine Biographie ein, sondern ermöglicht ihm, zumal in 3D, so wie er es bereits bei seinem Film über die Tänzerin und Choreographin Pina Bausch gemacht hatte, das monumentale Werk des Künstlers sinnlich zu erfahren.

“Anselm” mag als Dokumentarfilm gehandelt werden, aber vielmehr ist es ein Essay, ein Experimentalfilm. Gleichzeitig ist es aber auch in Teilen ein Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Anselm Kiefers Themen des Verfalls und des Krieges, des Todes und der Zerstörung werden hier mit der gesichtslosen Figur der idealisierten Frau, herunter gebrochen auf ein Brautkleid, eingeführt. Es sind flüsternde Stimmen, die das Publikum sowohl verwirren als auch hypnotisieren. Erst dann geht es in einer der Fabrikhallen, die Kiefer gemietet hat, um sie als Atelier zu nutzen. Riesige Räume, die nur die Kamera aus der Höhe fassen kann, sonst hätte man das Gefühl, man gehe zwischen den wuchtigen Werken, die nicht nur aus Farbe, sondern aus organischen Materialien wie Sand und Stroh und Stoff bestehen, verloren.

Der Meister selbst radelt durch diese Hallen und radelt quasi auch durch das, was man eine biographische Einordnung nennen könnte. Doch Wenders fordert sein Publikum subtil. Er erklärt den Künstler nicht, er erklärt auch die Werke nicht. Er ermöglicht jedoch eine Interpretation. Man schaut Kiefer beim Denken zu und manchmal bedeutet das auch, dass man ihn auf einer Wiese mit einer Sonnenblume sieht. Wenders führt kein Interview. Kiefer erklärt sich auch nicht selbst. Um trotzdem auch auf die Vergangenheit zu kommen, springt sein Sohn Daniel Kiefer ein und spielt ihn als jungen Mann zu einer Zeit, als dieser sich durchaus skandalträchtig gegen das Vergessen stemmte. Wenders geht sogar noch einen Schritt zurück und lässt ein Kind (seinen Großneffen Anton Wenders) den nachdenklichen und staunenden Anselm der Nachkriegszeit spielen, als die Spuren des Krieges und seiner Verwüstung noch alles beherrschten.

Es ist nicht nur allein die 3D-Technik, die Kiefers Kunst auf eine Weise erfahrbar macht, sondern auch die Perspektive, die die Kamera von Wenders treuen Weggefährten an selbiger, Franz Lustig, und dem Stereografen Sebastian Cramer, einnimmt, wenn sich Bildelemente überlagern oder den Künstler winzig neben seine Bilder werden lässt. Darüber hinaus wendet Wim Wenders eine Tonspur mit Geräuschen, Flüstern, Originalstimmen mit Zitaten von Inspiratoren wie Paul Celan und Ingeborg Bachmann und einer suggestiven Musik an, die Kiefers Sinne für Mythos und Geschichte spiegeln.

“Anselm – Das Rauschen der Zeit” ist im Wesen eine poetische Annäherung an Anselm Kiefer. Eine Museumsausstellung könnte Anselm Kiefer nur in Teilen gerecht werden. Wim Wenders hat dafür die Leinwand und er weiß sie zu nutzen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Anselm – Das Rauschen der Zeit Regie: Wim Wenders Kamera: Franz Lustig Schnitt: Maxine Goedicke Musik: Leonard Küßner Mit Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders Deutschland 2023 93 Minuten Verleih: DCM Kinostart: 12. Oktober 2023 Festivals: Cannes 2023 / Hamburg 2023 / Zürich 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #DCM

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Luc Bessons neues Drama “DogMan”, das auch dem Genre Thriller zugeordnet werden kann, wird das Publikum spalten. Einige werden darin eine kalkulierte, oft alberne Comic-Schmonzette sehen, die an den nicht unähnlichen “Joker” (2019 mit Joaquin Phoenix) nicht ganz herankommt, andere werden über dramaturgische Schwächen hinwegsehen und zu Herzen gerührt sein.

Premiere feierte “DogMan” in Venedig, wo sogleich, und das soll nicht unter den Teppich gekehrt werden, kritisiert wurde, dass das Festival Besson, einer unter den problematischen Regie-Männern, eine Bühne geben würde. Darüber ging wohl verloren, dass die Teilnahme an einem der großen A-Festivals, für einen für Gewalt- und Action-Filmen bekannten Regisseur sehr wohl eine Überraschung war.

Seine frühen Regiearbeiten wie “Im Rausch der Tiefe” (1988), “Nikita” (1990) und “Léon – Der Profi” (1994) sind Klassiker geworden. Mit “Das fünfte Element” (1997) wechselte er erfolgreich ins Science-Fiction-Genre, um dann aber mit “Angel-A” zu enttäuschen. Jahrelang arbeitete Besson als Produzent, sein letzter, etwas überdimensionierter Film war wohl “Valerian – Die Stadt der tausend Planeten” (2017).

“DogMan”, der von einer engen Verbindung von Mann und Hund handelt, und der bitte nicht mit “Dogman” von Matteo Garrone von 2018 verwechselt werden sollte, knüpft in der Tat an die alte Handschrift von Besson an. Besson wirft hier alles in die Waagschale. Sein Film ist episch, tragisch, komisch und skurril. Er schreckt vor religiösem Pathos und zahlreichen Klischees nicht zurück. Und doch rührt seine Hauptfigur, die lautmalerisch Doug heißt, zu Herzen, während die unzähligen Hunde jede Szene für sich erobern. Kann man so treuherzigen Kampftieren böse sein?

Mit Doug, für dessen Rolle Besson den amerikanischen Schauspieler Caleb Landry Jones (“Three Billboards Outside Ebbing, Missouri”) gewinnen konnte, hat “DogMan” einen tragischen Antihelden, eine von der Gesellschaft ausgeschlossene Figur, die sich gar nicht darum bemüht, wieder ein Teil dessen zu werden. Doug ist von außen betrachtet ein Einzelgänger, aber er hat seine Familie. Seine Familie sind seine Hunde, die ihn bedingungslos lieben und unterstützen und für ihn neckische Raubzüge vollbringen. Neben der Hundeschar, für die es einen Stab an 15 Hundetrainer*Innen gab, braucht es Präsenz, um zu bestehen. Caleb Landry Jones' Spiel wird in Erinnerung bleiben, soviel steht fest.

Wie Doug zu seinen Hunden kam, und sie spirituell und emotionell als seine Retter annahm, erzählt Doug im Gespräch in seiner Gefängniszelle. Denn nachdem er bzw. seine Hunde eine ganze Gang an Latino-Schurken trickreich ausgelöscht haben, kann sein Weg nur noch in die eigene Auslöschung bzw. in eine spirituelle Erlösung führen. So wählt denn Besson dramaturgisch die Erzählung durch Rückblenden und verknüpft diese mit den Gewalterfahrungen, die sein Gegenüber, die Polizeipsychologin Evelyn (Jojo T. Gibbs), selbst gemacht hat. Die Welt nach Luc Besson ist eine gewalttätige. Die Hunde dagegen lieben einen Menschen bedingungslos und konsequent. Die Wahlfamilie ist hier die wahre Familie.

Subtil ist Luc Besson nicht. Mit breitem Pinselstrich malt er seine Figuren und setzt der Dramaturgie immer noch einen drauf, auch wenn das bedeutet, das Genre zu wechseln. Doch Besson schafft es, Mitgefühl zu wecken. Doug wählt die Distanz zu seinen Mitmenschen und auch zu seinem Publikum.

Geschunden und mit Behinderung lebt er seine Lebensfreude aus, indem er singt. Für kurze Zeit löst er sich von den physischen Fesseln seines Rollstuhles und performt französische Chansons in Gestalt einer Drag-Queen. Zu kritisieren gäbe es daran so einiges und doch schafft es Besson seiner Figur eine Seele einzuhauchen, die das Publikum erkennt, wenn es nicht sogar eine Träne vergießt. Hier besinnt sich Luc Besson an seine alten Filme und damit hebt er sich auch von den kalten Thrillern nach dem Millenium ab. Wie gesagt, nicht jedem wird “DogMan” gefallen, aber das Wagnis sollte man unbedingt eingehen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: DogMan Regie: Luc Besson Drehbuch: Luc Besson Kamera: Colin Wandersman Schnitt: Julien Rey Musik: Eric Serra Mit Caleb Landry Jones, Christopher Denham, Marisa Berenson, Michael Garza, Clemens Schick, Jojo T. Gibbs, Eric Carter, Avant Strangel, Grace Palma, James Payton, Derek Siow, John Charles Aguilar, Naima Hebrail Kidjo, Ambrit Millhouse, Lincoln Powell, Corinne Delacour, Aven Campau, William Sciortino, Luing Andrews Frankreich / USA 2023 114 Minuten Verleih: Capelight Pictures Kinostart: 12. Oktober 2023 Festivals: Venedig 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #CapelightPictures

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Jean Newman (Rosy McEwen) ist Sportlehrerin. Sie ist beliebt an ihrer Schule. Sowohl im Lehrkörper als auch bei den Jugendlichen. Was keiner an der Schule weiß, ist, dass sie lesbisch ist. “Blue Jean”, das Langspieldebüt der Britin Georgia Oakley (“Little Bird”), spielt in der restriktiven Thatcher-Zeit.

1988 wurde unter Margaret Thatcher die sogenannte “Section 28”-Gesetzeserweiterung parlamentarisch verabschiedet. Fortan durfte die ohnehin schon konservative britische Gesellschaft mit “Homosexualität” nicht mehr belästigt werden. Jede Förderung derselbigen war ein Verstoß.

Für Jean bedeutet dies, dass sie, sollte herauskommen, dass sie lesbisch sei, sie mit sofortiger Wirkung vom Schuldienst ausgeschlossen werden würde. Somit wird sie nicht nur in ein Doppelleben gezwungen, sie kann aus reinem Selbstschutz sich auch nicht den Gegenbewegungen anschließen, so wie es ihre Lebensgefährtin Viv (Kerrie Hayes) tut.

So fern ist diese Zeit gar nicht. Immer noch werden LGBTQ-Menschen unterdrückt oder gar mit dem Tod bedroht. Auch heute gibt es entsprechende Gesetze, die Darstellungen von Homosexualität verbieten. Auch innerhalb der EU. Was machen Gesetze dieser Art mit den Menschen, die von diesen ausgegrenzt werden? Georgia Oakley, geboren 1988, berichtet, dass sie selbst gar nicht wusste, dass es die “Sektion 28” gab. Sie selbst war damals im schulpflichtigen Alter und wunderte sich, dass sie so gar keine Vorbilder für ihr Empfinden fand. Erst die Beschäftigung mit den Auswirkungen dieses Gesetzes öffnete ihr die Augen.

Georgia Oakleys Figuren sind Menschen, wie du und ich. Oakley stellt die Verordnungen und die Nachrichten der Zeit in den Hintergrund, der allerdings allumfassend die davor handelnden Figuren einengt. Aus eben jenen Nachrichten erfahren wir von der Stimmung im Land. Auch wenn die Hauptfigur, Jean, diese Nachrichten wegschalten möchte.

Um diese bedrückende Atmosphäre geht es Oakley hauptsächlich. Sie unterstreicht die Stimmungen mit einer spezifischen Farbgebung, die man bewusst oder unbewusst mit aufnimmt. Pastelltöne kennzeichnen die heteronormativen Lebenswelten. Kräftigere Farben werden in jenen Bereichen eingesetzt, in denen Jean in ihrer Freizeit verkehrt.

“Blue Jean” ist ein wirklich wichtiger Zeitepochenfilm über die damaligen Repressionen. Dabei sind die Figuren der Jean, einer Lehrerin, ihrer Freundin und Aktivistin Viv und einer Schülerin an Jeans Schule Stellvertreterinnen für einen konkreten Konflikt, für den es hier keine einfache Lösung gibt.

Lois (Lucy Halliday) ist eine der Schülerinnen von Jean. In der Schule wird sie gemobbt. Lois, die neu in die Klasse gekommen ist, positioniert sich in der Folge abwehrend gegen das It-Girl der Klasse. Jean trifft Lois in ihrer Freizeit zufällig in einer Lesbenbar. Das Erkennen des jeweils anderen bringt beide in eine Abhängigkeitssituation. Wenn Lois Jeans Identität aufdeckt, ist sie ihren Job los. Wenn Jean Lois verleugnet, zerstört sie ein Leben, das ihr als Lehrerin doch anvertraut worden ist.

“Sektion 28” bedeutet nicht nur die Stigmatisierung von Homosexualität. Es sollte im Schulbereich ausschließlich negativ darstellt werden, zugunsten traditioneller Familienbilder. Ein Spagat den Jean nicht packt. Sie trifft eine falsche Entscheidung.

“Sektion 28” wurde erst, man mag es kaum glauben, im November 2003 abgeschafft. Georgia Oakleys Debüt ist ein überzeugender Film, der seine Figuren mit allen Schattenseiten vermittelt. Mit leisen Tönen wird eine Hauptfigur mit ihren Schwächen darstellt. Jean ist alles andere als eine Aktivistin. Ihr Zögern, ihr Nichthandeln setzen sie in einen Konflikt mit ihrer Freundin, die Haltung fordert, und es bricht einem das Herz, wie sehr ein noch junger Mensch wie Lois ein Platz in der Gesellschaft verwehrt wird.

“Blue Jean” lief letztes Jahr auf dem Filmfestival in Venedig und wurde dort mit dem Publikumspreis der Sektion »Giornate degli Autori« ausgezeichnet. Die British Independent Film Awards zeichneten darüber hinaus die Darstellungen der beiden Hauptfiguren, Rosy McEwan und Kerrie Hayes (als Nebendarstellerin) aus. Georgia Oakley gewann den Preis als beste Drehbuchdebütantin.

In Deutschland wurde “Blue Jean” im Rahmen des Queerfilmfestes vom Verleih Salzgeber vorgestellt und seit letzter Woche läuft der Film regulär im Kino. “Blue Jean” ist sowohl vom Setting, vom Schauspiel und der Umsetzung ein eindrucksvolles Debüt und absolut empfehlenswert.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Blue Jean Regie: Georgia Oakley Drehbuch: Georgia Oakley Kamera: Victor Seguin Schnitt: Izabella Curry Musik: Chris Roe Mit Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday, Lydia Page, Becky Lindsay, Maya Torres, Ellen Gowland, Amy Booth-Steel, Stacy Abalogun, Izzy Neish, Kate Soulsby, Lainey Shaw, Farrah Cave, Deka Walmsley, Gavin Kitchen, Emily Fairweather, Aoife Kennan, Scott Turnbull, Dexter Heads Großbritannien 2022 97 Minuten Verleih: Salzgeber Kinostart: 5. Oktober 2023 Festivals: Venedig 2022 / Zürich 2022 / Rotterdam 2023 / Sydney 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Salzgeber #GeorgiaOakley

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Immer wieder geht der Blick nach China, wenn man von totaler Kontrolle und Überwachung der eigenen Bevölkerung auch nur nachdenkt. Nicht nur seit Edward Snowdens Aufdeckung der technischen Schnüffelmethoden, nicht nur seitdem zum Beispiel der Konzern Google sein ursprüngliches Motto “Don't Be Evil” (Tue nichts Schlechtes) abgelegt hat, ahnt man zumindest, dass etwas im Argen liegt und man seine Privatsphäre (und nicht nur diese) verteidigen muss.

Während bei uns oft noch eine Mentalität überwiegt, die ausdrückt: “dann wissen sie halt alles über mich” und meinen damit, dass sie passgenaue Werbung auf den Kanälen ausgespielt bekommen oder es herrscht ein naiver Fatalismus a la “sie wissen doch eh schon alles über mich”.

Wir ignorieren geschichtliche Vorkenntnisse, was der Staat schon alles über uns weiß, und wir ignorieren, wogegen die, die einst schon gegen die Volkszählung protestierten, gewarnt hatten.

Wohin das alles führen kann? Die Maut-Daten oder die Corona-Listen, die dann doch zweckentfremdet wurden? Apps, die Daten sammeln und übermitteln, anhand derer man zum Beispiel derzeit in den USA das Abtreibungsverbot überwachen kann? Bei all dem ist China schon viel weiter. Die (Selbst-)Zensur wurde verinnerlicht. Maßnahmen werden mitunter gar nicht erst in Frage gestellt. Dort greift die Überwachung und Kontrolle eines Systems derart in die Lebensgestaltung ein, dass es zumindest uns in sicherer Entfernung gruselt. Wir ahnen aber, dass das alles auch uns angeht.

Die chinesische Regisseurin und Produzentin Jialing Zhang mit journalistischer Ausbildung und Berufserfahrung lebt und arbeitet in den USA. Bereits in ihrem Debüt 2017, “Complicit”, berichtete sie von einem chinesischen Wanderarbeiter, der an einer Vergiftung litt und daraufhin die globale Elektronikbranche zur Verantwortung ziehen wollte. In “Total Trust”, eine internationale Produktion, bringt sie uns den überwachten Alltag von Frauen in China nahe, die gegen diese Kontrolle aufbegehren.

“Total Trust” sollte die Augen öffnen, wenn sie nicht bereits voll aufgerissen sind. Man möchte, man muss über diesen Film reden. Das Bild vom Frosch im Kochtopf, welches auch Jialing Zhang und ihre anonym bleibenden Mitwirkenden übermitteln, zeigt, dass während bei uns das Wasser nur langsam warm wird, es anderorts bereits brodelt.

Dabei ist es nicht nur die Technik, auch das wird in diesem dramaturgisch spannenden Dokumentarfilm deutlich, die uns die individuelle Freiheit nimmt, sondern auch unzählige MitbürgerInnen und NachbarInnen, die dieses System stützen. Freiwillig oder auch unfreiwillig. Mit seinen Beispielen, die an unserem Sinn für Gerechtigkeit und Freiheit rütteln, ist “Total Trust” beeindruckend. Die Distanz in Raum und den diktatorischen Möglichkeiten überwindet Regie und Schnitt gekonnt und radikal.

Jialing Zhang wählte als ihre Protagonistinnen eine Journalistin, eine Anwältin, eine Aktivistin. Nur am Rande kommen einfache Leute ins Bild, die sich mal eben solidarisch zeigten und sich prompt wundern, dass die Überwachung nun auch sie ins Visier genommen hat.

Wenn Schergen des Systems vor der Wohnungstür kampieren, damit man an bestimmten Tagen gar nicht die Chance hat, das Haus zu verlassen, dann sollte das einem durchaus Angst machen. Hier liegt auch der Fokus der Regisseurin. Wie lebt es sich mit dieser Überwachung. Was macht das mit einem? Wie hält man das aus? Die drei konkreten Beispiele mögen Erinnerungen wecken und Befürchtungen schüren, angesichts politischer Verschiebungen, die auch unser Leben bestimmen können, sollten wir gegensteuern, bevor die Überwachung uns nicht nur Produktempfehlungen beschert.

Eneh

Dokumentarfilm Regie: Jialing Zhang Deutschland / Niederlande 2023 97 Minuten. Verleih: Piffl Medien Kinostart: 5. Oktober 2023

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #PifflMedien

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Kinder stellen Fragen. “Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum?”, so trällerten Groß und Klein den Refrain des bekannten Liedes der “Sesamstraße”. Woche für Woche erklärt die “Sendung mit der Maus” Kindern aller Altersstufen die kleinen und großen Dinge aus unserem Alltag.

Unabdingbar für den Erfolg einer Sendung für Heranwachsende ist die Neugierde und die Begegnung auf Augenhöhe. Wissensvermittlung darf Spaß machen und spannend sein. Ungenau das beherzigt auch die Wissenssendung “Checker Tobi”, die schon seit 2013 auf Kika und der ARD ausgestrahlt wird. Inzwischen gesellen sich auch andere Checker dazu, es gibt eine ganze Checker-Familie und ganz neu dabei ist Checker Marina, die, jetzt kommts, im zweiten Kinofilm der Reihe eingeführt wird.

Zwar gibt es eine Handlungsidee, aber die Umsetzung und dem Genre nach sind die Checker-Filme, es sind nur zwei bisher, sowohl Dokumentar- als auch Abenteuerfilme. Und so begibt sich Checker Tobi (Tobias Krell) im aktuellen Kapitel um “die Reise zu den fliegenden Flüssen” (Regie Johannes Honsell) auf eine solche rund um den Globus.

Keine Bange, das geht auch über weite Strecken ohne Flugzeug. Der Postbote bringt Tobi am Anfang des Filmes ein Paket. Darin findet Tobi eine hölzerne Kiste und einen Brief von einer alten Bekannten aus der Kindheit, die ihn und seine damals beste Freundin ständig mit Rätseln gefüttert hatte, die es zu lösen galt. So ist auch diese Sendung ein Anpfiff zu einer Schatzsuche. Zum größten Schatz, den es gibt. Ungelogen, das ist sogar richtig und die fliegenden Flüsse gibt es auch.

Tobias, kurz Tobi, Krell hat ein Gespür für spannende Geschichten und deren visuelle Umsetzung. Von daher ist der Weg ins Kino und auf die große Leinwand konsequent. Bereits sein Vater war Kameramann. Seine Laufbahn führte ihn durch zahlreiche Redaktionen und durch ein Studium für Soziologie und Politikwissenschaften. Daran setzte er noch ein Medien-Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf, heute Filmuniversität Babelsberg, dran. Für das Medium Film hat er sich schon immer begeistern können und inzwischen verbindet er in seiner Position als Leiter des Kinderfilmfestes beim Filmfest München beides.

Zurück zur aktuellen Schatzsuche. Die erste Spur, um seine frühere Freundin aus der Kindheit wiederzufinden, führt ihn nach Vietnam. Egal, wo er landet, er interessiert sich mit zwingender Neugierde für die Menschen, die er trifft und wie sie leben. Er versucht zumindest ein paar Sätze in der Ortssprache anzuwenden. Er reflektiert auch sehr wohl seine Privilegien. In Vietnam führt ihn der Weg durch eine riesige Höhle, die im Kinodunkel besonders imposant wirkt. Hang Son-Doòn gilt als die größte Höhle der Welt. Aber nichts, was der Mensch hier mitbringt, darf er dort lassen. Eine Haltung, die nicht nur für außerordentliche Schauplätze der Natur gelten sollte. Die einzelnen Stationen bauen natürlich pädagogisch aufeinander auf. Nur wenn man das eine erlebt hat, weiß man das andere und um so mehr zu schätzen. So folgt auf Vietnam, dann bereits zusammen mit der zukünftigen Checkerin Marina, die Mongolei und auf die Mongolei der Amazonas.

Noch dazu ist das Team Tobi und Marina verdammt sympathisch. Immer wieder durchbricht Checker Tobi die filmische vierte Wand, auch um sein Publikum mitzunehmen, es teilhaben zu lassen am Abenteuer. Nichts bleibt hier ununtersucht. Selbst komplexe Sachverhalte werden anschaulich vermittelt. Die großen Themen wie Umweltzerstörung und Landraub werden bewusst und mit allem Ernst mit eingeflochten. Dabei ist dem Checker-Team eine positive Haltung wichtig. Sie vermitteln die Fragen, die man stellen sollte und zeigen auch mit Hilfe von Mitstreitenden, Wegbegleitenden und Sachverständigen auf, was man machen könnte, um es besser zu machen.

Eneh

Regie: Johannes Honsell Mitwirkende: Tobias Krell, Marina M. Blanke, Klaas Heufer-Umlauf, Xuan-An Amy Truong, Bayartuul Lundeg, Lucas Landau, Anne Essel, Bitate Uru Eu Wau Wau, Mira Pöhlker Deutschland 2023 92 Minuten Verleih: MFA+ Kinostart: 5. Oktober 2023

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Kinderfilm #MFA+

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Inger (Sofie Gråbøl) ist besonders. Inger leidet an Schizophrenie. Ihre Schwester Ellen (Lene Maria Christensen) holt sie aus der Heimbetreuung ab, um sie auf eine Reise nach Paris mitzunehmen. Paris ist hier nicht nur ein Urlaubsziel, nicht nur ein Sehnsuchtsort, sondern ein Ankerpunkt in Ingers' Vergangenheit.

Schizophrenie ist eine Krankheit, die mit viel Stigma und Unwissenheit belastet ist. Der Bruch in der Wahrnehmung, die Reaktionen der Erkrankten, äußern sich auch ganz unterschiedlich. Der dänische Regisseur Niels Arden Oplev, der vor einigen Jahren auf der Berlinale seinen Film “Worlds Apart” vorgestellt hatte, der in dem Jahr auch Dänemarks Einreichung zu den Oscars wurde, und der mit der Stieg Larsson-Verfilmung “Verblendnung” auch einem größeren Publikum bekannt wurde, wählte eine kleine, autobiographische Geschichte.

Die Figuren von Inger und Ellen sind seinen beiden Schwestern nachempfunden, die einst, vor Handy-Zeiten, genauso eine Reise unternommen haben. Es geht um den Zusammenhalt einer Familie, in der die Krankheit einer Person alles auf den Prüfstand stellt. Es geht aber auch um uns als Gesellschaft, die wir Krankheiten stigmatisieren und so weit von uns weisen, dass wir nicht damit umzugehen lernen.

Die Reise nach Paris ist keine Reise im bequemen Auto. Ellen hat, sehr zum Unwillen der getagten Mutter, die sich viel zu sehr in die Betreuung, trotz Heimunterbringung, einbringt und aufreibt, für eine pauschale Busreise entschieden. Ein Mikrokosmos an Mitreisenden, die so unvermittelt und ungefragt sich nun ebenfalls mit jemandem auseinandersetzen müssen, die nicht der Norm entspricht. Inger macht aus ihrer Krankheit keinen Hehl. Dabei handelt es sich allerdings um eine milde Form der Schizophrenie, sonst würde sich die Geschichte sicherlich so nicht erzählen lassen. Es geht also nicht nur um Ingers Krankheit, sondern auch um die Reaktionen ihrer Mitmenschen, die sehr unterschiedlich ausfallen.

Da ist zum Beispiel der Lehrer Andreas (Søren Malling) und seine sehr stille Ehefrau Margit (Christiane G. Koch). Offensichtlich lehnt der Pedant, wie er im Buche steht, jede Normabweichung ab und will vorgeblich seinen Sohn Christian (Luca Reichardt Ben Coker), gerade mal 12 Jahre alt, vor schlechten Einflüssen schützen. Andreas' Ablehnung fällt so stark aus, dass man erst meint, er sollte doch mal locker machen, aber auch seine Reaktion deckt eine Facette einer Persönlichkeitsabweichung ab. Niels Arden Oplev nimmt die Figuren bis in die Nebenrollen ernst, stellt niemanden bloß und schafft es, Mitgefühl zu wecken. Sein Drehbuch kommt geradezu als eine Komödie daher, ohne sich je über etwas lustig zu machen.

Christian ist hier eine Schlüsselfigur. So jung, so ohne Berührungsängste, sozusagen ein Ideal, geht er an das Unbekannte heran und freundet sich mit Inger an. Er will verstehen und führt mit seiner Neugierde auch das Publikum an die Problematik heran. Dabei verschweigt Niels Arden Oplev die Schwierigkeiten nicht. Er zeigt, wie Ellen teilweise an den Rand ihrer Kräfte gerät, vor der sie auch ihr beschützender Mann Vagn (Anders W. Berthelsen) nicht immer bewahren kann. Auch seine stille Unterstützung löst mitunter Frustrationen bei ihm aus. Niels Arden Oplev wägt die selbst gewählten und die unfreiwillig auferlegten Aufgaben sorgsam ab und vermittelt diese mit einer Leichtigkeit, die diesen Film, deren Titel sich irgendwann erklären wird, zu einer kleinen Perle machen.

Eneh

Originaltitel: Rose Regie: Niels Arden Oplev Mit: Sofie Gråbøl, Lene Maria Christensen, Anders W. Berthelsen, Søren Malling, Luca Reichardt Ben Coker, Peter Gantzler, Christiane Gjellerup Koch, Karen-Lise Mynster, Illyès Salah, Jean-Pierre Lorit, Yale Arden Oplev, Kathrine Jacobsen, Tine Roland Grauengaard Dänemark 2021 101 Minuten Verleih: Mindjazz Pictures Kinostart: 28. September 2023

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #MindjazzPictures

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Sieben Jahre, sieben Winter saß die junge Studentin, Reyhaneh Jabbari, im Iran im Gefängnis, bis sie, verurteilt als Mörderin, hingerichtet worden ist. Damals, das waren die Jahre 2007 bis 2014, war das in allen Medien. Reyhaneh Jabbari war gerade mal 19 Jahre alt. Neben ihrem Studium arbeitete sie als Inneneinrichterin. Ein Jobangebot wurde ihr zum Verhängnis. Für einen Auftrag war sie auf einer Wohnungsbegehung, die sich als Falle herausstellte. Der Auftraggeber hatte die Tür verschlossen. Sie wehrte sich und in Notwehr verursachte sie den Tod ihres Vergewaltigers. Man wertete ihre Abwehr als Mord. Darauf stand die Todesstrafe, beziehungsweise die “Blutrache”.

Sieben Winter in Teheran war dieses Jahr auf der 73. Berlinale der Eröffnungsfilm der Sektion Perspektive Deutsches Kino, der schließlich zum Gewinner des Kompass-Perspektive-Preises 2023 gekürt wurde. International debütierte der Dokumentarfilm gerade in Dänemark auf dem CPH:DOX Festival. Neben dem Achtung Berlin Festival wird auch das DOK.fest München den Film im Mai 2023 zeigen. Einen Verleih hat der Film inzwischen.

Die Jury für den Kompass-Perspektive-Preis begründete ihre Entscheidung: “Gebannt verfolgen wir die Geschichte einer jungen Frau, die sich der institutionalisierten männlichen Gewalt widersetzt. Dabei entsteht das einfühlsame Porträt einer Familie, die im Kampf gegen ein Unrechtsregime zerrissen wird.” Die Jury hebt hervor: “Dieser Film tut weh und verstört.”

Reyhaneh Jabbari hätte die Möglichkeit gehabt, ihre Anschuldigung der Vergewaltigung zurückzunehmen. Die Angehörigen des “Opfers”, denn die Familie des Täters gilt hier als die “Familie des Opfers”, hätten ihr “verzeihen” können. Mit einer Lüge wollte Jabbari jedoch nicht leben, sie blieb bei der Wahrheit.

Steffi Niederzoll ist Absolventin der Kunsthochschule für Medien Köln und der Escuela Internacional de Cine y Televisión in Kuba. Bereits ihren mittellangen Film Lea (2008) stellte sie in der Perspektive-Sektion der Berlinale vor. Ihr erster langer Dokumentarfilm zeichnet sich durch ihre Zurückhaltung aus. Im Mittelpunkt stehen die Geschichte von Reyhaneh Jabbari und die Bemühungen ihrer Familie, ihre Freilassung zu bewirken.

Steffi Niederzoll arbeitete eng mit der Familie zusammen. Mutter und Schwester von Reyhaneh Jabbari leben inzwischen in Deutschland. Der Vater ist, in Ermangelung einer Ausreisegenehmigung, in Teheran zurückgeblieben. Die Gespräche mit der Familie wurden darum teils von einem anonymen Stab gedreht. Die Familie stellte Steffi Niederzoll geheime Aufnahmen der Familie aus dem Gefängnis, Telefongespräche und Briefe zur Verfügung. Auszüge aus den Briefen werden von der Exiliranerin und Schauspielerin Zar Amir-Ebrahimi (wir kennen sie aus Holy Spider) aus dem Off vorgelesen.

Anhand des Materials werden wir Zeuge eines aussichtslosen Kampfes gegen Traditionen, den iranischen Institutionen und einer Gesellschaft, in der das Patriarchat diktiert. Die Regierung ist an der Wahrheit nicht interessiert. Denn Reyhaneh Jabbaris Vergewaltiger galt als ein religiöser Mann und so konnte er per se kein Vergewaltiger sein. Er war übrigens als Geschäftsmann und darüberhinaus auch als Mann im Geheimdienst zu gut vernetzt.

Sieben Jahre in Teheran zeigt aber nicht nur die aussichtslosen Verhandlungen, sondern zeigt den Lebensweg einer jungen Frau, die durch die Umstände wächst. So erfahren wir, dass sie sich mehr und mehr um die Belange ihrer Mithäftlingen kümmerte. Gleichzeitig lernen wir ihre Familie kennen, die ebenso an der Situation wachsen muss. Sie lernen alle Kanäle zu nutzen, bemühen sich um Aussöhnung und müssen doch auch mit der Entscheidung der Tochter, bei der Wahrheit zu bleiben, Frieden schließen.

Sieben Jahre in Teheran stellt sein Thema der Form voran. Gerade dadurch gibt der Dokumentarfilm Reyhaneh Jabbari und denen, die vom iranischen Regime unterdrückt und vernichtet worden sind, eine Stimme weit über den Tod hinaus.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Seven Winters in Tehran Regie & Konzept: Steffi Niederzoll Kamera: Julia Daschner Montage: Nicole Kortlüke Musik: Flemming Nordkrog Mit Reyhaneh Jabbari, Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari, Parvaneh Hajilou, Mohammad Mostafaei, Samira Mokarrami Deutschland / Frankreich 2023 98 Minuten Kinostart: 14. September 2023 Verleih: Little Dream Pictures Festivals: Berlinale 2023 / Achtung Berlin 2023 / Dok.Fest München 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #LittleDreamPictures #Berlinale2023 #AchtungBerlin2023 #DokFestMünchen2023

© Eneh