Bildungsfähigkeit statt Intelligenz: Was es wirklich bedeutet zu lernen

Domenico Fetti: Archimedes Pensativo

Erinnerst Du Dich daran, wie oft Du in der Schule oder im Studium Dinge gelernt hast, die erst Jahre später an Bedeutung gewannen? Vielleicht war es ein Roman, den Du damals nicht ganz verstanden hast, oder ein Konzept, das Dir unnötig erschien – bis das Leben Dich plötzlich daran erinnerte. Diese Fähigkeit, Wissen aufzunehmen und es irgendwann flexibel anzuwenden, beschreibt Leslie Valiant in seinem neuen Buch The Importance of Being Educable: A New Theory of Human Uniqueness als „Bildungsfähigkeit“ (educability).

Valiant, einer der führenden Computerwissenschaftler unserer Zeit, stellt in seinem Buch eine provokative Frage: Reicht Intelligenz allein aus, um die Komplexität der Welt zu begreifen? Seine Antwort lautet nein. Dazu benötigen wir eine andere Fähigkeit – die Bildungsfähigkeit. Sie ermöglicht es uns, Wissen nicht nur kurzfristig anzuwenden, sondern es über Jahre hinweg zu speichern und in unvorhergesehenen Situationen zu nutzen. Valiants Konzept geht dabei über die klassische Intelligenz hinaus und eröffnet eine neue Perspektive auf das, was es wirklich bedeutet, zu lernen.

Warum Bildungsfähigkeit mehr zählt als Intelligenz

Leslie Valiant definiert Bildungsfähigkeit als die menschliche Fähigkeit, Wissen über lange Zeiträume hinweg zu sammeln und in neuen, unvorhersehbaren Situationen anzuwenden. Dabei unterscheidet sich dieses Konzept deutlich von der herkömmlichen Vorstellung von Intelligenz. Während Intelligenz oft als eine sofortige Auffassungsgabe oder die Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen, angesehen wird, betont Valiant, dass Bildungsfähigkeit weit darüber hinausgeht.

Die Bildungsfähigkeit umfasst verschiedene Aspekte, die zusammen ein umfassendes Bild des lebenslangen Lernens ergeben:

  1. Schnelles Lernen und flexible Anwendung: Eine zentrale Komponente der Bildungsfähigkeit ist die Fähigkeit, neue Informationen schnell aufzunehmen und diese Einsichten in unvorhergesehenen Situationen anzuwenden. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn jemand ein neues Computerprogramm schnell erlernt und diese Kenntnisse dann kreativ in einem völlig anderen Kontext einsetzt.

  2. „Street Smarts“ und gesunder Menschenverstand: Bildungsfähigkeit beinhaltet auch die praktische Intelligenz, die oft als „Street Smarts“ bezeichnet wird. Es geht darum, Situationen richtig einzuschätzen, soziale Dynamiken zu verstehen und in verschiedenen Umgebungen erfolgreich zu navigieren.

  3. Nutzung formeller und informeller Bildungschancen: Bildungsfähige Menschen erkennen und nutzen Lernmöglichkeiten in allen Lebensbereichen. Sie sehen nicht nur in formalen Bildungseinrichtungen, sondern auch in Alltagserfahrungen, Gesprächen oder Hobbys Chancen zur Weiterentwicklung.

  4. Interdisziplinäres Denken: Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Fähigkeit, Wissen aus verschiedenen Bereichen zu verknüpfen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dies könnte sich darin zeigen, dass jemand Konzepte aus der Biologie auf wirtschaftliche Probleme anwendet oder künstlerische Prinzipien in der Softwareentwicklung einsetzt.

  5. Kritische Bewertung von Informationen: In einer Zeit der Informationsüberflutung ist die Fähigkeit, Informationen kritisch zu bewerten und sich vor Manipulation zu schützen, von entscheidender Bedeutung. Bildungsfähige Menschen können Quellen hinterfragen, Argumente auf ihre Stichhaltigkeit prüfen und Fakten von Meinungen unterscheiden.

“Our educability has been our main asset in developing our civilization, and it enables the rapid spread of useful knowledge. However, it becomes a liability if information that is questionable but not detected as such is added to the mix.” (“Unsere Bildungsfähigkeit war unser Hauptvorteil bei der Entwicklung unserer Zivilisation und ermöglicht die schnelle Verbreitung von nützlichem Wissen. Sie wird jedoch zu einer Schwäche, wenn fragwürdige Informationen hinzukommen, die nicht als solche erkannt werden.”) – Leslie Valiant (Quelle)

Diese Aspekte der Bildungsfähigkeit bilden ein flexibles und vernetztes System des Wissensmanagements. Im Gegensatz zur künstlichen Intelligenz, die in einem festgelegten Rahmen trainiert wird, kann sich der menschliche Geist kontinuierlich weiterentwickeln und sein Wissen in immer neuen Kontexten anwenden.

Valiant kritisiert den Begriff „Intelligenz“, da er seiner Meinung nach zu unscharf definiert und oft missverstanden wird. Intelligenztests und ähnliche Messungen erfassen nur einen Teil dessen, was wirklich wichtig ist, um die Welt in ihrer Komplexität zu verstehen. Bildungsfähigkeit hingegen beschreibt eine breitere Kompetenz: Sie beinhaltet nicht nur das #Lernen aus direkten Erfahrungen, sondern auch das Lernen aus Büchern, Gesprächen oder den Erfahrungen anderer Menschen.

Dieser ganzheitliche Ansatz des Lernens und der Wissensanwendung macht die Bildungsfähigkeit zu einem zentralen Konzept für das Verständnis menschlicher Kognition und für die Gestaltung von Bildungssystemen in einer sich schnell wandelnden Welt.

Leslie Valiant: Pionier der künstlichen Intelligenz

Leslie Valiant ist ein renommierter Informatiker und Mathematiker, der an der Harvard University lehrt. Er hat bedeutende Beiträge zur Entwicklung von maschinellem Lernen und verteilten Rechensystemen geleistet. Für seine Arbeit wurde er unter anderem 2010 mit dem Turing Award ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung in der Informatik. Seine Perspektive auf Bildungsfähigkeit ist besonders relevant im Kontext seiner Forschung zu künstlicher Intelligenz (#KI), da er die Grenzen der Lernfähigkeit von Maschinen im Vergleich zum menschlichen Lernen aufzeigt.

“We need a broader theory of our cognition, beyond currently implemented machine learning. Some existing concepts are not so helpful. There is general appreciation within the psychology community that the concept of 'intelligence' is not one that is well-defined.” (“Wir brauchen eine breitere Theorie unserer Kognition, die über die derzeit implementierte maschinelle Lernfähigkeit hinausgeht. Einige bestehende Konzepte sind nicht sehr hilfreich. In der Psychologie ist man sich weitgehend einig, dass der Begriff der 'Intelligenz' nicht klar definiert ist.”) – Leslie Valiant (Quelle)

Fazit

Valiants Konzept der Bildungsfähigkeit bietet wertvolle Einsichten für das Bildungswesen und die Gesellschaft im Allgemeinen. Im Bildungsbereich wird deutlich, dass es nicht nur darum gehen kann, kurzfristig Wissen zu vermitteln. Vielmehr sollten Schulen und Universitäten darauf abzielen, die Fähigkeit der Lernenden zu fördern, Wissen langfristig zu speichern und es flexibel auf neue Situationen anzuwenden. Kritisches Denken, Problemlösungsfähigkeiten und lebenslanges Lernen müssen im Zentrum moderner Bildung stehen, anstatt nur auf das Auswendiglernen von Fakten zu setzen.

Auch für die Gesellschaft bietet Valiants Konzept wichtige Ansätze. In einer Zeit, in der Desinformation und gezielte Manipulation immer mehr zunehmen, betont Valiant die Notwendigkeit, Menschen zu befähigen, Informationen kritisch zu hinterfragen. #Bildung sollte dazu beitragen, die Bevölkerung gegen gezielte Desinformation zu „härten“, indem sie lehrt, wie man Informationen bewertet und sich gegen Propaganda schützt.

Für mich persönlich zeigt Valiants Konzept, wie wichtig es ist, sich stetig weiterzubilden und offen für neue Erfahrungen zu bleiben. Als Dozent und Coach habe ich erfahren, wie wertvoll es ist, Wissen aus verschiedenen Bereichen zu verknüpfen und über den Moment hinaus zu denken. Durch die bewusste Suche nach neuen Perspektiven und die Reflexion über das, was ich bereits gelernt habe, kann ich meine eigene Bildungsfähigkeit weiter ausbauen – und genau das versuche ich auch meinen Studierenden zu vermitteln.


Bildquelle Domenico Fetti (1588/89–1623): Archimedes Pensativo, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in meinen Notizen und Links wurde NotebookLM von Google verwendet.

Topic #Erwachsenenbildung


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