Cineneh

Filmjahr2023

Die Farbe des Gewandes, der Duft der Mandarinen, das Dunkel der Werkstatt der Dampf im Waschhaus, die Melodie der Straße. Das Blau des Kaftans der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani spricht unsere Sinne an, wir trinken von dem Blau, wir riechen das Orange, wir hören das Leben und all das zusammen berührt unser Herz.

Etwas aus der Zeit gefallen ist die kleine Schneiderei in einer der vielen Gassen Casablancas. Halim (Saleh Bakri) hat sein Handwerk noch von seinem Vater gelernt. Vielleicht war die Entscheidung, die Werkstatt zu übernehmen, nicht sein Herzenswunsch. Seinem Herzenswunsch kann er sowieso nicht immer folgen. Zusammen mit seiner Frau Mina (Lubna Azabal), die beiden sind kinderlos geblieben, versucht er nun einen Nachfolger für ein Gewerk zu finden, das scheinbar niemand mehr braucht. Bei ihm wird noch mit der Hand genäht und gestickt. Stolz spielt damit hinein, vielmehr hat man nicht. Schon so mancher Lehrling hat bei Halim und Mina schnell das Weite gesucht. Nicht so Youssef (Ayoub Missioui), er begreift die Sinnlichkeit, die in der Bewegung der Hände liegt.

Der blaue Kaftan, ein besonders edles und teures Stück, ist der rote Faden, der uns durch die Handlung führt, eine Lebensschnur. Geduldig arbeitet der Meister an dem Stück. Für eine reiche, schnippische Kundin, die den Preis nur zu zahlen bereit ist, weil das gute Stück ein Statussymbol sein soll. Die fordernde, vermeintlich fortschrittliche Kundschaft steht für das Morgen, das jedoch an den Regeln der rückständigen Gesellschaft und deren Ächtungen festhält. Halim lebt ein Doppelleben. Nicht aus freien Stücken. Was sein Herz begehrt, gilt faktisch als kriminell. Für diese Gesellschaft wäre er ein Ausgestoßener. Er liebt seine Frau und zeigt ihr das auch mit kleinen Gesten. Um sie nicht zu verletzen, nimmt er Rücksicht, versagt sich die kleinste Regung, wenn es den jungen Lehrling betrifft.

Maryam Touzani, die mit ihrem Debüt Adam, in der eine Bäckerin eine schwangere Frau aufnimmt, bereits ihren Stil gefunden hat, in dem sie die Entwicklung der Figuren sensorisch vermittelt und das Bild nach und nach öffnet, erzählt dieses Mal nicht von der Mutterschaft, sondern von der Liebe in all ihren Schattierungen.

Das Blau des Kaftans brachte sie, wie bereits Adam, nach Cannes, nach Karlovy Vary, nach Hamburg und Zürich, bis nach Toronto und Rotterdam. Ihr Blick ist dabei ein zurückhaltender, sie zeigt nicht alles. Sie gibt den Figuren Würde und Dauer. Die Liebe ist dabei das Hauptthema. Liebe ist Hingabe und Aufopferung, Liebe ist fest in sich ruhen und los lassen können. Mina, nicht frei von Eifersucht, kennt ihren Mann gut. Das Leben entgleitet ihr zunehmend und sie muss die Zeit nutzen, die in den sorgfältigen Stichen der nähenden Hand schier im Stillstand zu verharren scheint. Und er, der sich hin und her gezogen fühlt, die Arbeit gibt ihm Sinn und Halt, muss sie, die geliebte Lebensgefährtin ebenso los lassen. Die Liebe zu der Arbeit, mit geduldig feinen Stichen etwas zum Leben zu erwecken, ist dabei die Liebe, die Halim offen ausleben kann, die die drei Figuren und ihre Beziehung zu einander bindet und formt.

Das Blau des Kaftans, übrigens Marokkos Einreichung für den internationalen Oscar, ist keine Romanze. Romanzen sind wild und stürmisch. Ein Gefühl der ersten Begegnung und mit all der Unvernunft, die damit einher geht. Dieses Drama spielt sich still und leise im Verborgenen ab. Die wenigen Kunden, die die kleine Näherei noch hat, sind ungeduldig und oberflächlich. Touzani spricht die an, die geduldig auf die Sprache der Herzen reagieren und wahrnehmen, für was ein blauer Stoff steht und wie der Duft der Mandarinen die Welt bedeuten kann. Wie die Musik aus der Nachbarschaft für die Freude steht. Das Leben, das Halim trotzig in seiner Trauer feiert. Als Antwort auf das alles, was ihm und auch den anderen Figuren versagt wird. Das Blau des Kaftans ist zart. Der Stillstand, in dem sich Halim befindet, mag eine Herausforderung sein. Dabei ist das Titel gebende Stück Bild der Beständigkeit und eine Bestätigung, für alles, was sein kann.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Le bleu du caftan Regie: Maryam Touzani Drehbuch: Maryam Touzani, Nabil Ayouch Kamera: Virginie Surdej Montage: Nicolas Rumpl Musik: Kristian Eidnes Andersen Mit Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui, Mounia Lamkimel, Abdelhamid Zoughi, Zakaria Atifi, Fatima Hilal, Mariam Lalouaz, Kholoud El Ouehabi, Amira Tiouli, Hanaa Laidi, Aymane El Oarrari, Ilyass El Ouahdani, Fouzia Ejjawi, Mohamed Naimane, Mohamed Tahri Joutey Hassani Frankreich / Marokko / Belgien / Dänemark 2022 124 Minuten Kinostart: 16. März 2023 Verleih: Arsenal Film Festivals: Cannes 2022 / Karlovy Vary 2022 / Toronto 2022 / Hamburg 2022 / Rotterdam 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #ArsenalFilm #Cannes2022

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19 Filme konkurrierten um den goldenen Bären. Im Wettbewerb gab es 18 Spielfilme und einen Dokumentarfilm. “Sur l'Adamant” wurde relativ spät im Festivalverlauf angesetzt. Viele hatten da bereits ein, zwei oder sogar drei Favoriten in der eigenen Auswahl. Die sanfte und durchweg positiv gestimmte Beobachtung über die Arbeit in einer psychiatrischen Tagesklinik in Paris hatte wohl kaum jemand als Frontrunner betrachtet. Konnte sich die internationale Jury auf keinen der Spielfilme einigen?

Das Leben schreibt bekanntlich die besten Geschichten. Das wahre Leben, noch dazu mit prägnanten und spannenden Figuren, der Ansatz einen Blick auf das unverstellte Echte zu blicken, ist in unserer schwierigen Zeit scheinbar relevanter als eine künstlerische Umsetzung einer Interpretation derselben. Doch blickt Nicolas Philiberts Kamera nur scheinbar auf das, was ist. “Sur l'Adament” ist ein rundum wohlfühlender Film auf etwas, was eher nicht wohlfühlend ist und somit leider voller blinder Flecke.

Nicolas Philiberts vielleicht bekanntester Film ist von 2001. In “Sein und Haben” betrachtete er eine kleine Dorfschule, in der die Kinder aller Altersgruppen in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet werden. Damals konnte dieser den Europäischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm gewinnen. Auf der Berlinale trat Philibert zuletzt 2013 mit “La Maison de la Radio”, einer Betrachtung des Senders Radio France an. Nun also ein von der Gesellschaft ausgegrenztes Thema.

Die L'Adamant ist ein fest angelegtes Boot auf der Seine in Paris. Architektonisch wirkt die Klinik durch die Verwendung von Holz warm und einladend und von den rundum aufklappenden Fensterblöcken ist ein freier, durchlässiger Blick nach außen möglich. Psychiatrie stellt man sich gewöhnlich anders vor. Allerdings ist die Tagesklinik, die erst 2019 vom Büro Seine Design auch unter Einbindung seiner Nutzer konzipiert wurde, Teil der Paris Central Psychiatric Group. Die Tagesklinik richtet sich auch nur an Patienten und Patientinnen aus den ersten vier, also den umliegenden 4 Arrondissements. Keineswegs an Besucher aus den entfernteren und wohlmöglich ärmeren Bezirken.

Aber um Architektur geht es hier ja nicht und auch nicht um eine gesellschaftliche Einordnung. Um die Probleme in der Psychiatrie und ihren Methoden der Behandlungsfindung geht es aber auch nicht. Aus den Erzählungen der Mitwirkenden, kann man durchaus einen priveligierten Hintergrund herauslesen. Ein Vergleich mit anderen Kliniken bleibt jedoch auch aus.

Die L'Adamant ermöglicht vorrangig Workshops, in denen sich die Patienten und Patientinnen malerisch und musikalisch und überhaupt künstlerisch ausprobieren können. Dass sie dazu bereits die Voraussetzungen mitbringen, merkt man recht bald und schon in der ersten Szene, als ein Patient (leider blendet das Presseheft die Namen der Mitwirkenden aus, als würden sie eine anonyme Gruppe bilden) den Song “La bombe humaine” der französischen Rockformation »Téléphone« schmettert. In einem deutschen Film hätte man vielleicht einen Song von der Band »Ton Steine Scherben« genommen. Das wäre vergleichbar. Eindruck macht auch, dass gleich mal ein Filmfest geplant wird, denn es gibt einen festen Filmclub.

Wer darf nun eigentlich hier täglich oder regelmäßig dabei sein? Wer wird abgewiesen? “Sur l'Adamant” blendet sowohl den Alltag, als auch Probleme aus. Nur einmal kommt es zu einem Riss in der schönen Fassade, als eine Patientin einen Tanzkurs vorschlägt und, weil sie Tänzerin war, den Kurs auch gleich selbst halten möchte. Das wiederum ist nicht vorgesehen. Sanft wird dieser Vorschlag erst einmal geparkt. Ob nun die Anwesenheit der Kamera Einfluss hatte oder ob es grundsätzlich keine Reibungen gibt, wer weiß das schon. Die Arbeit auf der L'Adamant ist durchaus eine erfolgreiche, könnte man meinen. Aber man fragt sich schon, wie mit Kranken verfahren wird, die im Sinne der Gruppe nicht hineinpassen. Man fragt sich, wie Medikamentenpläne erstellt und kontrolliert werden. Von dieser Seite der Arbeit zeigt Philibert nichts.

Dabei hat Philibert bereits Mitte der 90er mit “La Moindre des choses” einen Film über eine psychiatrische Klinik, der La Borde Clinic, gedreht. Eine gewisse Furcht, die Mitwirkenden bloßzustellen, hatte er offensichtlich schon. Zumindest konnte er im kleinen Team arbeiten.

Philibert führte auch die Kamera, ab und an hatte er aber noch jemanden an seiner Seite. Die Mitwirkenden kannten seine Filme, auch das war ein Pluspunkt. Sie redeten offen mit ihm, Gespräche gibt es zuhauf. Sie erzählen von ihrer Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung der Außenwelt und der Diskrepanz.

Doch die Kamera kann die Aufgabe, psychische Krankheiten für ein Publikum erfahrbarer machen, nicht einlösen. Die Mitwirkenden bleiben auf Distanz. Zu fragmentarisch erleben wir ihren Alltag. Die Szenen konzentrieren sich immer wieder auf die Workshops und auf die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die dann zum Teil doch gebremst werden.

Ein Limit an Möglichkeiten für diesen Tagesalltag wird deutlich, wenn man genau hinschaut. Hinterfragt werden diese Grenzen nicht. Hinterfragt und eingeordnet wird hier gar nichts. Die ruhige, respektvolle Umsetzung ist dann doch sich selbst im Weg und liefert letztendlich ein mittelprächtiges Feel-Good-Movie, dass kein bisschen innovativ ist. Von einem goldenen Bären erwartet man eigentlich neue Akzente und man fragt sich, ob man diesem Dokumentarfilm mit der Auszeichnung nicht einen Bärendienst erwiesen hat.

Eneh

Originaltitel: Sur l'Adament Dokumentarfilm Regie: Nicolas Philibert Mitwirkende: Mamadi Barri, Walid Benziane, Sabine Berlière, Romain Bernardin, Jean-Paul Hazan, Pauline Hertz, Frédéric Prieur, Muriel Thourond, Sébastien Tournayre Frankreich / Japan 2022 109 Minuten Verleih: Grandfilm Kinostart: 14. September 2023 zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Grandfilm #Berlinale2023

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Pietro ist 11 Jahre alt, als er mit seinen Eltern den Sommer in den Bergen verbringt. Kinder leben dort gar keine mehr. Nur Bruno ist im gleichen Alter. Die Buben freunden sich an, nachdem Pietros Eltern die beiden zusammenbringen. Ihre Freundschaft wird ein Leben lang halten. Ihre Freundschaft ist eine, die auch lange Zeiten der Trennung überdauert.

Die Geschichte nach der Vorlage des gleichnamigen Romans von Paolo Cognetti erzählt von den Wendepunkten im Leben von zwei Kindern bis hinein in ihre Lebensmitte. Dabei verlaufen die Entwicklungen dieser Zwei teils parallel zu einander. Teils gehen beide Figuren ihren ganz eigenen, konträren Weg. Immer aber beeinflusst das Leben des einen das des anderen.

Pietro (Lupo Barbiero spielt das Kind, Andrea Palma den Jugendlichen und Luca Marinelli den Erwachsenen) ist ein Stadtkind. Auf den Wiesen und zwischen den Bergen blüht er auf. Die Natur sieht er als Gegenstück zur hektischen, luftverschmutzten Stadt an.

Bruno (Cristiano Sassella spielt den 11-jährigen, Francesco Palombelli den Heranwachsenden und Alessandro Borghi den Älteren) kennt nichts als die Berge. Schon von klein an muss er auf der Alm mit anpacken. Die Freundschaft der Beiden ist vollkommen und vollkommen unschuldig. Ein Riss tut sich auf, als sich die Eltern von Pietro darum bemühen, Bruno die gleichen Möglichkeiten zu geben, die ihr eigener Sohn hat. Sie würden ihn aufnehmen, mit in die Stadt holen, damit er dort zur Schule gehen kann. Pietro fühlt instinktiv, dass Bruno in der Stadt nicht mehr derselbe wäre. So als würde ihn die Stadt verderben. Dazu kommt es nicht. Das Verantwortungsgefühl der Eltern für den zweiten Jungen ist das eine. Aber ist es die richtige Entscheidung? Ist Pietro egoistisch, wenn er sich sträubt? Zumindest diese Entscheidung wird von jemand ganz anderem getroffen werden. Die Wege der Beiden trennt sich daraufhin auf viele Jahre.

Es ist Pietro, der diese Geschichte erzählt. Pietro, der seinen Platz im Leben nicht findet. Zu einem Zeitpunkt der Trauer begegnet er Bruno wieder und ihre Freundschaft ist jetzt eine andere. Gemeinsam bauen sie in den Bergen eine Hütte, die für viele Jahre ihr gemeinsamer Ort der Begegnung wird. Dieser Ort in den Bergen ist die Konstante des Spielfilmes von Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch. Van Groeningen hatte mit The Broken Circle seinen internationalen Durchbruch. Und auch Acht Berge hält Tragik und Melodram bereit. Während Pietro hinaus in die Welt zieht, immer auf der Suche, immerzu rastlos, bleibt Bruno an dem einen Ort, wo seine Kindheit ihn verankert hat. Er will weder irgendwo anders sein, noch sich auf neue Begebenheiten einlassen.

Was ist nun der bessere Lebensweg? Veränderung oder Verharren? Was verliert man, wenn man sich für das eine, was, wenn man sich für das andere entscheidet? Indem das Publikum beide Lebenswege parallel verfolgt, kann es beide Seelen erfühlen. Dass das Leben viel Schmerz bereit hält, versteht sich dabei von selbst.

Die Wendungen, die Eckpunkte sollen gar nicht verraten werden. Leicht könnte man Acht Berge auf die Beziehung der zwei Kinder bzw. Männer reduzieren. Das jährliche Zusammentreffen von zwei im Wesen so wortkargen Männern am immer selben Ort in der Wildnis weckt vielleicht auch Assoziationen zu anderen Filmen. Acht Berge lockt mit wunderschönen Naturaufnahmen und hält im Tempo immer wieder inne, verlangsamt sich, wartet und trottet dann weiter. Aber vielleicht will die Geschichte uns auch nur die Möglichkeit geben, darüber nachzudenken, wie sehr uns die, die uns nahe stehen auf unserem Weg beeinflussen und wie sehr wir ihre Geschichte mittragen auf unserem Lebensweg.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Le otto montagne Regie: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch Drehbuch: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch Vorlage: Paolo Cognetti Kamera: Ruben Impens Montage: Nico Leunen Musik: Daniel Norgren Mit Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Filippo Timi, Elena Lietti, Elisabetta Mazzullo, Cristiano Sassella, Lupo Barbiero, Andrea Palma, Francesco Palombelli, Surakshya Panta Italien / Belgien / Frankreich 2022 147 Minuten Kinostart: 12. Januar 2023 Verleih: DCM Festivals: Cannes 2022 / München 2022 / Around the World in 14 Films 2022 / Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #DCM #Cannes2022 #München2022 AroundtheWorldin14Films2022 #Sundance2023

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Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine Geschichte über das abrupte Ende einer Freundschaft. Banshees sind mythologische Wesen, weibliche Geister aus der “Anderswelt”, einer Welt, die für Menschen nicht sichtbar ist. Sie klagen und wenn sie erscheinen, zumindest im irischen Volksglauben, kündigt sich ein Tod an. Wer das Klagen der Banshees vernimmt, gerät nahe des Wahnsinns.

Pádraic Súilleabháin, gespielt von Colin Farrell, ist ein einfacher Mann und sicherlich nicht der hellste. Ihm genügt sein Leben auf der abgelegenen, fiktiven Insel Inisherin, er hat keine Ambitionen. Er arbeitet selbstständig in der Landwirtschaft und verbringt seine freie Zeit in der Wirtschaft. In der Regel und bisher traf er dort immer auf seinen besten Freund Colm Doherty (Brendan Gleeson). Es ist der 1. April als ihm Colm zuerst wortlos die Freundschaft aufkündet. Kein Aprilscherz, es ist Colm bitterernst und Pádric befällt immer mehr der Wahnsinn, weil er diese Entscheidung nicht versteht und folglich auch nicht akzeptiert und schon gar nicht respektiert.

“The Banshees of Inisherin” von Martin McDonagh ist keine Fortsetzung von “In Bruges” (“Brügge sehen… und sterben?”), auch wenn der irische Regisseur und Drehbuchautor, der zuletzt in den Staaten mit “Three Billboards Outside Ebbing, Missouri” erfolgreich war, sich der beiden Hauptdarsteller der Krimikomödie von 2008, Colin Farrell und Brendan Gleeson, bedient.

Man könnte seinen neuen Film, der bereits für die OSCARS® hoch gehandelt wird und besonders Colin Farrells Nominierung in der Kategorie Schauspiel sollte als gesichert gelten, als Tragikomödie lesen. Das ist nicht falsch, doch ist dieser Film auch eine Parabel auf einen Bruderkrieg, auf den irischen Bürgerkrieg, auf den Krieg im allgemeinen.

Zeit der Handlung ist das Jahr 1923. Auf dem Festland in der Ferne herrscht Bürgerkrieg. Immer wieder verweist McDonagh auf das, was dort vor sich geht. Doch vielleicht lässt es sich dort besser leben. Immer mehr Einwohner der Insel verlassen diese. Die, die zurückbleiben, sollten doch in Eintracht leben können. Pádraic versteht die rigorose Ablehnung seines ehemaligen Freundes nicht und versucht die Freundschaft wieder ins Lot zu bringen. “The Banshees of Iisherin” handelt auch von der Vergeblichkeit dieser Bemühungen. Die gut gemeinten Anstrengungen von Pádraic lösen eine Kette von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Ereignissen aus.

Ursprünglich war die Vorlage ein Theaterstück. Martin McDonagh hatte bereits in den 90ern eine Theaterstück-Trilogie verfasst. “The Banshees of Inisherin”, als dritter Teil der “The Aran Islands Trilogy”, genügte seinen Vorstellungen nicht und so blieb das Stück in der Schublade. Wie wichtig die Zutaten für das Gelingen eines Stückes sind, beweist die Besetzung, die aus der Vorlage das Beste herausholt. Sturrheit, Verbissenheit, Verzweiflung, Unverständnis, Aufbegehren, Einsicht. All das liest man den Darstellern in der Mimik und Körperhaltung ab.

Brendan Gleeson spielt den Mann, der plötzlich Ambitionen hegt. Er möchte für seine Geige Musik komponieren und der Welt etwas hinterlassen. Man solle sich an ihn erinnern. Colin Farrell spielt den Mann, der keine Talente außer seiner Loyalität besitzt, der stets das Richtige tun möchte und das nicht immer schafft. Beiden Männern wohnt eine stille Wut inne, die ihnen keinen Ausweg bietet. Ganz anders reagiert Pádraics Schwester Siobhán, gespielt von Kerry Condon, die zuerst als Brücke zwischen den zwei Männern fungiert, die stets Harmonie und Geborgenheit ausstrahlt. Sie ist eine selbstbewusste Frau, die entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen. McDonagh flechtet in das Stück die Frage ein, ob ein Mensch der ist, der er ist, oder ob seine Taten ihn bestimmen. Und er stellt auch die Frage, ob die Charakterzüge eines Menschen oder seine Talente wichtiger sind. Oder ob diese Fragen uns überhaupt weiterbringen.

Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine düstere Komödie über zwei wortkarge Kontrahenten und ihrer Marotten. Man fühlt mit beiden Figuren und möchte doch nicht in ihrer Haut stecken. Die Handlung wird nicht von der Komik bestimmt, sondern zeichnet sich durch ihre Absurditäten aus. Die karge Landschaft zeugt von einer depressiven Grundstimmung, die Nährboden für die hier angerissene Verzweiflung ist. Die Sinnlosigkeit jedes Streites, die ihm zugrunde liegende Toxizität, die quasi unausweichliche Eskalation, die immer weiter von all dem abrückt, was man noch verstehen könnte, um zu einer Lösung zu gelangen, ist Gegenstand dieses sehr klugen und vielschichtigen Filmes mit historischen Bezügen. “The Banshees of Inisherin” ist großes Kino und vielleicht jetzt schon einer der schönsten Filme des jungen Jahres.

Eneh

Originaltitel: The Banshees of Inisherin Regie: Martin McDonagh Mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon, Barry Keoghan, Pat Shortt, Gary Lydon, David Pearse, Sheila Flitton, Bríd Ní Neachtain, Jon Kenny Großbritannien / Irland / USA 2022 114 Minuten Verleih: Walt Disney Studios Kinostart 5. Januar 2023 Festivals: Venedig / Toronto / Zürich / Hamburg

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