Gedanken zu Ostern: Rhythmus statt Effizienzdruck

Linderum: Schreibstube im Kloster

Es ist ein Satz, der hängen bleibt: „Wir im Westen befinden uns in einem kollektiven Burnout. Da könnten gewisse Techniken aus dem Kloster helfen. Etwa die Rhythmisierung des Lebens, die Stille. Ohne Stille gibt es keine Visionen, und ohne Visionen können wir die Gesellschaft nicht voranbringen.“ So sagte es Abt Urban Federer vom Kloster Einsiedeln im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 19. April 2025. Vielleicht wirkt er so eindringlich, weil er einen wunden Punkt trifft. Kurz nach Ostern, in einer Phase, in der das Jahr seine erste Ermüdung offenbart und das Licht des Frühlings gegen die Schatten der Überlastung antritt, klingt der Gedanke nach Stille, Rhythmus und Vision wie ein leiser Protest gegen die Betriebsamkeit des Alltags.

Dass dieser Gedanke aus einem Benediktinerkloster stammt, mag auf den ersten Blick erstaunen. Doch wer sich mit der Regel des heiligen Benedikt befasst, erkennt rasch: Es handelt sich um ein jahrhundertealtes, bewährtes Modell der Lebensgestaltung, das in seiner Klarheit und Mässigung bemerkenswert anschlussfähig an die Fragen unserer Zeit ist.

Eine alte Regel – neu gelesen

Ich selbst bin nicht religiös. Aber ich habe einen Teil meiner Schulzeit an einem Internat verbracht, das von Benediktinern geführt wurde. Die Benediktsregel war dort nicht nur Unterrichtsstoff, sondern prägte bis zu einem gewissen Grad auch den Alltag. Manche Prinzipien davon – feste Zeiten, ritualisierte Abläufe, das Zusammenspiel von individueller Verantwortung und gemeinschaftlichem Rhythmus – begleiten mich bis heute als stille Referenz. Vielleicht liegt darin meine Sensibilität für die Relevanz dieser Regel auch jenseits klösterlicher Mauern.

Benedikt von Nursia, der im 6. Jahrhundert lebte, war kein Ideologe der Weltabkehr, sondern ein Suchender, der angesichts der Umbrüche seiner Zeit nach Ordnung und Orientierung verlangte. Die Regel, die er für seine Gemeinschaft in Montecassino verfasste, ist von einer pragmatischen Haltung durchdrungen: Sie gliedert den Tag in Zeiten der Arbeit, des Gebets und der Ruhe. Sie mahnt zur Mässigung, zur Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und zur Anerkennung der eigenen Grenzen. In einer Epoche des Umbruchs, dem Übergang von der Antike zum Mittelalter, in der das Chaos nach Orientierung verlangte, bot sie eine Form – nicht als Korsett, sondern als Raum.

Diese Form ist es, auf die sich Abt Urban bezieht, wenn er von „Techniken aus dem Kloster“ spricht. Es sind keine geheimen Rituale, sondern Prinzipien, die sich auf das Leben ausserhalb der Klostermauern übertragen lassen: der Wechsel von Aktivität und Stille. Die bewusste Rhythmisierung des Tages. Die Entscheidung, Aufgaben nicht endlos fortzusetzen, sondern abzuschliessen, wenn die vorgesehene Zeit verstrichen ist. In all dem steckt eine tiefe Einsicht: Dass menschliches Leben nicht durch die Quantität der erfüllten Aufgaben gewinnt, sondern durch die Qualität der gelebten Zeit.

Zeit als Form, nicht als Ressource

In einem Gespräch mit dem Magazin Big Think beschreibt der Autor Oliver Burkeman die Benediktsregel als ein „Modell der Mässigung und des Rhythmus, das Zeit für Arbeit, Zeit für Gebet und Zeit für Ruhe vorsieht“. Er betont dabei insbesondere einen Gedanken, der dem modernen #Zeitmanagement diametral entgegensteht: dass Aufgaben nicht erst dann beendet werden, wenn sie abgeschlossen sind, sondern wenn die dafür vorgesehene Zeit vorüber ist. Es ist eine Haltung, die dem Druck der ständigen Selbstoptimierung eine Grenze setzt – eine Grenze, die heute oft schmerzlich fehlt.

Der klösterliche Umgang mit Zeit kennt kein Multitasking, keine Unterbrechungen, keine permanente Verfügbarkeit. Er kennt aber auch keinen Perfektionismus. Die Arbeit geschieht im Rahmen des Möglichen, nicht des Idealen. Der Klang der Glocke zum Gebet ist zugleich Signal zur Unterbrechung und Erinnerung daran, dass das Leben nicht auf Erledigung programmiert ist, sondern auf Gegenwärtigkeit. Was zählt, ist nicht der Output, sondern die Hingabe im Moment.

Abt Urbans Hinweis auf die Stille ist in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert. Stille wird heute oft als Abwesenheit von Geräusch verstanden – im besten Fall als Wellnessmoment, im schlimmsten Fall als Leerstelle. In der Regel des heiligen Benedikt jedoch ist die Stille ein aktiver Raum: ein Raum des Hörens, des Innehaltens, der Sammlung. Sie ist die Voraussetzung für jene Art von Vision, von der im Zitat die Rede ist. Nicht im Sinne grosser Zukunftsentwürfe, sondern als innere Ausrichtung, als Klarheit darüber, was im Leben wesentlich ist. In einer Zeit, in der sich viele Menschen getrieben fühlen – von Terminen, Nachrichten, Erwartungen – wirkt dieser Gedanke fast subversiv.

Vision, so verstanden, entsteht nicht aus der Überforderung, sondern aus der Distanz zur Daueraufmerksamkeit. Sie verlangt ein Ausgesetztsein – nicht im Sinne von Schwäche, sondern von Offenheit. Die Regel des heiligen Benedikt schafft solche Räume. Sie erkennt an, dass menschliches Mass nicht im ständigen Leisten liegt, sondern im klugen Wechsel von Tun und Lassen, von Sprechen und Schweigen, von Wirken und Ruhen.

An Ostern, einem Fest der Erneuerung, könnte diese Haltung kaum aktueller sein. Während in Wirtschaft und Gesellschaft vielerorts von #Resilienz die Rede ist, erinnert die Benediktsregel daran, dass Widerstandskraft nicht allein im Durchhalten liegt, sondern im Gestalten von Rhythmen, die das Leben tragen. Sie fragt nicht, wie man schneller wird – sondern wie man sinnvoll lebt.

Vielleicht ist es das, was Abt Urban meint, wenn er sagt, dass ohne Visionen die Gesellschaft nicht vorankommt. Ohne Stille – ohne Räume der Reflexion und ohne die Bereitschaft, sich als Mensch mit Grenzen zu begreifen – entstehen keine tragfähigen Zukunftsbilder. Und ohne diese Bilder bleiben wir in Bewegung, ohne wirklich unterwegs zu sein.

Die Regel des heiligen Benedikt ist kein Allheilmittel. Aber sie ist ein Spiegel. Sie zeigt, was wir im Ringen mit der Zeit vielleicht vergessen haben: dass Lebenskunst weniger mit Kontrolle zu tun hat als mit Hingabe – an einen Rhythmus, der nicht uns antreibt, sondern uns trägt.


Bildquelle Richard Linderum (1851–1926): Schreibstube im Kloster, Dorotheum, München, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet.

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