Cineneh

Spielfilm

L.o.l.a. ist eine Maschine. Genauer gesagt: L.o.l.a. ist eine Zeitmaschine. Sie wurde von den Schwestern Hanbury konstruiert.

Nach dem Tod der Eltern leben Thomasina (Emma Appleton) und Martha (Stefanie Martini) allein in einem Landhaus und sind sich selbst genug. Und dann ist da noch “Lola” oder auch L.o.l.a. Die Maschine besteht aus einer großen aufgehängten Platte, auf der man Bilder empfangen kann.

Unterhaltungssendungen aus der Zukunft entfachen plötzlich mitten im Weltkrieg die David-Bowie-Manie bei ihren Erfinderinnen. Doch was zuerst Vergnügen bereitet, bedeutet alsbald Verantwortung von den Beiden. Der Krieg fordert seinen Tribut, Luftgeschwader der Deutschen bedrohen auch die Zivilbevölkerung. Mit Hilfe der Zeitmaschine wissen die Schwestern, wann und wo es zu Angriffen kommen wird. Rechtzeitig übermitteln sie Warnungen via Funk.

Es heißt aber nicht von ungefähr, dass man sich bei Zeitreisen nicht in den Verlauf der Geschichte einmischen sollte. Jetzt ist die Implikation, wie die Zukunft verlaufen wird, für die Schwestern nur eine wage Möglichkeit, die ihnen bis zu einem gewissen Punkt nur Vergnügen bereitet hat.

Das Drehbuchteam von Regisseur Andrew Legge und Angeli Macfarlane bindet das Wissen des Publikums über den Verlauf des II. Weltkrieges und der Pop-Geschichte der Nachkriegszeit mit ein. Ohne zuerst zu wissen, inwiefern sich die Zukunft durch ihre Einmischung verändert, fuschen sie der Weltgeschichte “as wie know it” gehörig ins Handwerk. So sehr, dass sie zwar anfangs Menschenleben retten, aber Großbritannien mehr und mehr den Krieg zu verlieren droht.

Es kommt noch ärger: Insbesondere Thomasina verfällt ihrer Maschine und ihr gefällt die Macht, die sie erlangt. Andrew Legge versucht sein Gedankenexperiment, das visuell aufwendig gestaltet wurde und wahrlich fasziniert, hier auf einen philosophischen Kurs zu bringen. Ab wann verliert man die Kontrolle über das, was man tut, und ab welchem Punkt verliert man den ethischen und den moralischen Kompass? Was ist eine Zukunft wert, wenn es Stanley Kubrick, Bob Dylan und David Bowie so nie gegeben haben wird? Wenn alle Popsongs lyrisch stattdessen feuchte Nazi-Träume bedienen?

Lola ist als Mockumentary aufgezogen. Zum einen drehte das Filmteam über weite Strecken mit einer Bolex 16 mm, damit alles so aussieht, als wären wir wirklich in den 40er Jahren. Jede Menge Found Footage wurde erstellt. Handfestes Archivmaterial wurde mit eingebunden und teilweise verfremdet und es passt höllisch genau.

Andererseits bricht das Material auch immer wieder den Erzählfluss. Legge variiert hier einen seiner Kurzfilme. In The Chronoscope von 2009 hatte er einen Wissenschaftler erfunden, der mit einer Maschine in die Vergangenheit schauen konnte. Was Andrew Legge aber auch ausklammert, ist, dass seine alternative Wirklichkeit eigentlich mehr als ein paar handelnde Figuren haben müsste. Er konzentriert sich auf die Maschine und die beiden Schwestern. Es gibt keine Bevölkerung im Widerstand. Es gibt scheinbar überhaupt keinen Widerstand.

Die Ereignisse bedrohen schließlich auch das Schicksal der Schwestern. Eine Figurenentwicklung aus sich selbst heraus bleibt halbherzig. Eine angedachte Romanze überzeugt wenig. Dass ausgerechnet eine queere Figur auf die falsche Seite geraten könnte, verärgert sogar ein bisschen. Dass angedachte Fragestellungen nach der Wichtigkeit von Kultur und Wissenschaft irgendwann zugunsten von Spionage-Allerlei und Actionszenen vernachlässigt werden, ist bedauernswert. Andrew Legge möchte aus der Nummer herauskommen, indem er alle Änderungen rückgängig macht. Alles auf Anfang sozusagen. Nach Zeitreiselogik sollte das aber nur in parallele Wirklichkeiten führen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Lola Regie: Andrew Legge Drehbuch: Andrew Legge, Angeli Macfarlane Kamera: Oona Menges Montage: Colin Campbell Musik: Neil Hannon Mit Stefanie Martini, Emma Appleton, Hugh O'Connor, Rory Fleck Byrne, Aaron Monaghan, Ayvianna Snow, Philip Condron, Shaun Boylan Irland / Großbritannien 2021 79 Minuten Kinostart: 28. Dezember 2023 Verleih: Neue Visionen Festivals: Hamburg 2023 / Sitges 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #NeueVisionen #Hamburg2023 #Sitges2023

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As bestas (Wie wilde Tiere) protokolliert einen eskalierenden Nachbarschaftsstreit. Doch die Ereignisse sind komplizierter. Die Handlung, die sich wie eine Chronik eines angekündigten Mordes entwickelt, basiert auf wahren Ereignissen. Zumindest wurden sie davon inspiriert. Der spanische Regisseur Rodrigo Sorogoyen, sein vollständiger Name lautet Rodrigo Sorogoyen del Amo, sein Großvater war der Regisseur Antonio del Amo, griff die Geschichte eines flämischen Paares auf, das sich Anfang der 2010er Jahre in Galicien niedergelassen hatte.

Sorogoyen, bekannt für seinen Film El reino und Madre, eröffnet die Handlung in einer Kneipe und stellt dem Publikum zuerst Xar (Luis Zahera) vor, der die Männermannschaft fest im Griff hat, die Unterhaltung dominiert und erst einmal eine erhitzte Rede schwingt, was er für gerecht und was für ungerecht hält. Das Publikum, das noch keine der Figuren kennt, hört ihm tatsächlich zu. Antoine (Denis Ménochet), gegen den sich die Rede richtet, kommt erst ins Bild, als wir eine der Positionen in diesem Gesellschaftsthriller kennen. Antoine, der Franzose, ist der Fremde, der sich mit seiner Frau Olga (Marina Foïs) in dem Gott verlassenen Ort niedergelassen hat.

In dem Drehbuch von Isabel Peña und Sorogoyen prallen Lebenswelten aufeinander. Die verarmte bäuerliche Gemeinschaft nimmt das fremde Ehepaar, das sich einen Neuanfang leisten kann, welches ihnen nicht nur finanziell, sondern auch intellektuell voraus ist, nicht an. Antoine hat gute Absichten. Er nimmt sich der verlassenen und verfallenen Häuser an, richtet sie her, in der Hoffnung, Weggezogenen zur Rückkehr zu bewegen, auch um dem Ort eine Zukunft zu geben. Als Großstädter auf dem Land führt das Ehepaar eine biologische saubere Öko-Landwirtschaft. Die Produkte verkaufen sie auf dem städtischen Markt. Xar und seinem Bruder Lorenzo (Diego Anido), der nach einem Unfall mental zurückgeblieben ist, sind die Beiden jedoch ein Dorn im Auge. Zuerst sticheln sie nur, dann mobben sie die Nachbarn, dann bricht sich nach und nach eine Aggression Bahn, die durch rein gar nichts abgefedert wird. Antoine, von bulliger Statur, der sein Gemüt nicht nach außen kehrt und sicherlich innerlich brodelt, meldet die Bedrohungen, zeigt begangene Straftaten an, und findet bei der örtlichen Polizei doch kein Gehör.

Dabei steht die Figur des Fremden auch für den Eindringling. Der sich Land nimmt, es als seinen Besitz ansieht, sich intellektuell überlegen fühlt. Jedes hergerichtete Haus steht für eine Etappe der Gentrifizierung. Das Publikum kann die toxische Männlichkeit, die sich hier in einem Western artigen Konflikt ausbreitet, unmöglich ertragen. Das Drehbuch wirkt dem mit dem leisen, verhaltenen Auftreten der Frauen in der Handlung entgegen. Die Stärke der Frauen, die hier viel subtiler vermittelt wird, wird die Ereignisse überdauern. Doch die Positionen beider Seiten sind erfassbar und nachvollziehbar. Die Ausweglosigkeit muss das Publikum ebenso ertragen. Die Kluft zwischen den Fronten geht dabei sogar noch tiefer. Während Antoine eine Frau an seiner Seite hat, leben Xar und sein Bruder bei ihrer alten Mutter, ohne auch nur die Chance zu haben, vor Ort oder in der Umgebung eine Frau zu finden. Sich aufstauender Hass kann von noch so viel guten Willen nicht abgefedert werden. Die offene Bedrohung der Brüder gegen ihre Nachbarn, die sich zunehmend kriminell äußert, steht gegen den blinden Fleck der Zugezogenen, die allein mit ihrer Anwesenheit eine Bedrohung sind. Antoine und Olga sind keine reichen Leute, aber Geld bedeutet ihnen nicht viel. Ein Affront für denjenigen, der gar nichts hat. Der sich aber Hoffnung macht, als eine ausländische Firma Grundstücke kaufen will, um darauf Windkraftanlagen zu bauen. Für die Einheimischen würde das den vielleicht kurzfristigen Geldsegen bedeuten, mit dem sie von der Scholle flüchten könnten, in die Städte. Der Wunsch nach Verwirklichung zieht den einen in die Stadt, während es den anderen aus der Stadt aufs Land zieht. Ausgerechnet Antoine stellt sich gegen diesen Landausverkauf. Seine weitsichtigen Gründe behindern die kurzfristigen Begehren der Nachbarn.

In einer Metapher nimmt Sorogoyen die Essenz seines Thrillers vorweg. Der Originaltitel As bestas wird im deutschen Titel vielleicht abgeschwächt, aber auch präzisiert. Wie wilde Tiere zeigt in der Eröffnungssequenz ein Wildpferd, das brutal niedergerungen wird, um ihm so seine Freiheit zu geben. Ein verstörendes Ritual, das visuell fasziniert (Kamera Alejandro de Pablo) und seelisch verstört. Wie wilde Tiere zeichnet einen unüberbrückbaren Konflikt nach, dem keine Partei ausweichen kann. Vielleicht ist das stoische, pragmatische Ausharren der Frauen eine Lösung.

Sorogoyen zeigte seinen Film zuerst in Cannes, inzwischen hat er die wichtigsten spanischen Filmpreise, die Goyas, gewonnen und auch zahlreiche Top-10-Listen des diesjährigen Jahres führen Wie wilde Pferde auf. Sorogoyen etabliert sich mit diesem Werk endgültig als einer der wichtigen Regisseure seines Heimatlandes.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: As bestas Regie: Rodrigo Sorogoyen Drehbuch: Isabel Peña, Rodrigo Sorogoyen Kamera: Alejandro de Pablo Schnitt: Alberto del Campo Musik: Olivier Arson Mit Marina Foïs, Denis Ménochet, Luis Zahera, Diego Anido, Marie Colomb, Luisa Merelas, José Manuel Fernández Blanco, Federico Pérez Rey, Javier Varela, David Menéndez, Xavier Estévez, Gonzalo García, Pepo Suevos, Machi Salgado, Luis P. Martínez, Melchor López, José Antonio Fernández, Ramón Porto, Poli Suárez, Faustino Álvarez Spanien / Frankreich 2022 139 Minuten Verleih: Prokino Kinostart: 7. Dezember 2023 Festivals: Cannes 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Prokino

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Elaha, gespielt von Bayan Layla, ist 22 Jahre alt und steht kurz vor ihrer Heirat. Sie ist Deutsch-Kurdin und damit in zwei Kulturen zu Hause. Elaha ist eine Geschichte der Selbstermächtigung, quasi ein Coming-of-Age. Ein Regiedebüt. Die Regisseurin Milena Aboyan, geboren als Kurdin in Armenien, durchlief zuerst eine Schauspielausbildung, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihren Abschlußfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg stellte sie zuerst auf der diesjährigen Berlinale vor. In der Sektion “Perspektive Deutsches Kino”. Man ist sich schmerzlich bewußt, welche Lücke die Abschaffung dieser Sektion reißen wird. Junge Talente wie Aboyan werden es schwerer haben, sich vorzustellen. Elaha debütierte hier und es ist erfreulich, dass dieses vielschichtige Drama doch auch in die Kinos kommt.

Elahas Verlobter ist der Bruder ihrer Arbeitgeberin. Beruflich hat er Ambitionen. Seiner Herkunft ist er soweit verbunden, dass er in der Aufforderung seiner Eltern, Elaha möge ihre Jungfräulichkeit doch mit einem ärztlichen Attest bestätigen lassen, kein Problem sieht. Elaha hat jedoch ein Problem. Dabei lässt das Drehbuch den medizinischen Wissensstand um das Jungfrauenhäutlein außen vor. Es geht ausschließlich um die Auswirkung, die diese archaische Tradition auf die titel-gebende Hauptfigur hat.

Elaha hatte schon einmal Sex. Mit 22 Jahren ist das nun nicht wirklich ungewöhnlich. Trotzdem will sie diese Ehe. Folglich bemüht sie sich darum, dieses Attest dennoch zu bekommen. Denn wo ein Bedarf ist, ist auch ein Markt. Allein, es fehlen ihr die finanziellen Mittel. Milena Aboyan stellt ihre Titelfigur zwischen ihr nach Außen zur Schau getragenes Selbstbewußtsein und dem patriarchisch frauenfeindlichen Selbstverständnis ihres Umfeldes. Elaha läuft von hier nach da, um doch noch einem Konstrukt zu gehorchen, dessen Selbstzweck ihr im Verlauf der Handlung mehr und mehr bewußt wird, und von dem sie sich doch nicht so einfach lösen kann. Gerade diese Ambivalenz macht diesen Film zu einem, über den man auch im Anschluss noch reden möchte.

Auch in der Bildsprache zieht Aboyan (Kamera: Christopher Behrmann) auf Enge, sprich auf das Format 4:3, und eine begrenzte Farbpalette. Elaha stellt die ihr auferlegten Regeln zunehmend in Frage, ist aber von den Erwartungen ihres nicht kurdischen Freundeskreises gleichsam überfordert. Milena Aboyan zeigt die Schattierungen, die Elahas Situation bestimmen. Bis zur Selbstbestimmung ist es jedoch ein schwerer Weg.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Elaha Regie: Milena Aboyan Drehbuch: Milena Aboyan, Constantin Hatz Kamera: Christopher Behrmann Schnitt: Elias Ben Engelhardt Musik: Kilian Oser Mit Bayan Layla, Armin Wahedi, Derya Dilber, Derya Durmaz, Cansu Leyan, Beritan Balci, Slavko Popadić, Nazmî Kirik, Réber Ibrahim, Homa Faghiri, Hadnet Tesfai, Yasmin Mowafek, Onur Poyraz, Adnan Jafar, Ferman Alkasari, Taies Farzan, Lennart Gottmann, Mehmet Daloglu, Hêja Netirk, Svetlana Wall, Tatiana Corrado, Dennenesch Zoudé, Faris Saleh Deutschland 2023 111 Minuten Verleih: Camino Kinostart: 23. November 2023 Festivals: Berlinale 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Studentenfilm #Berlinale2023 #Camino

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Cáit (Filmdebütantin Catherine Clinch) ist ein stilles Kind. In ihrer Familie wirkt und wird sie an den Rand gedrängt. Es fehlt an vielem. Die Familie ist arm. Sie ist eine von vier Schwestern und die Mutter ist wieder schwanger. Die Handlung spielt 1981, die Familie lebt auf dem Land. Die Mutter ist überfordert, der Vater schroff. Zuwendung, von Zuneigung mag man gar nicht erst sprechen, fehlt. Cáit ist nicht nur sehr still, sie zieht sich so sehr zurück, dass sie praktisch unsichtbar wird. Wie belastend die familiäre Kälte auf das Kind wirkt, merkt man, wenn man gewahr wird, dass sie sich wieder einmal nachts eingenässt hat.

Es ist den Eltern zu viel. Unvermittelt setzen sie ihr jüngstes Kind bei fernen Verwandten ab. Mit nichts weiter als dem Kleid, das sie gerade trägt. Ohne Erklärung und ohne zu wissen, ob sie irgendwann wieder abgeholt wird, findet sich das Kind in der Fremde wieder. Colm Bairéad nahm sich für seinen ersten Langfilm, zu dem er auch das Drehbuch verfasste, einer Kurzgeschichte an. Foster von Claire Keegan erschien 2010 in dem Magazin “The New Yorker”. Das Publikum erlebt die Ereignisse aus der Sicht von Cáit. Die Kamera von Kate McCullough (aktuell Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry), die für diese Arbeit den Europäischen Filmpreis für die beste Kameraarbeit gewann, engt sich auf das Vollbild 4:3 ein. Cáit ist noch zu sehr Kind, gerade 9 Jahre alt, ihre Sicht umfasst nur ihr nächstes Umfeld. Diese Beschränkung setzt sich in dem Format um. Doch Cáit ist aufmerksam, sie nimmt Dinge und auch Stimmungen wahr.

Ihr Zuhause für diesen Sommer ist auf dem Hof bei einem älteren, kinderlosen Ehepaar, das etwas besser situiert lebt. Mit einem einzigen Satz wendet sich für das Mädchen alles. Eibhlín Kinsella, gespielt von Carrie Crowley, fasst das erste unfassbare Gefühl in Worte. Worte, die hier so selten laut ausgesprochen werden, denn “The Quiet Girl” lebt von Zwischentönen, Gesten, dem Licht, das die Figuren umhüllt, und einem zurückgenommenen Pacing. Sie würde ihr Kind niemals bei Fremden aussetzen, sagt sie dem Kind. Cáit wurde zwar rigoros abgeschoben, doch das erste Mal in ihrem Leben wird sie hier gesehen. Und sehr langsam wagt sie sich aus ihrem Schneckenhaus. Eibhlín umhegt das Mädchen, schenkt ihr all die Liebe, die sie hat. Ihr zurückhaltender Mann Seán (Andrew Bennett) braucht etwas länger. Einfach ist es trotz allem nicht.

Viel mehr muss man gar nicht über diesen Film wissen. The Quiet Girl erzählt sich mit dem Herzen. Es ist ein leiser, ein lyrischer und doch auch vielschichtiger Film, der über die Sinne berührt. Alle Gewerke unterstützen die Darstellenden. Subtil kündigt sich schon früh eine weitere Geschichte hinter der Geschichte an, die das Kind auch bald erspürt. Eine Besonderheit ist, dass Bairéad den Film in Irisch drehte, einer Sprache, die viel zu selten auf der Leinwand zu hören ist. Doch die Hauptsprache von The Quiet Girl ist die Filmsprache, die Stille in vielen Variationen vermittelt. Ohne Worte vermitteln sich Kummer und Trauer. Kälte und Wärme. Auch das Publikum wird stiller und stiller.

The Quiet Girl wurde 2022 im Generation-Programm der Berlinale vorgestellt. Die Kinderjury zeichnete den Film mit einer lobenden Erwähnung aus. Die internationale Jury bedachte das stille Drama gar mit dem großen Preis. Es ist immer wieder erstaunlich welch stimmige, anspruchsvolle und doch leicht zugängliche Filme die Kplus-Sektion des Festivals zusammenzutragen weiß und man fragt sich, warum nicht mehr von genau diesen wunderbaren Filmen es tatsächlich in die Kinos schaffen. Besonders im Bereich Kinderfilm. Colm Bairéad bewies mit seinem Langspielfilmdebüt sein Talent. Seine Arbeit an Dokumentarfilmen bereitete ihn auch darauf vor, die Bilder bis ins Detail auf die Geschichte zu fokussieren. Sein Film eroberte Festival um Festival, gewann nationale und internationale Filmpreise und schaffte es als Irlands Einreichung für den Internationalen Oscar bis in die Nominierungsrunde. Mit einiger Verspätung kommt die Geschichte von Cáit nun doch noch in unsere Kinos.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: An Cailín Ciúin Regie: Colm Bairéad Drehbuch: Colm Bairéad Vorlage: Claire Keegan Kamera: Kate McCullough Schnitt: John Murphy Musik: Stephen Rennicks Mit Carrie Crowley, Andrew Bennett, Catherine Clinch, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh, Joan Sheehy, Tara Faughnan, Neans Nic Dhonncha, Eabha Ni Chonaola, Carolyn Bracken, Pádraig Ó Se, Breandán Ó Duinnshleibhe, Sean Ó Súilleabháin, Aine Hayden, Elaine O'Hara, Marion O'Dwyer, Jessica Joannides, Roise Crowley, Grainne Gillespie Irland 2022 95 Minuten Verleih: Neue Visionen Kinostart: 16. November 2023 Festivals: Berlinale 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #NeueVisionen #Berlinale2022

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Joyland erzählt von einer pakistanischen Großfamilie. Da gibt es den alten Patriarchen, der allerdings im Rollstuhl sitzt und auf Hilfe angewiesen ist. Dieser hat zwei Söhne. Der eine, Kaleem (Sohail Sameer), wird, als die Handlung einsetzt, zum vierten Mal Vater. Seine Frau Nucchi (Sarwat Gilani) bringt ein Mädchen zur Welt. Schon wieder ein Mädchen. Dabei braucht es doch einen männlichen Erben. Der jüngere Sohn, Haider (Ali Junejo), ist zwar mit Mumtaz (Rasti Farooq) verheiratet, aber er hat noch keine Kinder. Haider steht als Identifikationsfigur im Mittelpunkt der Handlung. Denn er ist verheiratet und doch verliebt er sich in eine andere. Als sich seine gesellschaftliche Rolle ändert, ändert sich ein ganzes Gefüge.

Der pakistanische Regisseur Saim Sadiq hat in seinem Langspielfilmdebüt, welches im letzten Jahr in Cannes Weltpremiere hatte, ein ganzes Ensemble vielschichtiger Figuren zusammengebracht. Indem er die Beziehung zwischen den Einzelnen aufschlüsselt und ihre Interaktionen behandelt, gibt er Einblick, wie groß die Bürde des Patriarchats auf den Akteuren lastet. Die tradierten Werte, die überkommenen Strukturen, machen hier allen zu schaffen. Sadiq zeichnet die Charaktere so authentisch und unmittelbar, dass selbst wenn uns in Mitteleuropa der Alltag in Lahore, wo der Film spielt, fremd ist, wir instinktiv die Nöte der Familienmitglieder begreifen, wir mit ihnen mitfühlen und von ihnen berührt werden.

Haider gilt sowohl in seiner Familie als auch in der Gemeinschaft als verweichlichter Mann. Er ist seit langem arbeitslos, während seine Frau erfolgreich als Make-Up-Artist den Unterhalt verdient. Haushaltspflichten liegen Mumtaz nicht, ihre Arbeit gibt ihr bisher Freiheiten. Doch Haider wird gedrängt, endlich einen Job anzunehmen. Als er tatsächlich Arbeit findet, spricht der Patriarch der Famile, Vater Aman (Salmaan Peerzada), ein Machtwort. Haider, der bis dahin den Haushalt geführt und sich um die Nichten und den Vater gekümmert hatte, gehe nun arbeiten. Mumtaz solle darum fortan im Haushalt ihre Erfüllung finden. Was keiner in der Familie weiß, ist, welche Art Arbeit Haider gefunden hat. Es ist jetzt kein Spoiler zu verraten, dass er in einem queeren Tanzclub im Background tanzen wird. Die Transfrau Biba (Alina Khan), in deren Ensemble er tanzen soll, unterstützt ihn, soweit ihr das möglich ist. Haider fühlt sich zu ihr, und das ist für ihn ein moralisches Dilemma, hingezogen.

Das Drehbuch von Sadig und Maggie Briggs gibt den Figuren einen kurzen Blick auf die Freiheiten, nach denen sich jede und jeder sehnt, und zeigt dann doch auf, wie sehr diese außer Reichweite liegen. Joyland ist somit eine kritische Parabel auf die Gesellschaft Pakistans. Darüber hinaus brennen sich, vor allem durch die wunderbare Kameraführung von Joe Saade und der Montage von Sadiq und Jasmin Tenucci, zahlreiche kleine Szenen in die Erinnerung ein. Der Film wirkt nach.

In Cannes wurde Joyland hoch gelobt. Das Debüt gewann in der Sektion Un certain regard den Jurypreis und darüber hinaus die Queer Palm. Nach der Premiere wanderte der Film von Festival zu Festival. Das US-Branchenmagazin Variety erkor seinen jungen Regisseur, Saim Sadiq, der sein Filmstudium an der Columbia University, NYC, abgeschlossen hat, zu einem der “10 Directors to Watch” für 2023. Pakistan wählte Joyland, nachdem man den Film zuerst als Angriff auf nationale Werte verboten hatte, sogar als seinen Beitrag für den internationalen Oscar, wo er es bis auf die Shortlist schaffte. In der pakistanischen Provinz Punjab, dessen historische Hauptstadt Lahore ist, darf der Film allerdings weiterhin nicht gezeigt werden.

Für Sadiq spricht, dass er es bereits in den ersten Szenen schafft, das Publikum in ein kompliziertes Familiengefüge hineinzuversetzen. Er wertet seine Figuren nicht, er überlässt es den Zuschauenden, die Fallstricke zu erkennen. Er arbeitet subtil die Restriktionen der pakistanischen Gesellschaft heraus und die ablehnende Rezeption seines Heimatlandes zeigt nur, wie sehr diese nottut. Man erkennt tatsächlich, welche Werte die Figuren einengen, welche Freiheiten sie sich erkämpfen müssen und wie schwer das mitunter ist.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Joyland Regie: Saim Sadiq Drehbuch: Saim Sadiq, Maggie Briggs Kamera: Joe Saade Schnitt: Jasmin Tenucci, Saim Sadiq Musik: Abdullah Siddiqui Mit Ali Junejo, Rasti Farooq, Sarwat Gilani, Alina Khan, Sohail Sameer, Salmaan Peerzada, Sania Saeed Pakistan / USA 2022 127 Minuten Verleih: Filmperlen Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Cannes 2022, Zürich 2022, Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Filmperlen #Spielfilm #Cannes2022 #Sundance2023

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Die Zeitspanne zwischen realen Ereignissen und ihrer fiktionalen Verfilmung wird gefühlt immer kürzer. Ein gewisser Abstand ermöglicht Reflektion. Die Nachrichten über den Hype rund um die GameStop-Aktien überschlugen sich 2021 und haben sich kaum gelegt, da bringt der australische Regisseur Craig Gillespie (I, Tonya) eine biographisch-historische Aufarbeitung ins Kino. Vorlage war ein Sachbuch mit dem griffigen Titel The Antisocial Network: The GameStop Short Squeeze and the Ragtag Group of Amateur Traders That Brought Wall Street to Its Knees von Ben Mezrich.

Mezrich hatte übrigens auch ein Sachbuch über Facebook verfasst, das ebenfalls verfilmt worden ist. David Fincher machte daraus The Social Network. Zurück zu Gillespie, der hatte einen der jungen Kleinanleger, die von Finanzhaien ob ihrer vermeintlichen Naivität schlicht als “Dumb Money” bezeichnet wurden, sprich einen Sohn, während der Pandemie-Zeit im Haus und kriegte die Entwicklung hautnah und in Echtzeit mit.

Muss man denn über die Finanzwelt Bescheid wissen? All die Fachbegriffe wie Leerverkäufe kennen? Nein. Dumb Money erklärt, was man braucht, und ist dabei auch nicht ganz so stilistisch überbordend wie dem sehr ähnlichen The Big Short (Regie Adam McKay, 2015), der die Gier der US-Finanzwelt exaltierter vorführte, damit noch pointierter den Finger in die Wunde legte, aber keine Identifikationsfigur hatte.

Gillespie und die Drehbuchautorinnen Lauren Schuker Blum und Rebecca Angelo machen keinen Hehl daraus, welcher Seite der Geschichte sie die Daumen drücken. Ja, Dumb Money ist eine David gegen Goliath-Story. Während die reichen Finanzjongleure mit gerade noch legalen Tricks noch reicher werden, aus Geld Geld machen, gehen alle anderen finanziell baden. Gerade die Covid-Pandemie zeigte eindrücklich, wer an Krisen gewinnt und wer nicht. Dumb Money ist somit nicht nur ein Film über das Gebaren an der Börse, sondern ein erstaunlich präzises Bild über die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen bzw. das Fehlen der Auswirkungen in den zwei diametral entgegengesetzten Akteursgruppen.

Im Mittelpunkt steht Keith Gill, wunderbar gespielt von Paul Dano, der im Keller seines Hauses als Finanz-Influencer sich für die Aktien von GameStop begeistert. Dabei ist die Ladenkette für Computerspiele ziemlich am Ende. So auf dem letzten Meter wollen die großen Akteure, zum Beispiel gespielt von Seth Rogen und Nick Offerman, mit deren Pleite Geld machen. Ihnen kommt gar nicht zupass, dass der Wert der Aktien plötzlich steigt, weil irgendein Nerd mit Stirnband und Katzen-T-Shirt sein Erspartes da reinsteckt und dafür überzeugend brennt. Und der Aktienwert steigt und steigt. Was wie ein kurzfristiger Trend wirkt, wie ein Spiel, wird richtig ernst, als all die kleinen Anleger, die über eine Schnittstelle wie der Robinhood-App, die einen leichten und kostengünstigen Zugang gewährte, und einer Plattform wie Reddit, wo diese sich vernetzen konnten, erkennen, welche Macht sie im Verbund haben. Sie können die mit dem großen Geld mal so richtig bluten lassen.

Dumb Money stellt uns ein paar dieser Kleinanleger exemplarisch vor. Studentinnen, die ihre Studiengebühren bezahlen müssen, eine Krankenpflegerin, die in Pandemie-Zeiten ihr Letztes gibt und ob ihrer horrenden Schulden sich nicht einmal eine Verschnaufpause leisten kann. Kleine Leute, für die jeder noch so kleine Gewinn viel bedeutet und die ihre Aktien trotzdem hielten. Gillespie weiß auch die Lockdown-Zeit visuell und emotional einzufangen. Das war eine Zeit, in der Bewegung höchstens auf Computerbildschirmen stattfand. Eine Zeit, in der erwachsene Kinder in ihre Elternhäuser zurückkehren mussten, weil sie ihre Jobs verloren haben. Eine Zeit, in der die Diskrepanz zwischen der Enge eines Kellers und Gärten mit Swimming-Pools die Ungerechtigkeiten noch deutlicher sichtbar machte.

Jetzt wäre die Geschichte, die sich erst 2021 zugetragen hat, fast nur noch eine Fußnote. Dumb Money überdramatisiert die Ereignisse nicht und bleibt wohl ziemlich nahe dran an den wahren Abläufen. Der Film, der zum Großteil von einem hervorragenden Darstellenden-Ensemble lebt, nimmt die Wendungen mit auf. Mit fiesen Moves wollte man die Kraft der Kleinanleger brechen. Gillespie lässt den durchaus auch humorigen Film zum emotionalen Drama werden, bei dem das Publikum sicherlich zwischen Genugtuung und Frustration, Schadenfreude und Wut hin und her schwanken wird.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Dumb Money Regie: Craig Gillespie Drehbuch: Lauren Schuker Blum, Rebecca Angelo Kamera: Nikolas Karakatsanis Schnitt: Kirk Baxter Musik: Will Bates Mit Paul Dano, Pete Davidson, Vincent D'Onofrio, America Ferrera, Myha'la Herrold, Nick Offerman, Anthony Ramos, Seth Rogen, Talia Ryder, Sebastian Stan, Shailene Woodley, Kate Burton, Clancy Brown, Rushi Kota, Larry Owens, Dane DeHaan, Olivia Thirlby, Andrea Simons USA 2023 104 Minuten Verleih: Leonine Kinostart: 2. November 2023 Festivals: Toronto 2023 / San Sebastián 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Leonine

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Eine kleine Terrier-Hündin unternahm einmal eine Reise in die Arktis. Das ist sicherlich nur eine Fußnote in der Enzyklopädie der Entdeckungsreisen. Die Geschichte, die die Drehbuchautoren Kajsa Næss und Per Schreiner erzählen, hat sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen. Titina war eine streunende Hündin in den Gassen der italienischen Hauptstadt, als sie dem Ingenieur Umberto Nobile zulief, der sie bei sich aufnahm. Nobile baute “fliegende Schiffe”. Es war der norwegische Polarforscher Roald Amundsen, der, nachdem er schon den Südpol mit seiner Mannschaft als Erster erreicht hatte, sich dem Nordpol aus der Luft nähern wollte. Für eine Expedition per Luftschiff fragte er Nobile an, der eines seiner Flugobjekte umbaute, so dass dieses 1926 unter dem Namen “Norge” zum Nordpol aufbrach. Nobile war sicherlich nur der Kapitän und Ingenieur, der zusammen mit Amundsen auch noch diesen Flecken Erde erkunden wollte, aber seine Leistung war schließlich keine, die man so beiseiteschieben sollte.

Es war eine Zeit der Entdeckungen und es war eine Zeit der Wettläufe. Wer als Erster etwas entdeckt und vollbringt, dem fliegen Anerkennung und Ruhm zu. Um es kurz zu machen, Nobile und Amundsen stritten sich um den Ruhm. Den Namen Amundsen kennt vielleicht heute auch nicht mehr jedes Kind, aber von Umberto Nobile haben noch viel weniger Leute gehört. Dabei sind beide Namen eng verknüpft. Die norwegische Regisseurin Kajsa Næss erzählt in ihrem Animationsfilm, übrigens nach sehr erfolgreichen Kurzfilmen ihr Langspielfilmdebüt, von der Reise, die diese beiden Forscher gemeinsam unternommen haben und von der Konkurrenz zwischen den beiden. Immer wieder baut Næss Archivaufnahmen von Amundsen, Nobile und auch seinem Hund mit ein, so dass das Publikum die doch so einfach wirkende Geschichte einordnen kann. Denn die Erzählperspektive ist die der kleinen Hündin. Titina kümmert sich nicht um Ruhm und ihr ist sicherlich auch egal, ob sie sich auf einem Luftschiff über der Arktis oder in den italienischen Gassen befindet. Sie ist eine unparteiische Beobachterin.

Die Animation ist klar und flächig, aber sehr detailreich. Kajsa Næss fängt sowohl die italienischen Städte, die norwegischen Häfen und die arktische Landschaft wunderbar ein. Ihr Film lief zum Beispiel auf dem tschechischen Filmfest Zlín, das sich dem Kinder- und Jugendfilm verschrieben hat und wo die Kinderjury “Titina” in ihrer Kategorie ausgezeichnet hat. Auch das sächsische Kinderfilmfest Schlingel in Chemnitz hatte den Film im Programm und das Internationale Trickfilmfestival Stuttgart führte “Titina” sogar im Hauptwettbewerb. Næss zeigt die Rivalitäten, aber zeigt die Hauptfiguren in all ihrer Komplexität, ihren unterschiedlichen Ambitionen und Intentionen. Bei ihr sind diese historischen Figuren keineswegs Helden, sondern widersprüchliche Menschen mit Fehlern und Kanten. Und gerade dadurch gibt sie ihnen etwas sehr Menschliches.

Der Animationsfilm “Titina” ist ein Abenteuerfilm für kleine und große Zuschauende. Es geht vordergründig um Entdeckerdrang und Konkurrenz. Dazu kommt noch eine Prise Nationalstolz für eine norwegische Leistung oder eben für eine italienische Leistung. Denn nicht nur bei Fußball-Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen gilt es als Nation über andere zu triumphieren. Dieser Aspekt wird durchaus mit eingebaut. Und so macht sich der im Streit unterlegene Nobile zu einer zweiten Expedition auf, um die Reise zu wiederholen.

Sein Flugschiff heißt nun “Italia”. Es ist keine Geschichte des Erfolges, es ist vielmehr eine behutsame Erzählung, was Eitelkeit und der Drang besser, schneller, Erster zu sein, mitunter kostet. Für einen Hund spielt all das keine Rolle. Und auch Amundsen wollte dem einstigen Freund in der Not beistehen. Wer die Geschichte nicht kennt, dem werde ich sie auch nicht verraten. So viel sei dennoch gesagt, “Titina” erzählt von einer Expedition, aber auch von einem Zusammenhalt, vom Bedauern und vom Verzeihen. Themen, die zumeist vernachlässigt werden.

Eneh

Spielfilm, Animationsfilm, Kinderfilm Originaltitel: Titina Regie: Kajsa Næss Drehbuch: Kajsa Næss, Per Schreiner Kamera: Cecilie Semec Schnitt: Anders Bergland, Jens Christian Fodstad, Zaklina Stojcevska Musik: Kåre Vestrheim Land Norwegen / Belgien 2022 Länge 92 Minuten Verleih: Grandfilm Kinostart: 2. November 2023 Festivals: Zlín 2023 / Schlingel 2023 / Trickfilmfest Stuttgart 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Animationsfilm #Kinderfilm #Grandfilm

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Luc Bessons neues Drama “DogMan”, das auch dem Genre Thriller zugeordnet werden kann, wird das Publikum spalten. Einige werden darin eine kalkulierte, oft alberne Comic-Schmonzette sehen, die an den nicht unähnlichen “Joker” (2019 mit Joaquin Phoenix) nicht ganz herankommt, andere werden über dramaturgische Schwächen hinwegsehen und zu Herzen gerührt sein.

Premiere feierte “DogMan” in Venedig, wo sogleich, und das soll nicht unter den Teppich gekehrt werden, kritisiert wurde, dass das Festival Besson, einer unter den problematischen Regie-Männern, eine Bühne geben würde. Darüber ging wohl verloren, dass die Teilnahme an einem der großen A-Festivals, für einen für Gewalt- und Action-Filmen bekannten Regisseur sehr wohl eine Überraschung war.

Seine frühen Regiearbeiten wie “Im Rausch der Tiefe” (1988), “Nikita” (1990) und “Léon – Der Profi” (1994) sind Klassiker geworden. Mit “Das fünfte Element” (1997) wechselte er erfolgreich ins Science-Fiction-Genre, um dann aber mit “Angel-A” zu enttäuschen. Jahrelang arbeitete Besson als Produzent, sein letzter, etwas überdimensionierter Film war wohl “Valerian – Die Stadt der tausend Planeten” (2017).

“DogMan”, der von einer engen Verbindung von Mann und Hund handelt, und der bitte nicht mit “Dogman” von Matteo Garrone von 2018 verwechselt werden sollte, knüpft in der Tat an die alte Handschrift von Besson an. Besson wirft hier alles in die Waagschale. Sein Film ist episch, tragisch, komisch und skurril. Er schreckt vor religiösem Pathos und zahlreichen Klischees nicht zurück. Und doch rührt seine Hauptfigur, die lautmalerisch Doug heißt, zu Herzen, während die unzähligen Hunde jede Szene für sich erobern. Kann man so treuherzigen Kampftieren böse sein?

Mit Doug, für dessen Rolle Besson den amerikanischen Schauspieler Caleb Landry Jones (“Three Billboards Outside Ebbing, Missouri”) gewinnen konnte, hat “DogMan” einen tragischen Antihelden, eine von der Gesellschaft ausgeschlossene Figur, die sich gar nicht darum bemüht, wieder ein Teil dessen zu werden. Doug ist von außen betrachtet ein Einzelgänger, aber er hat seine Familie. Seine Familie sind seine Hunde, die ihn bedingungslos lieben und unterstützen und für ihn neckische Raubzüge vollbringen. Neben der Hundeschar, für die es einen Stab an 15 Hundetrainer*Innen gab, braucht es Präsenz, um zu bestehen. Caleb Landry Jones' Spiel wird in Erinnerung bleiben, soviel steht fest.

Wie Doug zu seinen Hunden kam, und sie spirituell und emotionell als seine Retter annahm, erzählt Doug im Gespräch in seiner Gefängniszelle. Denn nachdem er bzw. seine Hunde eine ganze Gang an Latino-Schurken trickreich ausgelöscht haben, kann sein Weg nur noch in die eigene Auslöschung bzw. in eine spirituelle Erlösung führen. So wählt denn Besson dramaturgisch die Erzählung durch Rückblenden und verknüpft diese mit den Gewalterfahrungen, die sein Gegenüber, die Polizeipsychologin Evelyn (Jojo T. Gibbs), selbst gemacht hat. Die Welt nach Luc Besson ist eine gewalttätige. Die Hunde dagegen lieben einen Menschen bedingungslos und konsequent. Die Wahlfamilie ist hier die wahre Familie.

Subtil ist Luc Besson nicht. Mit breitem Pinselstrich malt er seine Figuren und setzt der Dramaturgie immer noch einen drauf, auch wenn das bedeutet, das Genre zu wechseln. Doch Besson schafft es, Mitgefühl zu wecken. Doug wählt die Distanz zu seinen Mitmenschen und auch zu seinem Publikum.

Geschunden und mit Behinderung lebt er seine Lebensfreude aus, indem er singt. Für kurze Zeit löst er sich von den physischen Fesseln seines Rollstuhles und performt französische Chansons in Gestalt einer Drag-Queen. Zu kritisieren gäbe es daran so einiges und doch schafft es Besson seiner Figur eine Seele einzuhauchen, die das Publikum erkennt, wenn es nicht sogar eine Träne vergießt. Hier besinnt sich Luc Besson an seine alten Filme und damit hebt er sich auch von den kalten Thrillern nach dem Millenium ab. Wie gesagt, nicht jedem wird “DogMan” gefallen, aber das Wagnis sollte man unbedingt eingehen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: DogMan Regie: Luc Besson Drehbuch: Luc Besson Kamera: Colin Wandersman Schnitt: Julien Rey Musik: Eric Serra Mit Caleb Landry Jones, Christopher Denham, Marisa Berenson, Michael Garza, Clemens Schick, Jojo T. Gibbs, Eric Carter, Avant Strangel, Grace Palma, James Payton, Derek Siow, John Charles Aguilar, Naima Hebrail Kidjo, Ambrit Millhouse, Lincoln Powell, Corinne Delacour, Aven Campau, William Sciortino, Luing Andrews Frankreich / USA 2023 114 Minuten Verleih: Capelight Pictures Kinostart: 12. Oktober 2023 Festivals: Venedig 2023 TMDB

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Jean Newman (Rosy McEwen) ist Sportlehrerin. Sie ist beliebt an ihrer Schule. Sowohl im Lehrkörper als auch bei den Jugendlichen. Was keiner an der Schule weiß, ist, dass sie lesbisch ist. “Blue Jean”, das Langspieldebüt der Britin Georgia Oakley (“Little Bird”), spielt in der restriktiven Thatcher-Zeit.

1988 wurde unter Margaret Thatcher die sogenannte “Section 28”-Gesetzeserweiterung parlamentarisch verabschiedet. Fortan durfte die ohnehin schon konservative britische Gesellschaft mit “Homosexualität” nicht mehr belästigt werden. Jede Förderung derselbigen war ein Verstoß.

Für Jean bedeutet dies, dass sie, sollte herauskommen, dass sie lesbisch sei, sie mit sofortiger Wirkung vom Schuldienst ausgeschlossen werden würde. Somit wird sie nicht nur in ein Doppelleben gezwungen, sie kann aus reinem Selbstschutz sich auch nicht den Gegenbewegungen anschließen, so wie es ihre Lebensgefährtin Viv (Kerrie Hayes) tut.

So fern ist diese Zeit gar nicht. Immer noch werden LGBTQ-Menschen unterdrückt oder gar mit dem Tod bedroht. Auch heute gibt es entsprechende Gesetze, die Darstellungen von Homosexualität verbieten. Auch innerhalb der EU. Was machen Gesetze dieser Art mit den Menschen, die von diesen ausgegrenzt werden? Georgia Oakley, geboren 1988, berichtet, dass sie selbst gar nicht wusste, dass es die “Sektion 28” gab. Sie selbst war damals im schulpflichtigen Alter und wunderte sich, dass sie so gar keine Vorbilder für ihr Empfinden fand. Erst die Beschäftigung mit den Auswirkungen dieses Gesetzes öffnete ihr die Augen.

Georgia Oakleys Figuren sind Menschen, wie du und ich. Oakley stellt die Verordnungen und die Nachrichten der Zeit in den Hintergrund, der allerdings allumfassend die davor handelnden Figuren einengt. Aus eben jenen Nachrichten erfahren wir von der Stimmung im Land. Auch wenn die Hauptfigur, Jean, diese Nachrichten wegschalten möchte.

Um diese bedrückende Atmosphäre geht es Oakley hauptsächlich. Sie unterstreicht die Stimmungen mit einer spezifischen Farbgebung, die man bewusst oder unbewusst mit aufnimmt. Pastelltöne kennzeichnen die heteronormativen Lebenswelten. Kräftigere Farben werden in jenen Bereichen eingesetzt, in denen Jean in ihrer Freizeit verkehrt.

“Blue Jean” ist ein wirklich wichtiger Zeitepochenfilm über die damaligen Repressionen. Dabei sind die Figuren der Jean, einer Lehrerin, ihrer Freundin und Aktivistin Viv und einer Schülerin an Jeans Schule Stellvertreterinnen für einen konkreten Konflikt, für den es hier keine einfache Lösung gibt.

Lois (Lucy Halliday) ist eine der Schülerinnen von Jean. In der Schule wird sie gemobbt. Lois, die neu in die Klasse gekommen ist, positioniert sich in der Folge abwehrend gegen das It-Girl der Klasse. Jean trifft Lois in ihrer Freizeit zufällig in einer Lesbenbar. Das Erkennen des jeweils anderen bringt beide in eine Abhängigkeitssituation. Wenn Lois Jeans Identität aufdeckt, ist sie ihren Job los. Wenn Jean Lois verleugnet, zerstört sie ein Leben, das ihr als Lehrerin doch anvertraut worden ist.

“Sektion 28” bedeutet nicht nur die Stigmatisierung von Homosexualität. Es sollte im Schulbereich ausschließlich negativ darstellt werden, zugunsten traditioneller Familienbilder. Ein Spagat den Jean nicht packt. Sie trifft eine falsche Entscheidung.

“Sektion 28” wurde erst, man mag es kaum glauben, im November 2003 abgeschafft. Georgia Oakleys Debüt ist ein überzeugender Film, der seine Figuren mit allen Schattenseiten vermittelt. Mit leisen Tönen wird eine Hauptfigur mit ihren Schwächen darstellt. Jean ist alles andere als eine Aktivistin. Ihr Zögern, ihr Nichthandeln setzen sie in einen Konflikt mit ihrer Freundin, die Haltung fordert, und es bricht einem das Herz, wie sehr ein noch junger Mensch wie Lois ein Platz in der Gesellschaft verwehrt wird.

“Blue Jean” lief letztes Jahr auf dem Filmfestival in Venedig und wurde dort mit dem Publikumspreis der Sektion »Giornate degli Autori« ausgezeichnet. Die British Independent Film Awards zeichneten darüber hinaus die Darstellungen der beiden Hauptfiguren, Rosy McEwan und Kerrie Hayes (als Nebendarstellerin) aus. Georgia Oakley gewann den Preis als beste Drehbuchdebütantin.

In Deutschland wurde “Blue Jean” im Rahmen des Queerfilmfestes vom Verleih Salzgeber vorgestellt und seit letzter Woche läuft der Film regulär im Kino. “Blue Jean” ist sowohl vom Setting, vom Schauspiel und der Umsetzung ein eindrucksvolles Debüt und absolut empfehlenswert.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Blue Jean Regie: Georgia Oakley Drehbuch: Georgia Oakley Kamera: Victor Seguin Schnitt: Izabella Curry Musik: Chris Roe Mit Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday, Lydia Page, Becky Lindsay, Maya Torres, Ellen Gowland, Amy Booth-Steel, Stacy Abalogun, Izzy Neish, Kate Soulsby, Lainey Shaw, Farrah Cave, Deka Walmsley, Gavin Kitchen, Emily Fairweather, Aoife Kennan, Scott Turnbull, Dexter Heads Großbritannien 2022 97 Minuten Verleih: Salzgeber Kinostart: 5. Oktober 2023 Festivals: Venedig 2022 / Zürich 2022 / Rotterdam 2023 / Sydney 2023 TMDB

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