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Joyland erzählt von einer pakistanischen Großfamilie. Da gibt es den alten Patriarchen, der allerdings im Rollstuhl sitzt und auf Hilfe angewiesen ist. Dieser hat zwei Söhne. Der eine, Kaleem (Sohail Sameer), wird, als die Handlung einsetzt, zum vierten Mal Vater. Seine Frau Nucchi (Sarwat Gilani) bringt ein Mädchen zur Welt. Schon wieder ein Mädchen. Dabei braucht es doch einen männlichen Erben. Der jüngere Sohn, Haider (Ali Junejo), ist zwar mit Mumtaz (Rasti Farooq) verheiratet, aber er hat noch keine Kinder. Haider steht als Identifikationsfigur im Mittelpunkt der Handlung. Denn er ist verheiratet und doch verliebt er sich in eine andere. Als sich seine gesellschaftliche Rolle ändert, ändert sich ein ganzes Gefüge.

Der pakistanische Regisseur Saim Sadiq hat in seinem Langspielfilmdebüt, welches im letzten Jahr in Cannes Weltpremiere hatte, ein ganzes Ensemble vielschichtiger Figuren zusammengebracht. Indem er die Beziehung zwischen den Einzelnen aufschlüsselt und ihre Interaktionen behandelt, gibt er Einblick, wie groß die Bürde des Patriarchats auf den Akteuren lastet. Die tradierten Werte, die überkommenen Strukturen, machen hier allen zu schaffen. Sadiq zeichnet die Charaktere so authentisch und unmittelbar, dass selbst wenn uns in Mitteleuropa der Alltag in Lahore, wo der Film spielt, fremd ist, wir instinktiv die Nöte der Familienmitglieder begreifen, wir mit ihnen mitfühlen und von ihnen berührt werden.

Haider gilt sowohl in seiner Familie als auch in der Gemeinschaft als verweichlichter Mann. Er ist seit langem arbeitslos, während seine Frau erfolgreich als Make-Up-Artist den Unterhalt verdient. Haushaltspflichten liegen Mumtaz nicht, ihre Arbeit gibt ihr bisher Freiheiten. Doch Haider wird gedrängt, endlich einen Job anzunehmen. Als er tatsächlich Arbeit findet, spricht der Patriarch der Famile, Vater Aman (Salmaan Peerzada), ein Machtwort. Haider, der bis dahin den Haushalt geführt und sich um die Nichten und den Vater gekümmert hatte, gehe nun arbeiten. Mumtaz solle darum fortan im Haushalt ihre Erfüllung finden. Was keiner in der Familie weiß, ist, welche Art Arbeit Haider gefunden hat. Es ist jetzt kein Spoiler zu verraten, dass er in einem queeren Tanzclub im Background tanzen wird. Die Transfrau Biba (Alina Khan), in deren Ensemble er tanzen soll, unterstützt ihn, soweit ihr das möglich ist. Haider fühlt sich zu ihr, und das ist für ihn ein moralisches Dilemma, hingezogen.

Das Drehbuch von Sadig und Maggie Briggs gibt den Figuren einen kurzen Blick auf die Freiheiten, nach denen sich jede und jeder sehnt, und zeigt dann doch auf, wie sehr diese außer Reichweite liegen. Joyland ist somit eine kritische Parabel auf die Gesellschaft Pakistans. Darüber hinaus brennen sich, vor allem durch die wunderbare Kameraführung von Joe Saade und der Montage von Sadiq und Jasmin Tenucci, zahlreiche kleine Szenen in die Erinnerung ein. Der Film wirkt nach.

In Cannes wurde Joyland hoch gelobt. Das Debüt gewann in der Sektion Un certain regard den Jurypreis und darüber hinaus die Queer Palm. Nach der Premiere wanderte der Film von Festival zu Festival. Das US-Branchenmagazin Variety erkor seinen jungen Regisseur, Saim Sadiq, der sein Filmstudium an der Columbia University, NYC, abgeschlossen hat, zu einem der “10 Directors to Watch” für 2023. Pakistan wählte Joyland, nachdem man den Film zuerst als Angriff auf nationale Werte verboten hatte, sogar als seinen Beitrag für den internationalen Oscar, wo er es bis auf die Shortlist schaffte. In der pakistanischen Provinz Punjab, dessen historische Hauptstadt Lahore ist, darf der Film allerdings weiterhin nicht gezeigt werden.

Für Sadiq spricht, dass er es bereits in den ersten Szenen schafft, das Publikum in ein kompliziertes Familiengefüge hineinzuversetzen. Er wertet seine Figuren nicht, er überlässt es den Zuschauenden, die Fallstricke zu erkennen. Er arbeitet subtil die Restriktionen der pakistanischen Gesellschaft heraus und die ablehnende Rezeption seines Heimatlandes zeigt nur, wie sehr diese nottut. Man erkennt tatsächlich, welche Werte die Figuren einengen, welche Freiheiten sie sich erkämpfen müssen und wie schwer das mitunter ist.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Joyland Regie: Saim Sadiq Drehbuch: Saim Sadiq, Maggie Briggs Kamera: Joe Saade Schnitt: Jasmin Tenucci, Saim Sadiq Musik: Abdullah Siddiqui Mit Ali Junejo, Rasti Farooq, Sarwat Gilani, Alina Khan, Sohail Sameer, Salmaan Peerzada, Sania Saeed Pakistan / USA 2022 127 Minuten Verleih: Filmperlen Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Cannes 2022, Zürich 2022, Sundance 2023 TMDB

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