Cineneh

Filmjahr2023

Die Geschichte der Beziehung zwischen König Ludwig XV. (Johnny Depp) und der Mätresse Jeanne du Barry (Maïwenn) hätte das Potential gehabt, mehr als ein Kostüm- und Ausstattungsfilm zu werden.

Ludwig, also Louis XV. (1710 – 1774) ist vielen vielleicht nur durch die nach ihm benannte Stilepoche “Louis-quinze” bekannt. Er pflegte eine oft in Kunst und Literatur verarbeitete Beziehung zu der Marquise de Pompadour, aber eben auch zu Jeanne du Barry (1743 – 1793), die ihn noch auf seinem Krankenbett pflegte. Seine Reformbemühungen sind weniger im Fokus. Die Aussöhnung mit Österreich, die mit der Verheiratung von Marie Antoinette mit seinem Enkel, der zum schicksalhaften König Ludwig XVI. wurde, mag nur Geschichtsenthusiasten im Gedächtnis geblieben sein. Marie Antoinette und die ihr nachgesagten Extravaganzen inspirierten vor einigen Jahren z.B. aber Sofia Coppola zu ihrem bekannten Pop-Opus, das wiederum Maïwenn aufgriff und zu einem eigenen Werk abwandelte.

Für die Politik und Geschichte der Zeit interessiert sich das Biopic der letzten Mätresse des Königs, eben jener Jeanne du Barry, nicht. Die Regisseurin und Schauspielerin Maïwenn (“Poliezei”, “Mein ein, mein alles”) zeigt den vermeintlichen Aufstieg einer jungen Frau aus dem Proletariat, Tochter einer Köchin, die es aus eigener Kraft und mit Hilfe ihres Charmes zu etwas bringen will. War es denn wirklich so? Wohl kaum.

Maïwenn nimmt sich Freiheiten in der Vita, was an sich nicht verwerflich ist. Allerdings geht es ihr auch nicht um das Zeremoniell und – oder um die Hierarchie, folglich die Politik am Hof der französischen Könige. Natürlich ist es nicht ohne, wenn man visuell damit auftrumpfen kann, tatsächlich in Versailles gedreht zu haben. Zumindest an den publikumsfreien Tagen, das heißt nur einmal in der Woche. Drehorte, Ausstellung und Kostüme sind bei Historienfilmen aber wohl das Mindeste, auf das man wert legt.

Wir lernen Jeanne als Kind kennen. Wir erfahren, dass sie vom Herrn ihrer Mutter gefördert wurde und etwas Bildung erhalten hat. Die Rolle der Frauen in dieser Zeit war allerdings sehr beengt. Jeanne wählte das Leben als Kurtisane. Sie fiel dem Grafen Jean-Baptiste du Barry auf, der sie heiratete, aber sogleich, um seinen eigenen Einfluss am Hof auszuweiten, weitervermittelte. Aus Sicht einer jungen Frau im 18. Jahrhundert gab es kaum eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung oder zur Emanzipation. Eine Verkuppelung mit dem König hat also wenig mit Romantik und rein gar nichts mit Eigenständigkeit zu tun. Im Gegenteil. Die Ausgangslage ist eine Demütigende. Das Kind beim Namen zu nennen, wäre hier besser angekommen. Dazu kommt, dass die Regisseurin einen nahezu männlichen Blick auf die Hauptfigur wirft und so jede neue Facette, die man einbinden könnte, von vornherein ausschließt.

Trotzdem wurde die Geschichte der Du Barry immer wieder Stoff von Romanen, Operetten und Spielfilmen. Bereits Pola Negri spielte die Du Barry 1919 unter der Regie von Ernst Lubitsch. 1934 drehte William Dieterle “Madame du Barry” mit Dolores del Río. Cole Porter machte ihre Geschichte zum Musical, und zuletzt tauchte sie in Sofia Coppolas “Marie Antoinette” als intrigante Nebenfigur auf, die von Asia Argento gespielt wurde. Maïwenn machte den Stoff zu ihrem Herzensprojekt und besetzte sich gleich selbst in der Hauptrolle. Dabei ist sie rund 15 Jahre zu alt für die Rolle.

Geht es ihr denn um die Beziehung zu dem König oder zeigt sie die Beziehung, die der König zu den seinen und zu ihr hatte? Eigentlich nicht. So gar nicht hilfreich ist, dass Maïwenn ausgerechnet Johnny Depp in der Rolle des französischen Königs besetzte. Depp war zwar Jahre lang mit der Französin Vanessa Paradies verheiratet, aber den Franzosen nimmt man ihm nicht ab.

In Cannes, wo “Jeanne du Barry” dieses Jahr das Festival eröffnete, gab es ob der Besetzung sogar einen Aufschrei. Über einen langwährenden Prozess musste sich Depp den Vorwürfen seiner ehemaligen Freundin Amber Heard juristisch erwehren. Ungeachtet des Ausgangs dieser eigentlich privaten und uneigentlich öffentlichen Auseinandersetzung ist seine Besetzung fragwürdig. Dass die Regisseurin und Hauptdarstellerin Maïwenn sich explizit nicht als Verfechterin der #metoo-Bewegung ansieht, färbt nun auf das Historienspektakel ab.

Schließlich ist jeder Historienfilm nicht nur das Porträt einer Ära, sondern auch ein Spiegelbild der Zeit, in der das Werk entstand. Reflektion ist aber keine Stärke von Maïwenns Figuren. Geschichtlich verbürgt ist, dass sie einen Sklavenjungen, Louis-Benoit Zamor, geschenkt bekam. Sie wollte ihm Bildung schenken und ihn gut behandeln, aber letztendlich dankte er es ihr nicht. Natürlich nicht, sagt man sich aus heutiger Sicht. Im Drehbuch verläuft sich die Figur, wie so viele andere Aspekte, die sich nicht um ihre Hingabe für den König drehen.

Eine Handlung, die die Zwänge der Gesellschaft allgemein und am Hof, thematisiert hätte, wäre um einiges spannender gewesen. Stattdessen inszeniert sich Maïwenn als anmutige, unverbrauchte Unschuld, die am Hof zwar durchaus Akzente in Sachen Mode setzen kann, die aber im Großen und Ganzen gemieden wurde.

Trotzdem und gegen alle Widerstände opferte sie sich für ihren König auf. Ihrem König, der sie nach seinem Tod per Anordnung ins Kloster verbannte. Nicht einmal die gesellschaftlichen Umbrüche der Zeit, die Französische Revolution am geschichtlichen Horizont, konnte Jeanne du Barry mit ihrer Herkunft versöhnen. Die Konsequenz musste sie tragen, wie hier zumindest das Nachwort nicht verschweigt. Auch das hätte eine interessante Geschichte ergeben.

Maïwenn blendet die französische Geschichte außerhalb des Hofes fast gänzlich aus. Die Monarchie, die kurz vor ihrem Ende steht, wird hier eher verklärt, wenn nicht sogar verharmlost. Die Intrigen am Hof richten sich stets nur gegen die Titelfigur. Maïwenn zeigt die Absurditäten im Protokoll auf, um sie vorzuführen. Sicherlich kann man sich an den Kostümen satt sehen. Aber insgesamt bleibt ein schaler Nachgeschmack.

Eneh

Originaltitel: Jeanne Du Barry Regie: Maïwenn Mit: Maïwenn, Johnny Depp, Benjamin Lavernhe, Melvil Poupaud, Robin Renucci, Pierre Richard, Marianne Basler, Pascal Greggory, Caroline Chaniolleau, India Hair, Suzanne De Baecque, Capucine Valmary, Laura Le Velly, Patrick d'Assumçao, Diego Le Fur, Pauline Pollmann, Noémie Lvovsky, Micha Lescot, Marine Boca, Djibril Djimo, Ibrahim Yaffa, Thibault Bonenfant, Erika Sainte Frankreich / Belgien / Großbritannien 2023 117 Minuten Verleih: Wild Bunch & Alamode Kinostart: 24. August 2023

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #WildBunch #Alamode

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Die schönste Liebesgeschichte des Jahres, so könnte man Past Lives knapp beschreiben. Aber eigentlich ist Past Lives gar keine Liebesgeschichte. Zumindest ist sie das nur zum Teil. Der deutsche Titel benennt das Spielfilmdebüt der koreanisch-amerikanischen Bühnenautorin Celine Song (Endlings), die mit diesem Erstling selbst am Scheideweg steht und fortan Filme drehen möchte, ganz treffend Past Lives – In einem anderen Leben.

Die “vergangenen Leben” beziehen sich dabei auf das koreanische Konzept des “In-Yun”, das besagt, dass Seelen sich über Reinkarnationen hinweg immer wieder aufeinandertreffen und eine Verbundenheit aufbauen. Diese Verbundenheit kann nach unzähligen Zirkeln zu einer tiefen Liebesbeziehung führen.

Nora (Greta Lee) erzählt Arthur (John Magaro) von “In-Yun”, als sie ihn kennenlernt und fügt hinzu, dass Koreaner den Begriff gerne als einen netten Anmachspruch verwenden. Aber so ganz abstreiten möchte Celine Song diese Idee in ihrem Werk nicht. Der deutsche Zusatztitel vermittelt das Gefühl, dass ein Leben mit all seinen Abzweigungen auch anders verlaufen könnte. Damit bezieht Celine Song in ihrem semiautobiographischen Drama sich nicht nur auf Liebe und Zweisamkeit, sondern auf die Schmerzen bei der Suche nach Identität, die aus all den Möglichkeiten, die ein Leben bietet, aufkommen und sowohl die Figuren als auch ihre Beziehung zueinander formen.

Wir standen alle schon an Scheidewegen. Manchmal wählen wir unseren Weg selbst. Wir wählen eine andere Stadt, weil uns zum Beispiel der Beruf diese Möglichkeit gibt. Manchmal werden uns diese Entscheidungen abgenommen. Nora ist 12, als sie mit ihrer Familie die Heimat verlässt, um nach Kanada auszuwandern. Für einen Nachmittag schenken die Mütter von Nora, die da noch den koreanischen Namen Na Young hat, und Hae Sung (als Erwachsener wird er von Teo Yoo gespielt), einen gemeinsamen Ausflug. Die beiden Kinder besuchen die gleiche Schule und haben weitgehend den gleichen Schulweg. Hae Sung mag Nora sehr, Nora fühlt sich in seiner Gegenwart verstanden. Dieser Nachmittag im Park soll den beiden Kindern eine Erinnerung schenken. Auch wörtlich trennen sich ihre Wege dann.

Erst Jahre später finden die beiden eher zufällig und über die sozialen Medien wieder zueinander und sind sich auch über die Kontinente hinweg so nahe, wie es nur gute Freunde mit gemeinsamer Vergangenheit sein können. Für eine Weile erzählen sie sich und damit uns in Videoschaltungen von ihrem Alltag und ihrem Leben, bis das Leben selbst sie jeweils wieder ganz in Beschlag nimmt.

Auslöser für eine Betrachtung des Daseins der gelebten und der nicht gelebten Möglichkeiten ist eine Szene, die der Film ganz an den Anfang stellt. Das Publikum nimmt sogleich die Position des außenstehenden Betrachters ein, der sich fragt, wie die drei Figuren, die gemeinsam in einer Bar in New Yorks East Village sitzen, aber sich nicht wirklich gemeinsam unterhalten, zueinanderstehen.

Nora ist hier der Mittelpunkt, die sich mit einem der Begleiter in einer Sprache unterhält, die der andere nicht versteht. Womit beide männlichen Figuren gemeint sein können. Der eine spricht Koreanisch, der andere Englisch und Beide haben rein gar nichts miteinander zu tun. Ohne Nora würden sich ihre Lebenswege nie kreuzen. Nur Nora ist ihnen beiden gemeinsam. Was hat sie also zueinander geführt? Wie stehen sie zueinander? Diese Szene hat sich in etwa so auch in Celine Songs Leben abgespielt. Sie spürte die fragenden Blicke anderer Gäste und blickte innerlich zurück, welche Fragen das sein mögen und welche Antworten die anderen finden könnten.

Die Betrachtung eines Außenstehenden kann diese Szene deuten, instinktiv begreifen, interpretieren und aufs Neue interpretieren. Celine Song, springt nach der Eröffnung 24 Jahre zurück in die Kindheit seiner Hauptfigur Nora. Doch es kann auch sein, dass wir eine Erinnerung sehen. Eine Liebesgeschichte ist Past Lives nur insofern, dass sowohl Hae Sung als auch Arthur Gefühle für Nora hegen und auch bereit sind, auf ihren Lebensweg einzugehen, sie loszulassen, um mit ihr verbunden zu bleiben.

Dabei schafft es Celine Song uns die innere Zerrissenheit einer eigentlich sehr starken Nora erfahrbar zu machen. Nora ist eine Figur, die weiß, was sie will, die zielstrebig ihren Weg geht, aber die sich dennoch fragt, was sie dabei aufgegeben hat. Past Lives spricht vielleicht besonders die an, die eine Biografie mit Brechungen haben. Aber haben wir die nicht alle?

Das Werk debütierte dieses Jahr auf dem Festival in Sundance und gehörte auf der Berlinale, wo der Film im Wettbewerb gezeigt worden ist, zu den Favoriten. Ganz sicher ist Songs Debüt ein Film, der mal an die Before-Trilogie von Richard Linklater, von der Stimmung her aber auch an In the Mood for Love von Wong Kar Wei erinnert, der bleiben wird.

Celine Song beweist ein Talent Unausgesprochenes fühlbar zu gestalten, was sie zu einer Entdeckung macht. Ihr Past Lives baut ein Geheimnis auf, weil jeder Mensch ein Geheimnis ist, vielleicht auch für sich selbst, und dieses Geheimnis nicht sofort auflöst und die Möglichkeit gibt, dieses immer wieder entschlüsseln zu wollen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Past Lives Regie: Celine Song Drehbuch: Celine Song Kamera: Shabier Kirchner Montage: Keith Fraase Musik: Chris Bear, Daniel Rossen Mit Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, Moon Seung-ah, Seung Min Yim, Ji Hye Yoon, Won Young Choi, Ahn Min-Young, Seo Yeon-Woo, Kiha Chang, Shin Hee-Chul, Jun Hyuk Park, Jack Alberts, Jane Kim, Noo Ri Song, Si Ah Jin, Yoon Seo Choi, Seung Un Hwang, Jojo T. Gibbs, Emily Cass McDonnell, Federico Rodriguez, Conrad Schott, Kristen Sieh USA 2022 105 Minuten Verleih: Studiocanal Kinostart: 17. August 2023 Festivals: Sundance 2023 / Berlinale 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Studiocanal #Sundance2023 #Berlinale2023

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Ein gläserner Kasten, keine Black Box, wird in den Innenhof einer Mietskaserne mit Seilen herabgelassen. Hier wird jetzt Herr Horn (Felix Kramer) von der Hausverwaltung residieren und für seine Eigentumswohnungen, er ist Mitinhaber in Personalunion, Werbung machen. Ein offenes Büro zusagen. Es sind die Mietparteien, die hier die Unbekannten sein sollen. Fragt sich, für wen? Der Hausverwalter, das sei jetzt schon mal erwähnt, weiß mehr über die Mieter und Mieterinnen, als man annehmen könnte. Die Mietparteien kennen sich auch untereinander recht gut. Die große Unbekannte ist also das Publikum, das nicht in diese Figuren hineingucken kann. Was wird passieren, wenn man diese Leute unter Druck setzt? Wie reagieren die Zuschauenden auf dieses Experiment, das als sozialkritischer Spielfilm daherkommt?

Das Haus soll saniert werden. Es steht im Raum, dass aus den Wohnungen Eigentumswohnungen werden. Allerdings wird der Prozess durch ein paar Parteien erschwert. Wer die aktuelle Tagespresse, besonders auch in Berlin, besonders in der Startwoche, liest, wundert sich schon über gar nichts mehr. (Der Beispiel-Link führt zu RBB24.) Es fängt so simpel wie offensichtlich an. Die stinkenden Müllkästen, die dem Bürokasten weichen mussten, werden unter die Fenster des Lehrers Erik Behr (Christian Berkel) gestellt. Der findet das nicht so toll. Er wähnt den Mieter Karsten Jung (André Szymanski) als Freund und Verbündeten in seinem Kampf um Mietrechte. Insgeheim spekuliert der jedoch auf eine bessere Eigentumswohnung. So viel sei gesagt, Bündnisse sind hinfällig, wenn es ans Eingemachte geht. Als Herr Horn, ganz unrühmlich, mit einem Eierwurf empfangen wird, fällt die Frage “wer wars?” sogleich auf den querulanten Lehrer. Der wiederum behauptet, dass das Kind einer Mietpartei in den Hof pinkelt.

Die eigentliche Handlung setzt ein, als an einem x-beliebigen Morgen eine Polizeisperre den Hauseingang versperrt. Keiner darf rein, keiner darf raus. Eine Maßnahme wird durchgeführt, von der niemand weiß, wozu diese dient und wie lange die Situation anhält. Hier sind die Figuren nicht schlauer als das Publikum. Sie wehren sich jedoch. Auf unterschiedliche Art. Dabei wird den Figuren eine Vita beigegeben, die vermittelt, warum sie sich wehren. Eine Figur, die tatsächlich in Not gerät, weil sie zu einer medizinischen Behandlung muss, wird da schnell mal aus dem Spiel genommen. Eine andere Figur gerät dafür in den Mittelpunkt und schließlich zur Identifikationsfigur für das Publikum. Nicht die Studentin, die für eine Syrerin gehalten wird, nicht der politische Aktivist aus einem diktatorischen Land. Vielmehr ist es Henrike (Louise Heyer), die gut bürgerliche Hausfrau, die endlich wieder ein Jobinterview hat, zu dem sie dringend in Persona erscheinen soll. Ihre Probleme, ihr aufmüpfiges Kind, ihre Eheprobleme sprechen eine gutbürgerliche Schicht an, die sich hier wiedererkennen darf. Obwohl Henrikes Probleme im Vergleich zum Großen und Ganzen banal und hausgemacht wirken.

Die Regisseurin Aslı Özge erzählt in ihrer schematischen Anordnung jedoch nicht vom Klassenkampf und nur bedingt von Gentrifizierung, sondern setzt Typen in eine Malen-nach-Zahlen-Handlung, die genau die, um die es geht, zurücklässt. Bereits in ihrem letzten Film, Auf einmal, behandelte sie die Themen Vorverurteilung und Misstrauen.

In Black Box misstraut jeder jedem, aber für die Ursache, den Verursacher und die teilnehmenden Figuren interessiert sich ihr Drehbuch immer weniger, je mehr Episoden sie einbringt. So weiß das Publikum ziemlich bald, dass jede Figur nur eine Rolle in dem Stück spielt. Aber schon in der Ungleichgewichtung der Figuren kippt das Konzept. Echte Probleme werden durch scheinbare Probleme verwässert. Manche Figuren werden unsympathisch, andere der Lächerlichkeit preisgegeben. Die politischen und gesellschaftlichen Themen, die uns in den letzten Jahren beschäftigt haben und weiterhin beschäftigen: die Zuwanderung, die Kriege, Corona, die Gentrifizierung, Arbeitslosigkeit, bleiben hier Stichpunkte, denen die Erzählerin nicht auf den Grund geht. Dabei, und das macht nachdenklich, sind es die belgischen Brüder Dardenne, bekannt durch ihre nüchternen, genauen Sozialbetrachtungen, deren Produktionsfirma hier mit an Bord ist.

Mittendrin also der undurchsichtige Herr Horn, der wie das Kaninchen aus dem Hut plötzlich Sprachkenntnisse zaubert, die darauf deuten, dass er an all den Fässern, die dramaturgisch geöffnet werden, sehr wohl Anteil hat, wenn nicht gar mehr. Die Figuren werden aufeinander gehetzt, jeder misstraut schließlich dem anderen. Die Polizei vor der Tür könnte ja nicht grundlos da sein, all diese Elemente lassen das Konzept zerfasern. Da dreht sich die Handlung mitunter im Kreis und wiederholt sich.

Etwas mehr Tempo, etwas mehr tatsächliche Spannung und etwas Kürzung hätten dem Stoff gutgetan. Das Konzept, die Ereignisse aus der reinen Beobachtung und nur über die Reaktionen der Figuren, zu bewerten, bleibt schwierig. So ist aber auch Henrike, die die ganze Zeit nur für das Publikum anwesend ist, die einzige Figur, die sich entwickeln darf. Die das Ganze irgendwann in Frage stellen darf. Die und darauf läuft es auch hinaus, handeln darf. Warum ausgerechnet sie, fragt man sich. Auch dieser Handlung sind Grenzen gesetzt. Schließlich ist auch eine Hausgemeinschaft nur ein Ausschnitt einer Gesellschaft, der in dieser Form in immer größeren Kreisen, das gleiche widerfährt.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Black Box Regie: Aslı Özge Drehbuch: Aslı Özge Kamera: Emre Erkmen Montage: Patricia Rommel Mit Luise Heyer, Felix Kramer, Christian Berkel, Timur Magomedgadzhiev, Manal Issa, André Szymanski, Sascha Alexander Geršak, Jonathan Berlin, Anne Ratte-Polle, Christina Harting, Ali Bulgan, Deniz Orta, Noureddine Friedrich Chamari, Noémi Besedes, Inka Friedrich, Anna Brüggemann, Hanns Zischler, Toni Traum, Andrea Dietrich, Gitta Witzel Deutschland / Belgien 2022 120 Minuten Kinostart: 10. August 2023 Verleih: Port-au-Prince Pictures Festivals: München 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #PortAuPrincePictures #München2023

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Deep Sea, im Original Shen Hai, erzählt von einem kleinen Mädchen, das mit seiner Familie auf eine Urlaubsreise auf einem Kreuzfahrtschiff geht. So viele Menschen, so ein Gedränge, so ein Getöse, so viele Impulse. Shenxiu, so heißt das Kind, fühlt sich trotzdem allein. Es könnte alles so schön sein, wenn sie nur mal etwas lächeln würde. Und hat sie nicht an diesem Tag Geburtstag?

Shenxiu ist nicht glücklich. Ihr kleiner Bruder ist der Mittelpunkt der Familie, ihre Stiefmutter und ihr Vater sind mit sich selbst beschäftigt. Shenxiu sehnt sich nach ihrer Mutter. Warum hat ihre Mutter sie verlassen?

Man sollte nicht zu viel im Vorfeld über die Geschichte erzählen. Die offensichtliche Handlung ist eine Abenteuerreise, nachdem sich das Kind plötzlich auf einem Tiefseeschiff à la Jules Verne befindet, auf dem ein quirliger Koch der Kapitän ist und allerlei Tierwesen ein Restaurant für zahlende Gäste am Laufen halten.

So bunt die Bilder sind, so vorsichtig wagt sich der chinesische Regisseur Tian Xiaopeng (sein Monkey King: Hero is Back mauserte sich einst vom Geheimtipp zum Boxoffice-Hit) an eine dunklere Deutung heran, die sich erst nach und nach offenbart. Je nach eigenen Erfahrungswerten erklärt sich vieles früher oder später. Doch einfach ist die Geschichte keineswegs. Shenxiu möchte ihre Mutter finden und immer und immer wieder entgleitet ihr der Kontakt. Da legen sich auch mehrere Erinnerungsebenen übereinander, sodass sich ihre Wahrnehmung variierend im Kontakt mit den Wesen des “Tiefsee-Restaurants” manifestiert.

Die Generation-Sektion der Berlinale, dieses Jahr das erste Mal unter der Leitung von Sebastian Markt, hat es sich noch nie leicht gemacht. Kinder und Jugendliche werden ernst genommen und mitunter kommt man ihnen mit ernsten Filmen, die äußerst herausfordernd sind. Mit Deep Sea wählte man ein schweres Thema, das vielleicht für die Kleinsten unter den Kindern überfordernd wirken könnte.

In China kam der Film bereits zum chinesischen Neujahrsfest in die Kinos. Bei uns testete der Animationsfilm, der sieben nicht einfache Jahre an Produktionsgeschichte hinter sich hat, das Wasser auf den internationalen Filmfestspielen. Bereits der an Ideen überbordende Animationsstil ist visuell eine Herausforderung. Ich empfehle, und das ist untypisch für mich, in der Tat die Synchronisation, die gelungen ist. Mit Untertiteln kann man dem visuellen Geschehen kaum folgen. Wenn man nicht gerade Mandarin beherrscht, könnten die Feinheiten in den Dialogen auch verloren gehen. Das Sujet ist auf jeden Fall sehr speziell. Auch nach der Vorführung für die Presse bildete sich sogleich eine Gruppe, die über das Thema sprechen wollte. Kinder, und nicht nur Kinder, sollte man hier nicht alleine lassen.

Visuell ist Deep Sea wunderschön. Unglaublich, was die Animation inzwischen alles kann. Tian Xiaopeng mischt Farben und Texturen, die ihre Vorbilder in der Malerei, dem Pop-Art und der chinesischen Kunst haben. Hier ist jeder Tropfen wahrnehmbar. Mal verfließen bunte Tuscheströme ineinander, mal geben winzige Perlen dem Bild Textur. Die einzelnen Bilder, wenn man sie vollständig wahrnehmen könnte, sind so detailreich, wie herzlich.

Deep Sea ist ein geradezu psychedelischer Filmtrip. Das Unterbewusste, das Ursprüngliche soll mit Reizen geflutet werden, um die innere, zerrissene Welt eines kleinen Menschen erfahrbar zu machen. Das Bunt auf Bunt, was hier durchaus auch als ermüdend und sogar repetitiv wahrgenommen werden kann, spiegelt aber gerade die Wahrnehmung, was ein Zuviel an Reizen auslösen kann und wie sich die innere Traurigkeit im Meer des scheinbar glücklichen Umfelds anfühlt. Hier wird vielleicht deutlich, was nicht für alle deutlich sein könnte. Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass der deutsche Verleih entschieden hat, den Film nur in einer 2D-Fassung in die Kinos zu bringen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Shen Hai Regie: Tian Xiaopeng Drehbuch: Tian Xiaopeng Kamera: Cheng Mazhiyuan Animation: Tian Xiaopeng Montage: Lin Aner Musik: Dou Peng Mit Tingwen Wang, Su Xin, Kuixing Teng, Yang Ting, Jing Ji, Haoran Guo, Xiaopeng Tian, Yi Dong, Taochen Fang Volksrepublik China 2022 113 Minuten Kinostart: 10. August 2023 Verleih: Leonine Festivals: Berlinale 2023 / Annecy 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Animationsfilm #Leonine #Berlinale2023

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J. Robert Oppenheimer gilt als Vater der Atombombe. Auch wenn man filmbegeistert ins Kino drängt, um Christopher Nolans neues Werk auf der größtmöglichen Leinwand zu sehen, um im Dunkel eines Saales die Explosion von Trinity, so nannte man die erste Bombe, die in Los Alamos erfolgreich als Test gezündet worden war, “heller als tausend Sonnen” das Bild ins helle Nichts ausbrechen zu sehen, ein paar Brocken Geschichtswissen sollte man mitbringen. Nolan ist für die einen der Erzähler im Rückwärtsgang (Memento), für andere der Ergründer der tiefsten Dunkelheiten im Genre der Superhelden (Batman Begins, The Dark Knight) und natürlich der Zauberer der verschachtelten Erzählstränge (Inception, Tenet).

Mit Oppenheimer bricht auch für Nolan ein neuer Abschnitt an. Als während der Pandemie die Kinos, wie so ziemlich alles, geschlossen wurden, wollten die Studios, im Fall von Tenet war das Warner Bros., auf Streaming Portale ausweichen. Nolan, ein Verfechter der Filmrezeption im Kinosaal überwarf sich mit Warner und so sind es jetzt die Universal Studios, die Oppenheimer ins Kino bringen. Die Zeiten, in denen die Studios Streaming parallel denken, ist eigentlich auch schon wieder vorbei und man könnte diesen Wechsel der Studiobeheimatung fast vergessen, wenn die amerikanischen Warner Bros. Pictures nicht bewußt ihr Zugpferd Barbie zum gleichen Starttermin angesetzt hätten. Was immer der Auslöser für dieses Kopf an Kopf-Rennen war, Filmenthusiasten nahmen die Herausforderung an. Kinos terminierten Doppelvorführungen, Fans konzipierten Filmplakate, die diese im Prinzip gegenteiligen Filmgenres derart verschmolzen, dass Barbenheimer in aller Munde ist.

Ein klein bißchen Beleidigtsein spielt auch in Oppenheimer eine entscheidende Rolle. Aber ich will der Handlung in dem Biopic nicht vorgreifen. Auch Nolan konnte sicherlich nicht ahnen, dass ein Film über die Erweiterung des Waffenarsenals, um eine Machtstellung im Weltgefüge zu demonstrieren und zu halten, derart an Aktualität gewinnt, wie es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr der Fall war. Nolan bedient sich einem Monsterwerk an Biographie. Über 20 Jahre arbeiteten der Historiker Martin J Sherwin und der Publizist Kai Bird an American Prometheus: The Trial and Tragedy of J. Robert Oppenheimer. Auf diesem Werk baut nun Christopher Nolan seine Erzählung auf und stellt damit auch die Frage nach der Verantwortung. Ohne aber hier das letzte Wort zu sprechen. Oppenheimer, der aktuelle Film, ist nur das aktuelle Kapitel in der Reihe von Filmen über die historische Figur, über die damaligen Ereignisse, über die Atombombe, das Manhattan-Projekt, über den Abwurf von Little Boy und Fat Man über Japan und über deren Folgen.

Dabei spielt Nolan wieder einmal mit mehreren Zeitebenen. Zu einem Drittel erzählt er den Werdegang von Oppenheimer, der hier von Cilian Murphy gespielt wird. Von der Langeweile im Labor führt ihn sein Weg bis nach Deutschland, wo er Heisenberg begegnet, und zurück. Oppenheimer ist dabei kein Film über die Quantenphysik oder über Wissenschaft, auch wenn hier so viele Wissenschaftler (und leider keine Wissenschaftlerin) auftauchen, dass man nur wenige von ihnen wirklich einordnen kann. Vielleicht bleibt neben Heisenberg gerade noch Albert Einstein (Tom Conti) im Gedächtnis. Heisenberg weil Matthias Schweighöfer ihn darstellt. Einstein weil die Dramaturgie hier bewußt einen Bogen wirft. Und ferner der spätere Kontrahent Ed Teller, ihn spielt der Schauspieler und Regisseur Benny Safdie, der auf die Entwicklung der Wasserstoffbombe setzt. Er gilt als “Vater der Wasserstoffbombe”, die Oppenheimer vehement ablehnte.

Nolan setzt zu einem weiteren Drittel auf den Aufbau des Manhatten-Projektes, dessen Projektleitung in militärischer Hand lag. General Leslie Groves Jr., gespielt von Matt Damon, ist zwar ein misstrauischer Hund, aber ohne die Wissenschaftler geht es halt nicht und somit kommt Oppenheimer als Leiter der Forschung zum Einsatz. Nolan spielt mehr auf das Zusammenspiel der unzähligen Akteure, die rasante Entwicklung wird gerade mal mit dem Blick auf eine Glasschale getaktet, die sich mehr und mehr mit Murmeln füllt. Die Frage, ob der Krieg nun wirklich nur mit dem Eintritt in ein nukleares Waffenzeitalter zu beenden war, ob die Mittel, die ins Manhatten-Projekt gesteckt wurden, nicht anders besser angelegt gewesen wären, als das kommt hier nicht zur Sprache. Das macht Oppenheimer quasi zum Militärfilm und eben nicht zum Wissenschaftsfilm und nur bedingt zum Politik- beziehungsweise Geschichtsfilm.

Ja, die Politik. Schon recht früh führt Nolan den dritten Handlungsstrang ein, der Oppenheimer im Verhör zeigt, weil man in ihm, auf Grund seiner Kontakte zur kommunistischen Partei, einen russischen Spion vermuten wollte. Robert Downey Jr. spielt den Politiker Lewis Strauss und drückt damit Murphy fast an die Wand. Strauss, Mitglied und später Vorsitzender der United States Atomic Energy Commission, war die maßgebliche Triebfeder, Oppenheimers Sicherheitsberechtigung zu entziehen. Als Referenz sollte man mal kurz die Suchmaschine anwerfen und nach der deutschen Fernsehproduktion In der Sache J. Robert Oppenheimer von 1964 suchen, die diese Verhöre anhand von den damaligen Protokollen, so authentisch wie nur möglich, in Szene setzte.

Ist denn nun Christopher Nolans Oppenheimer großes Kino? Unbedingt. Allerdings ist es nicht der ultimative Film im Werk des Regisseurs. Es liegt gar nicht mal an dem Zuviel an Akteuren, oder dass man auch mit guten englischen Sprachkenntnissen nicht immer alles akustisch versteht. (Was vielleicht in der deutschen Synchronisation ausgebügelt werden kann.). Nolan setzt auf 70mm Film, sogar auf Imax (wenn man denn ein Imax-Kino in der Nähe hat). Visuell ist das phänomenal, was sein Director of Photography Hoyte Van Hoytema für die Leinwand entwirft. Man möchte den Film gerne noch einmal sehen, einfach um all die hervorragenden Darsteller wirklich wahrzunehmen. Da ist es vielleicht ein Wermutstropfen, dass Nolan nun wahrlich nicht für komplexe Frauenrollen bekannt ist. Es mag Jammern auf hohem Niveau sein, doch es fällt auf, dass weibliche Errungenschaften im Feld der Kernspaltung nicht einmal Erwähnung finden. Es gibt im Umfeld Oppenheimers gerade mal zwei prominente Frauenrollen und beide verblassen hier zu Klischees. Emily Blunt spielt Oppenheimers Frau Kitty und Florence Pugh die Geliebte Jean Tatlock, die vielleicht interessant wäre, würde sie hier nicht nur als Objekt des Frauenheldes gezeichnet werden. Dieses Bild eines Frauenheldes, der zumindest für eine Einstellung mit einem noch gewaltigeren Moment, als die Explosion von Trinity, in Gedächtnis bleiben wird, fügt der gebrochenen Figur eines Wissenschaftlers, der an den Folgen seiner Forschung arbeiten muss oder sollte, nichts hinzu, sondern lenkt ab. Die Frage nach der Verantwortung, die beantwortet Nolan nicht.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oppenheimer Regie: Christopher Nolan Drehbuch: Christopher Nolan Kamera: Hoyte Van Hoytema Montage: Jennifer Lame Musik: Ludwig Göransson Mit Cillian Murphy, Emily Blunt, Robert Downey Jr., Alden Ehrenreich, Scott Grimes, Jason Clarke, Kurt Koehler, Tony Goldwyn, John Gowans, Macon Blair, James D'Arcy, Kenneth Branagh, Harry Groener, Gregory Jbara, Ted King, Tim DeKay, Steven Houska, Tom Conti, David Krumholtz, Petrie Willink, Matthias Schweighöfer, Josh Hartnett, Alex Wolff, Josh Zuckerman, Rory Keane, Florence Pugh, Sadie Stratton, Jefferson Hall, Britt Kyle, Guy Burnet, Tom Jenkins, Matthew Modine, Louise Lombard, Matt Damon, Dane DeHaan, Jack Quaid, Brett DelBuono, Benny Safdie, Gustaf Skarsgård, James Urbaniak, Rami Malek, Olivia Thirlby, Casey Affleck, James Remar, Gary Oldman USA / Großbritannien 2023 178 Minuten Verleih: Universal Kinostart: 20. Juli 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

© Eneh

Denkt man in Berlin an Uwe Johnson (1934 – 1984)... Präziser ausgedrückt, denkt man in Friedenau an Uwe Johnson, dann kommt oft direkt die Referenz an seinen berühmten Nachbar Günter Grass. Wobei: Uwe Johnson zieht im Herbst 1959 in die Niedstraße in Berlin-Friedenau. Günter Grass wiederum bezieht 1964 eine Wohnung im Nachbarhaus. Eventuell kommt dann in Gesprächen sogleich die Erinnerung an die Kommune 1 zur Sprache, die sich bei Johnson breit gemacht hatte, während Johnson in den Staaten lebte, und dass er dann Grass eine Vollmacht geschrieben hatte, damit er die Gäste, die über Gebühr sich breit gemacht hatten, hinauswerfen lasse. Das möge jetzt eine Randnotiz bleiben. In Volker Koepps Dokumentarfilm geht es zwar auch um eine Verortung, es geht sogar ganz konkret um Heimat und ein Heimatgefühl.

Aber Koepp, der aus Pommern stammt, spürt dem deutschen Schriftsteller in seiner Geburtsheimat nach. Es geht ihm um ein Gehen und um das Bleiben. Beides. Denn, es gibt einen Ort zu dem man sich, auch wenn man woanders eine Adresse hat, zugehörig fühlt. Im Fall Uwe Johnson ist das Mecklenburg. Zitat: “Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel.”

Johnsons wohl bekanntestes Werk ist der Zyklus Jahrestage, in dem er einen Bogen von der deutschen Geschichte von der Weimarer Republik bis zum Prager Frühling spannte, während die Hauptfigur Gesine Cresspahl auch im New York der 60er Jahre lebte. Johnson stammte aus Mecklenburg. Seine Eltern lebten in Anklam, nach Kriegsende zog die Familie vor der Roten Armee ausweichend in die Nähe von Güstrow, einer Kreisstadt im Landkreis Rostock. Später, als der Vater in russischer Kriegsgefangenschaft starb, wurde Güstrow der Lebensmittelpunkt. Den Studienort Rostock verlegte Johnson nach Leipzig und er ging dann nach Berlin. Mitte der 60er Jahre lebte er in New York. Viel zu früh starb er in Sheerness on Sea, in England, wo er die letzten 10 Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Volker Koepp, kam auf Uwe Johnson, als er nach einer Premiere seines Filmes Seestück, ein Buch über Geschichten von der Ostsee geschenkt bekommen hatte. Darin war auch ein Textauszug aus Jahrestage, genauer gesagt, eine Beschreibung von dem Untergang der Cap Arcona in der Lübecker Bucht 1945, an Bord Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme. Johnsons Texte, die sich gegen ein Vergessen richteten, klangen für Koepp aktueller denn je, denn eine Geschichtsvergessenheit unserer Gesellschaft lässt sich kaum mehr leugnen. Genau wie Johnson, sieht auch Koepp die Spuren eines Krieges, vieler Kriege, in dem Land der Heimat. Der Krieg, er warf einen Schatten auf die Biographie des Autors und der warf diesen Schatten nicht ab. Und so klammert Koepp in seinen Begegnungen mit dem Land und den Leuten, gedreht hatte er diese zwischen 2020 und 2022, den aktuellen Krieg in der Ukraine nicht aus. Der vollständige Filmtitel lautet darum auch Gehen und Bleiben. Uwe Johnson. Folgen des Krieges..

Koepp begegnet Menschen, die schreiben, photographieren, Filme drehen oder nichts dergleichen, die ihre eigenen Geschichten erzählen, die auch vom Gehen und vom Bleiben handeln. Sie lesen aus den Texten Uwe Johnsons vor, oder erzählen vom Ort oder der Nachbarschaft. Von Freundschaft und Verbundenheit. Vom Wegziehen und vom Zurückkehren. Koepp ist ein guter Zuhörer. Er gibt den Begegnungen auch hier keinen Rahmen, sondern einen Raum, der eigene, spannende und unvorhersehbare Akzente setzt. In diesen Begegnungen erkennt man auch Überschneidungen mit der Biographie von Johnson, der wahrnahm, was andere nicht sehen wollten, der nicht immer und oft nicht, verstanden wurde.

Damit ist Gehen und Bleiben eher ein Essay, dessen tatsächliche Lauflänge von knapp 3 Stunden, kein bißchen Länge aufweist. Das möchte ich nur betonen, falls sich jemand abgeschreckt fühlt. In Gehen und Bleiben taucht man ein wie in eine Meditation, in der die Zeit zusammenschrumpft und die innerliche Reise sich gleichzeitig ausweitet. All die kleinen Details, die Koepp einfängt, vertiefen das Gefühl der Zugehörigkeit mit einer Landschaft und den Leuten, die man aus seinem Filmwerk (z.B. Pommerland, Memelland, In Sarmatien, Landstück, Seestück) bereits zu kennen glaubt. Das Gefühl für eine Zeitgeschichte mag sich auch einstellen und ähnlich wie bei Johnson wird das Umfassende spürbar und stimmt, angesichts der Aktualität, des Krieges vor unserer Nase, nachdenklich.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Gehen und Bleiben Regie: Volker Koepp Buch: Barbara Frankenstein Kamera: Uwe Mann Montage: Christoph Krüger Mitwirkende: Stuart Roberts, Judith Zander, Erhard Siewert, Peter Kurth, Hans Jürgen Syberberg, Helga Elisabeth Syberberg, Aukje Dijkstra, Undine Spillner, Fritz Rost, Heinz Lehmbäcker, Hanna Lehmbäcker, Dietrich Sagert, Kristian Wegscheider, Christian Höser, Thomas Irmer, Uta Löber, Erdmut Wizisla, Karin Bosinski, Hartmut Bosinski Deutschland 2023 168 Minuten Verleih: Salzgeber Kinostart: 20. Juli 2023 Festivals: Berlinale 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Salzgeber #Berlinale2023

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Biografien über Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Musiker und Musikerinnen, Fotografen und sehr selten Fotografinnen, bildende Künstler und selten Künstlerinnen sind ein beliebtes Genre. Da spielt vielleicht die Neugierde eine Rolle, wer denn der Mensch hinter einem Kunstwerk ist. Oft erklären uns diese Dokumentarfilme und Dokumentationen einfach auch die Werke, ganz kompakt, so dass der Mensch vor der Leinwand nicht allzuviel mit ins Kino bringen muss, außer etwas Neugierde und Interesse.

Thomas Schütte ist Bildender Künstler, Bilderhauer, Skulpteur, Zeichner und es gibt von ihm auch Architekturmodelle. Er arbeitet mit Ton, mit Bronze und mit Glas. Der Dokumentarfilm, der auch gerade erst auf dem Dok.Fest München gezeigt worden ist, trägt, wie so oft, den Namen im Titel. Doch das Konzept wurde variiert. Entscheidend ist hier der Zusatztitel “Ich bin nicht allein”. Die Regisseurin Corinna Belz zeigt den Künstler bei seiner Arbeit. Nicht die Biografie steht im Mittelpunkt, sondern das Entstehen eines Werkes, sowohl der kreative als auch der technische Prozess. Entscheidend ist, dass hier die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den spezialisierten Werkstätten, auf die der Künstler angewiesen ist, gleichberechtigt eingebunden wurden.

Die vertrauten Mithelfenden geben durchaus Impulse und es sind die Dialoge, die Momente des Austausches, die dem Publikum einen ganz neuen Blick auf den Schaffensprozess vermitteln. Da findet sich irgendwo in den Regalen einer Werkstatt ein älteres Stück Bronze, ein Nebenprodukt, das einst nicht weg geworfen wurde. Die Werkstatt, es handelt sich um die Gießerei Kayser, kontaktiert den Künstler, man habe da was beim Aufräumen gefunden. Das kleine Modell einer zurückgelehnten Figur steht nun Modell für etwas Neues, natürlich etwas Großes. Die kleine Figur wird zu Die Nixe. Corinna Belz begleitete Schütte über einen längeren Zeitraum und so wird die Nixe zu einem roten Faden.

Corinna Belz, ihr letzter Film machte einen Abstecher In die Uffizien, hat ein feines Gespür für das Künstlerische. Sie kommt von der Philosophie und Kunstgeschichte und hat darüber hinaus auch Germanistik und Medienwissenschaft studiert. Bereits 2007, in ihrem ersten Film hatte sie sich einem Werk, dem Kölner Domfenster, von Gerhard Richter gewidmet. Ihr Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting (2011) gilt als der Film über Richter. Der Sprung von Richter zu Schütte ist so groß nicht. Immerhin war Schütte Meisterschüler von, unter anderem, Richter. Belz nimmt Schütte quasi auf einen Spaziergang durch sein Werk mit. Allerlei Anekdoten gibt es dabei als Dreingabe. Schütte, der doch als Alleingänger gilt, wirkt hier aufgeschlossen und humorvoll. Er lässt sich auch auf die neuen digitalen Hilfsmittel ein, und wenn mal etwas schief geht, nutzt er den Zufall als Chance.

Thomas Schütte – Ich bin nicht allein zeigt den Schaffensprozess aus neuen Blickwinkeln. Nicht alles wird erklärt, Belz ist für ihre Neugierde bekannte und weiß diese auch zu vermitteln. Sie zeigt Kunst und künstlerisches Wirken als etwas, und auch dafür hat Schütte eine Anekdote, zu dem wir alle Zugang finden können.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Thomas Schütte – Ich bin nicht allein Regie: Corinna Belz Konzept: Corinna Belz Kamera: David Wesemann, Julia Katinka Cramer Montage: Rudi Heinen Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas Mitwirkende: Thomas Schütte, Peter Freeman, Lluïsa Sàrries Zgonc, Paulina Pobocha, Rolf Kayser, Robert Fischer, Rupert Huber, Niels Dietrich, Heide Jansen, Bernd Kastner, Pietro Sparta, Dieter Schwarz, Antonio Berengo, Nicola Causin, Andrea Salvagno, Sergej Natokin, Gazmend Lipa, Wilson Amer Mati, Sascha Ruf, Sergej Tichanow Deutschland 2022 94 Minuten Verleih: Real Fiction Kinostart: 29. Juni 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction #DokFestMünchen2023

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Der Titel bezieht sich auf eine Hausnummer. Ein Haus, ein Zuhause. Was gehört zu einem Zuhause? Familie, Kinder, Liebe. Die Regisseurin A.V. Rockwell, die 2018 mit ihrem Kurzfilm “Feathers” auf sich aufmerksam machte, erzählt in ihrem Langspielfilmdebüt von einer Mutter und ihrem Sohn. Dabei umspannt sie eine Zeit der Umbrüche.

New York City ist hier nicht nur Handlungsort, sondern Hauptdarsteller oder auch Gegenspieler. Die Entwicklung der Stadt läuft nebenher. Aus den Nachrichten erfahren wir, woran sich ein älteres Publikum vielleicht nur noch dunkel erinnert und was hier wahrhaftig an die Oberfläche drängt. Rudy Giuliani, Bürgermeister von New York City von 1994 bis 2001, war ein Verfechter der Law-and-Order-Politik, er räumte sozusagen auf. Die Kriminalität sollte mit Nulltoleranzmaßnahmen gedrückt werden. Während sich Teile der Bevölkerung sicherlich sicherer fühlten ob der Maßnahmen, waren andere Bevölkerungsgruppen, besonders auch in Harlem, wo Rockwell ihre Geschichte verortet, verstärkt Polizeigewalt ausgesetzt. Verschärft wurde die systematische Gewalt besonders gegen die Gruppen der Afroamerikaner und Latinos unter Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg.

“A Thousand and One” begleitet Inez, gespielt von der Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin Teyana Taylor, aus dem Knast in ein Leben der Chancenlosigkeit. Zu viele Details sollen hier gar nicht aufgeschlüsselt werden.

Rockwell stellte ihren Film dieses Jahr in Sundance als Weltpremiere vor und gewann prompt den Grand Jury Prize, den Hauptpreis in der Dramatic Sektion. Nicht nur wählte sie eine relevante Geschichte, sondern sie legte den Finger in eine alte Wunde, ohne gleichzeitig den Zeigefinger zu heben. Sie entwickelte ein Porträt, dass während viele Filme idealisierte Figuren und Situationen verhandeln, ohne falsche Töne von wahrhaftigen Figuren erzählt, deren Probleme wirklich Probleme sind. Dabei hält sie sich mit Wertungen zurück und entwickelt die Figuren aus sich heraus. Ihr Debüt ist ein Zeitporträt einer Stadt und ihren abgedrängten Bewohnern, die sich durch alltägliche Schikanen und Gentrifizierung ihres Zuhauses nie sicher sein konnten.

Inez steht vor dem Nichts. Aus diesem Nichts baut ihre Figur etwas auf. Obwohl das Leben ihr Steine in den Weg legt, obwohl Giulianis Stadtpläne mehr und mehr Menschen wie sie ins Abseits drängt.

Zuerst ist Inez auf der Suche nach Terry (Aaron Kingsley Adetola, später Aven Courtney und Josiah Cross), ihrem sechsjährigen Jungen, der in einer Pflegefamilie untergebracht ist, die ihm keine Familie sein will und kann. Als der Junge nach einem Unfall im Krankenhaus landet, entführt sie ihn von der Station und damit beginnt die eigentliche Handlung dieses Familienporträts. Die Entführung selbst ist ganz klar eine Straftat. Niemand interessiert sich aber für den Verbleib eines schwarzen Jungen. Allerdings sind die Konsequenzen einer Biographie unter dem Radar enorm. Was das Kind nicht abschätzen kann, ist Inez durchaus bewusst. Sie stellt jedoch die Fürsorge für das Kind ihren Bedürfnissen voran, bis ihr Wille, es gut zu machen, alles wieder in Frage stellt.

Einfach ist es nicht für sie. Natürlich nicht. Sie hatte selbst nie eine Familie. Die Fürsorge muss sie erst lernen. Umso resoluter kämpft sie für das Heranwachsen eines Kindes, dem sie die bestmögliche Bildung zukommen lassen möchte, als auch für ihr persönliches Glück und ihre Vorstellung von Familie, welches sie vielleicht bei Lucky (William Catlett) findet, der bei ihr einzieht und auch bereit ist, zu einer Vaterfigur zu wachsen. Rockwell findet einen fast dokumentarischen Blick auf die Stadt. Mit jedem Zeitsprung, mit dem sie ihre Figuren zuerst Mitte der 90er Jahre bis in die 2000er immer wieder einfängt, hat sich auch die Stadt weiterentwickelt. Rockwell stellt ihre Figuren geradezu in Opposition mit dieser Entwicklung. Das Leben dieser Figuren ist ein Leben trotz der Entwicklung, im täglichen Kampf gegen den systematischen Rassismus und einer Politik, die ihresgleichen aus der Stadt und der Stadtplanung eliminieren will. Gleichzeitig ist “A Thousand and One” trotzdem eine Liebeserklärung an New York City, eben nur ohne eine falsche Glorifizierung.

Die Erzählung von Inez, Lucky und Terry ist eine von 1001er Geschichten, die um ihre Existenz und um ihre Würde kämpfen. “A Thousand and One” ist ein großartiges, facettenreiches Debüt, A.V. Rockwell eine Entdeckung.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: A Thousand and One Regie: A.V. Rockwell Drehbuch: A.V. Rockwell Kamera: Eric K. Yue Schnitt: Sabine Hoffman, Kristan Sprague Musik: Gary Gunn Mit Teyana Taylor, Aaron Kingsley Adetola, Aven Courtney, Josiah Cross, William Catlett, Terri Abney, Delissa Reynolds, Amelia Workman, Adriane Lenox, Gavin Schlosser, Jolly Swag, Azza El, Alicia Pilgrim, Jennean Farmer, Kal-El White, Jamier Williams, Naya Desir-Johnson, Mychelle Dangerfield, John Maria Gutierrez, Artrece Johnson, Mark Gessner, Tara Pacheco USA 2022 117 Minuten Verleih: Universal Kinostart: 18. Mai 2023 Festivals: Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

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Die Brautentführung, unter diesem Titel lief El secuestro de la novia auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Perspektive Deutsches Kino. Es ist die Geschichte von einem jungen, glücklichen Paar, das unter die Räder der “Traditionen” kommt. Sie, Luisa (Rai Todoroff), ist Argentinierin. Er, Fred (David Bruning), ist Deutscher. Ich präzisiere: Er stammt aus Brandenburg. Hier in Brandenburg leben die Beiden auch. Beide sind sehr aufgeschlossen. Ihre Beziehung begreifen sie auch als Spiel. Selbst Gendertausch ist für sie ein Weg, sich und einander näherzukommen. Sie haben da keine Berührungsängste. Wenn es da nicht die Angehörigen und die kulturellen Unterschiede geben würde.

Sophia Mocorrea, die Regisseurin, ist Deutsch-Argentinierin. El secuestro de la novia ist ihr Abschlußfilm an der Filmuniversität Babelsberg. Die Berlinale war gar nicht der Uraufführungsort. Ihr mittellanger Film wurde vom Festival in Sundance, das kurz vor der Berlinale stattfindet, eingeladen und gewann dort prompt in der Sektion internationaler Kurzfilm den Hauptpreis. 30 Minuten ist der Film lang. Die Länge ist kein Kriterium. Es gehört einiges dazu, zu wissen, wann ein Stoff rund und auserzählt ist.

Luisa und Fred feiern also Hochzeit. In Brandenburg. Ihre Eltern reisen an, seine Eltern haben die Oberhand. Und gute Ratschläge, die sie mit nicht sehr subtilen Druck an das Paar geben. Der Gipfel der Übergriffigkeit ist jedoch die Titel gebende Brautentführung. “Tradition”, da “müsse sie schon mitspielen”. Mitten in der Hochzeitsfeier wird sie also von der Provinzpolizei verhaftet und aufs Revier zum Verhör gebracht. Die Anklage lautet auf Erregung öffentlichen Ärgernisses. Kein Schenkelklopfen, eher Sprachlosigkeit sollte beim Publikum einsetzen. Jeder Satz sitzt. Die Dialoge entlarven den xenophoben Provinzialismus. Die Frauenfeindlichkeit ist evident. Während Luisa zuerst irritiert ist, dann gute Miene zum strunzdummen Spiel macht, breitet sich die toxische Stimmung immer mehr aus.

El secuestro de la novia ist eine Komödie. Nicht ohne Humor führt Sophia Mocorrea überkommende Rollenbilder und gestrige Sitten vor und zeigt, dass auf vergifteten Boden keine gleichberechtigte Liebe gedeihen kann.

Eneh

Mittellanger Spielfilm Originaltitel: El secuestro de la novia Regie: Sophia Mocorrea Drehbuch: Sophia Mocorrea Kamera: Jacob Sauermilch Schnitt: Jannik Eckenstaler, Sofia Angelina Machado Musik: Luca de Michieli, Linus Rogsch Mit Rai Todoroff, David Bruning, Anne Kulbatzki, Tatiana Saphir, Patricia Pilgrim, Daniel Wendler, Leon Dima Villanueva, Aroha Almagro Davies, Andreas Rogsch, Michaela Winterstein, Niels Bormann, Jeannette Urzendowsky, Alina Renk, Sigrun Gietzke, Julian Müller, Richard Kretschmar Deutschland 2022 30 Minuten Festivals: Sundance 2023, Berlinale 2023, Achtung Berlin 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Kurzfilm #Studentenfilm #Berlinale2023

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Das Leben ist manchmal eine Abfolge von miesen Entscheidungen. Es gehen einem die Spielzüge aus. Egal, wohin man seine Figur zieht, man landet in einer Ecke. Man kann nur noch reagieren, aber man ist nicht mehr frei in seinen Entscheidungen.

Irina, gespielt von Vita Smačeljuk, ist in Victim eine Spielfigur, die in einer Gesellschaft, die von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit und Korruption bestimmt wird, das Richtige tun will. Die Geschichte, die der Regisseur Michal Blaško erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. Sein erster Langspielfilm debütierte in Venedig, wurde auf Festivals sowohl in Hamburg als auch in Cottbus aufgeführt und schließlich schickte die Slowakei den Film ins Oscarrennen um den besten internationalen Titel.

Irina, alleinerziehende Mutter, ist mit ihrem Sohn aus der Ukraine in eine tschechische Kleinstadt gezogen. Wir erinnern uns, bereits vor 2022 gab es in der Ukraine Krieg. Sie versucht nun für sich und Igor (Gleb Kuchuk) eine Existenz aufzubauen. Auf den ersten Blick wirkt ihr Leben in dieser Fremde trist und prekär. Blaško beschönigt hier nichts. Er zeigt eine Welt, in der Armut auch wirklich Armut meint. In der halb verrottete Panelwohnungen genau das sind. Wo an den Rändern der Stadt die Zurückgelassenen, die Ausländer und die Roma leben.

“Victim” heißt “Opfer”, aber der Begriff kann für vielerlei stehen. Irina ist bereits in der ersten Szene in einer unverschuldet schwierigen Lage. Sie war in die alte Heimat gereist, um Unterlagen für die Behörden zu holen. Nun blieb ihr Bus an der Grenze hängen, weil ein anderer Bus liegen geblieben ist. So etwas kann Stunden dauern, die hat sie nicht. Scheinbar ist Igor, der Sohn, 13 Jahre alt und auf dem Weg ein Spitzensportler zu werden, Opfer eines Überfalls geworden. Er wurde übelst verletzt und liegt nun auf einer Intensivstation. Irina will also so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Bereits hier wird deutlich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten sind und wie äußere Umstände eine Figur behindern.

Igor liegt erst einmal im Koma. Die Ermittlungen laufen. Bevor die Polizei Informationen mit der geschockten Mutter teilt, soll sie ihren Aufenthaltsstatus belegen. Was sie wissen ist, dass Nachbarn bemerkt haben wollen, wie jemand weg gelaufen ist. Igor, als er aufwacht, benennt drei Roma-Jungen als Täter. Für die Polizei steht fest, dass diese aus der Nachbarschaft kommen. Die Nachbarn reagieren feindlich. Hier ist eine Randgruppe der anderen nicht wohl gesonnen. Irina spürt, dass die Hilfe und Solidarität, die sie auf einen Schlag erfährt, sich explizit gegen die Roma richtet.

Wer den Film ohne jede Kenntnis der Handlung und Entwicklung sehen möchte, sollte hier mit dem Lesen abbrechen. Der Regisseur behandelt jedoch keinen Kriminalfall, sondern eine moralische Parabel. Er weiht das Publikum in das, was wirklich geschehen ist, ein. Er macht das Publikum jedoch nicht zum Verbündeten, sondern schickt es durch eine Zwangslage nach der anderen. Irina ist die Figur, dessen Integrität zur Disposition steht und es gibt keinen Ausweg. Darum teilt die Handlung Igors Geheimnis mit der Mutter und dem Publikum. Seine Verletzungen sind so gravierend wie echt, aber er hat sie sich selbst zuzuschreiben. Es gab keine Täter. Als Irena dies erfährt, hat sich bereits eine Handlungskette in Gang gesetzt, in der ein Zurückziehen der Anzeige gegen unbekannt, keine Option mehr ist.

Nicht nur ihre Staatsbürgerschaftsprüfung steht auf der Kippe. Die Politik war sogleich bei Fuß und witterte die Möglichkeit zum Stimmenfang. Die Bürgermeisterin versprach ihr eine Neubauwohnung und die Sportkameraden des Jungen wollen sogleich eine Demonstration organisieren, um auf Missstände hinzuweisen. Irina weiß und das Publikum weiß, dass sowohl die eine als auch die andere Seite kein sauberes Spiel spielt. Irina muss jedem Versuch der Manipulation ausweichen und kann es doch nicht. Egal, was sie tut, und wenn es das vermutlich Richtige ist, ist eine Entscheidung unter dem Druck von außen.

Die erstarkende Rechte wittert ihre Chance, die Roma für alles verantwortlich zu machen. Die korrupte Politik will sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Die Beschuldigten stecken in einer sie unterdrückenden Justiz fest, die Ergebnisse feiern will, unabhängig davon, dass es keine Ermittlungsergebnisse gibt. Michal Blaško, der das Drehbuch zusammen mit Jakub Medvecký schrieb, arbeitet mit subtilen Hinweisen und knüpft ein realistisches Bild von den komplexen Strukturen unter denen die Mutter nicht nur für ein Leben ohne Lügen kämpft, sondern auch noch für ihren Sohn eine Zukunft sichern will.

Der Verleih Rapid Eye Movies hat “Victim” passend zum Internationalen Roma-Tag am 8. April, der auf deren Verfolgung und Diskriminierung aufmerksam machen will, in dieser Woche ins Kino gebracht. Die gesellschaftlichen und politischen Missstände, die “Victim” behandelt, könnten nicht aktueller sein.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oběť Regie: Michal Blaško Drehbuch: Michal Blaško, Jakub Medvecký Kamera: Adam Mach Montage: Petr Hasalík Mit Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil, Inna Zhulina, Alena Mihulová Slowakei / Tschechien / Deutschland 2022 91 Minuten Verleih: Rapid Eye Movies Kinostart: 6. April 2023 Festivals: Venedig 2022 / Hamburg 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #RapidEyeMovies

© Eneh