Habits: Mehr als nur automatisierte Handlungen
Seit geraumer Zeit gehören Habits, also das Herausbilden kleiner und grosser Gewohnheiten, zum Standardrepertoire des Selbstmanagements – oder wie ich es gerne auch nenne: #ProductivityPorn. Eine Reihe populärwissenschaftlicher Bücher hat das Konzept der Habits populär gemacht. Nicht ganz zu Unrecht, viele der propagierten Ideen funktionieren. Auch ich habe Anfang dieses Jahres wieder mit einer Reihe solcher Habits begonnen und so z. B. bereits mehr als 30 Bücher gelesen, indem ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, jeden Tag mindestens 30 Minuten zu lesen. Die beliebten Ratgeber stellen aber häufig eine vereinfachte Sicht auf #Habits dar und behaupten, dass alle stabilen Verhaltensweisen gewohnheitsmässig seien und die Bildung neuer Gewohnheiten automatisch zu positiven, langfristigen Veränderungen führe. Diese Sichtweise wird jedoch der Komplexität von Gewohnheiten nicht gerecht, wie eine aktuelle Studie zeigt.
Duhigg, Clear, Guise & Co.
Was sind nun also die Kernaussagen der drei beliebtesten Bücher zum Thema Habits: Die Macht der Gewohnheit von Charles Duhigg, Atomic Habits von James Clear und Elastic Habits von Stephen Guise?
Alle drei Autoren sind sich einig, dass Gewohnheiten einen enormen Einfluss auf unser Leben haben und tief in unseren Gehirnstrukturen verankert sind. Duhigg beschreibt diesen Prozess der Gewohnheitsbildung als „Chunking“, bei dem unser Gehirn Abläufe automatisiert, um Energie zu sparen. Clear betont ebenfalls die Bedeutung der Häufigkeit für die Bildung von Gewohnheiten: Sie entstehen durch „Frequenz, nicht Zeit“.
Ein weiterer zentraler Punkt ist der dreistufige Kreislauf einer Gewohnheit: Auslösereiz, Routine, Belohnung. Duhigg, Clear und Guise betonen die Bedeutung dieses Kreislaufs und zeigen Möglichkeiten auf, Gewohnheiten zu ändern, indem man die Routine modifiziert, während der Auslösereiz und die Belohnung gleich bleiben.
Die Unterschiede:
Obwohl sich die Autoren in ihren Grundannahmen ähneln, gibt es auch Unterschiede in ihren Ansätzen.
- Die Rolle des Verlangens: Duhigg hebt besonders die Bedeutung des Verlangens als Antriebskraft hinter Gewohnheiten hervor. Er argumentiert, dass wir ein Verlangen entwickeln müssen, um eine neue Gewohnheit erfolgreich zu etablieren. Clear hingegen konzentriert sich stärker auf die Gestaltung der Umgebung und die bewusste Gestaltung von Auslösern, um Gewohnheiten zu verändern.
- Flexibilität vs. Starrheit: Guise betont in seinem Buch „Elastic Habits“ die Bedeutung von Flexibilität bei der Gewohnheitsbildung. Er plädiert für „Mini Habits“ – kleine, leicht zu bewältigende Schritte – und die Möglichkeit, Ziele an unterschiedliche Situationen anzupassen. Dieser Ansatz steht im Gegensatz zu starren Gewohnheitssystemen, die oft scheitern, weil sie die Dynamik des Lebens nicht berücksichtigen.
Was aber sind Gewohnheiten (Habits) wirklich?
Dieser Frage gingen Gardner et al. in ihrer Studie „What is habit and how can it be used to change real-world behaviour? Narrowing the theory-reality gap“ nach [1], welche im Mai 2024 in Social and Personality Psychology Compass veröffentlicht worden ist. Gewohnheiten sind den Autoren zufolge im Wesentlichen „mentale Verknüpfungen zwischen einer Situation (Reiz) und einer Handlung (Reaktion)“. Sie entstehen durch die wiederholte Ausführung einer Handlung in einem bestimmten Kontext, wodurch diese mentale Verknüpfung gebildet wird.
„Forming a habit means connecting a situation you often encounter with the action you usually take. These connections help by creating impulses that push us to do the usual action without thinking. But the pushes from habits are just one of many feelings we might have at any time.“ („Eine Gewohnheit zu formen bedeutet, eine Situation, die man oft antrifft, mit der Handlung zu verbinden, die man normalerweise ausführt. Diese Verbindungen helfen, indem sie Impulse erzeugen, die uns dazu drängen, die übliche Handlung ohne Nachdenken auszuführen. Aber die Impulse von Gewohnheiten sind nur eines von vielen Gefühlen, die wir zu jeder Zeit haben können.“) – Dr. Benjamin Gardner, Co-Autor der Studie
Kritik an der populärwissenschaftlichen Darstellung
In der Studie üben Gardner et al. u. a. die folgende Kritik an der populärwissenschaftlichen Darstellung von Habits:
- Gewohnheiten sind nicht unüberwindbar: Entgegen der landläufigen Meinung sind Gewohnheiten nicht einfach automatisierte Programme, die unser Verhalten steuern. Sie stehen in Konkurrenz zu anderen Impulsen wie Absichten, Plänen und Emotionen, die in einem gegebenen Moment stärker sein und unser Verhalten beeinflussen können.
- Verhaltensänderung ist komplex: Die Bildung einer neuen Gewohnheit garantiert keine dauerhafte Verhaltensänderung. Unvorhergesehene Ereignisse oder Rückschläge können dazu führen, dass man in alte Verhaltensmuster zurückfällt, selbst wenn eine Gewohnheit etabliert ist.
Habit vs. Habitual Behaviour
Es ist wichtig, zwischen „habit“ und „habitual behaviour“ zu unterscheiden. „Habit“ bezieht sich auf den kognitiven Prozess – die erlernte Assoziation zwischen einem Reiz und einer Reaktion. „Habitual behaviour“ hingegen beschreibt die durch diesen Prozess hervorgerufene Handlung. Diese Unterscheidung verdeutlicht, dass Gewohnheiten zwar die Aufrechterhaltung von Verhaltensänderungen unterstützen können, aber nicht automatisch zu nachhaltigen Veränderungen führen.
Nachhaltige Verhaltensänderung erfordert mehr als nur Gewohnheiten
Um eine neue Gewohnheit zu etablieren und aufrechtzuerhalten, sind Strategien erforderlich, die über die reine Wiederholung der Handlung hinausgehen. Dazu gehören beispielsweise Notfallpläne für den Umgang mit Rückschlägen und das bewusste Reflektieren über die Gewohnheit. Auch das Verständnis der eigenen Motivation und die bewusste Entscheidung für die Veränderung spielen eine wichtige Rolle.
„When trying to make a new behaviour stick, it’s a good idea to form a habit and have a backup plan for dealing with setbacks, such as keeping healthy snacks on hand that you can quickly grab on busy mornings.“ („Wenn man versucht, ein neues Verhalten beizubehalten, ist es eine gute Idee, eine Gewohnheit zu formen und einen Notfallplan für den Umgang mit Rückschlägen zu haben, wie zum Beispiel gesunde Snacks bereitzuhalten, die man an hektischen Morgen schnell greifen kann.“) – Dr. Phillippa Lally, Co-Autorin der Studie
Strategien zur Überwindung unerwünschter Gewohnheiten
Unerwünschte Gewohnheiten lassen sich durchbrechen, indem man den Prozess unterbricht, durch den sie in Verhalten umgesetzt werden. Zu den Strategien gehören: [2]
- Die Hemmung von Gewohnheiten: Dabei wird der Gewohnheitsimpuls absichtlich unterdrückt, indem man sich entweder vor Beginn einer Handlung zurückhält oder eine laufende Handlungsabfolge vorzeitig abbricht. Diese Strategie erfordert jedoch, dass man sich der kontextbezogenen Auslöser bewusst ist und die nötige Motivation und Willenskraft aufbringt, die Auslöser zu überwachen und die unerwünschte Reaktion zu hemmen.
- Reduzierung der Verhaltenszugänglichkeit: Dies beinhaltet, es schwieriger zu machen, auf eine gewohnheitsmässige Handlung zu reagieren, nachdem der Impuls ausgelöst wurde, indem man die Handlung entweder ganz verhindert oder den Aufwand für ihre Ausführung erhöht. Wenn man beispielsweise regelmässig online Glücksspiele spielt, könnte man die Sperrung von Glücksspieltransaktionen auf seinen Zahlungskarten veranlassen.
- Unterbrechung von Gewohnheitsauslösern: Dabei wird der Kontakt mit den Auslösern, die die unerwünschten Reaktionen hervorrufen, bewusst eingeschränkt. Dies erfordert, dass man sich der potenziellen Auslöser bewusst ist und diese auch meiden kann. Wenn man beispielsweise durch den Kontakt mit bestimmten Freunden zum Online-Glücksspiel verleitet wird, könnte man den Kontakt zu diesen Freunden einschränken.
- Gewohnheitsersatz: Dabei wird eine Gewohnheitsassoziation direkt durch eine andere ersetzt. In der Praxis erfordert dies Elemente der Gewohnheitshemmung oder der Reduzierung der Verhaltenszugänglichkeit, um eine unerwünschte Gewohnheit zu blockieren, sowie Strategien zur Gewohnheitsbildung, um eine gewünschte Alternative zu fördern. Wenn man beispielsweise die Gewohnheit hat, ungesunde Snacks zu essen, könnte man diese durch gesündere Alternativen ersetzen.
Obwohl Strategien zur Unterbrechung von Gewohnheiten die Wahrscheinlichkeit verringern können, dass gewohnheitsmässiges Verhalten auftritt, ist es wichtig zu beachten, dass sie die zugrunde liegenden Gewohnheitsassoziationen möglicherweise nicht vollständig beseitigen. Daher kann es zu Rückfällen in unerwünschte Gewohnheiten kommen, wenn die Selbstkontrolle nachlässt, das unerwünschte Verhalten leichter zugänglich wird oder man erneut mit den alten Gewohnheitsauslösern konfrontiert wird.
Darüber hinaus sind Strategien zur Unterbrechung von Gewohnheiten nur dann wirksam, wenn man motiviert ist und in der Lage ist, den Gewohnheitsimpulsen zu widerstehen.
Schlussfolgerung
Die populärwissenschaftlichen Bücher bieten wertvolle Werkzeuge und Strategien für die Bildung neuer Gewohnheiten. Die wissenschaftliche Perspektive beleuchtet jedoch die Komplexität des Themas und zeigt, dass Gewohnheiten kein Garant für dauerhafte Verhaltensänderungen sind. Es ist wichtig, sich dieser Nuancen bewusst zu sein und Gewohnheiten als ein Werkzeug unter vielen im Kontext eines ganzheitlichen Ansatzes zur Verhaltensänderung zu sehen.
Fussnoten [1] https://doi.org/10.1111/spc3.12975 [2] https://neurosciencenews.com/habit-myth-psychology-26256/
Bildquellen 1. Nicole Lee, CC BY-NC-SA 2.0, via Flickr
Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in der Studie und in meinen Notizen zu den erwähnten Büchern wurde NotebookLM von Google verwendet.
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