Was ist Prokrastination und wie gehe ich damit sinnvoll um?

Akseli Gallen-Kallela: Symposion

Seit Jahrzehnten kämpfe ich mit dem Thema Prokrastination. Ich habe mich immer wieder intensiv damit befasst, darüber gelesen und verschiedene Methoden ausprobiert, um diesem Problem Herr zu werden. Ironischerweise habe ich es selbst lange aufgeschoben, über dieses Thema zu schreiben. Aber genau dieses Aufschieben – oder eben Prokrastinieren – ist ein weit verbreitetes Problem, das viele Menschen davon abhält, ihr volles Potenzial zu entfalten. #Prokrastination betrifft nicht nur kleine Aufgaben wie das Aufräumen oder das Schreiben eines E-Mails, sondern kann auch grosse Lebensentscheidungen und -ziele beeinflussen. Dieses Problem zu verstehen und damit umzugehen, ist entscheidend für persönliches Wachstum und Erfolg. #Selbstreflexion ist also auch hier eine der Schlüsselkompetenzen.

Ausschlaggebend dafür, dass ich mich nun doch dazu aufrappeln konnte, endlich etwas zum Thema Prokrastination zu schreiben, war die Lektüre von Fuschia M. Sirois’ praktischem Ratgeber Procrastination. What It Is, Why It’s a Problem, and What You Can Do About It. Sirois befasst sich an der Universität von Durham seit über 20 Jahren wissenschaftlich mit dem Phänomen der Prokrastination und hat vor zwei Jahren diesen Ratgeber, der sich hauptsächlich an Studierende richtet, in der Ratgeber-Reihe der American Psychological Association (APA) veröffentlicht. Studierende sind übrigens überdurchschnittlich oft betroffen: Während in der breiten Bevölkerung 15 bis 25 Prozent regelmässig prokrastinieren, sind es bei den Studierenden 50 Prozent. #Lernen macht offenbar überdurchschnittlich anfällig.

Die meisten der nachfolgenden Informationen stützen sich also auf Sirois’ Ausführungen. Ansonsten sind entsprechend Quellen verlinkt bzw. angegeben.

Was ist Prokrastination?

Prokrastination ist das freiwillige Verzögern von Aufgaben trotz negativer Konsequenzen. Es ist wichtig, zwischen dem bewussten Aufschieben zur Verbesserung einer Aufgabe und Prokrastination zu unterscheiden. Wenn das Aufschieben dazu führt, dass eine Aufgabe besser erledigt wird, handelt es sich nicht um Prokrastination. Führt die Verschiebung jedoch zu einer Verschlechterung der Ergebnisse oder negativen Konsequenzen, obwohl man sich dessen bewusst ist, handelt es sich um Prokrastination. Auch Pausen können zu Prokrastination werden, wenn sie nur als Vorwand dienen, um unangenehme Aufgaben zu vermeiden.

Psychologische Ursachen für Prokrastination

Prokrastination wird oft fälschlicherweise als Ergebnis von Faulheit oder schlechtem Zeitmanagement betrachtet. In Wirklichkeit liegt der Hauptgrund in der schlechten Bewältigung negativer Gefühle. Menschen neigen dazu, unangenehme Aufgaben zu vermeiden, weil sie damit verbundene negative Emotionen wie Angst, Unsicherheit oder Selbstzweifel vermeiden möchten.

Adam Grant argumentiert in Hidden Potential – Die Wissenschaft des Erfolgs ebenfalls, dass Prokrastination häufig fälschlicherweise mit Faulheit gleichgesetzt werde. Tatsächlich handelt es sich aber nicht um eine Vermeidung von Erfolg, sondern um eine Unterdrückung unangenehmer Gefühle, die mit der jeweiligen Aufgabe verbunden sind. Langfristig führe dies jedoch dazu, dass das eigentliche Ziel aus den Augen verloren wird (S. 44/45).

John Perry stellt in seinem (nicht immer ganz ernst gemeinten) Buch Einfach liegen lassen: Das kleine Buch vom effektiven Arbeiten durch gezieltes Nichtstun das Ideal des rationalen Handelns infrage. Er argumentiert, dass dieses Ideal zu unnötigem Leid führt, da es unrealistische Erwartungen an menschliches Verhalten stellt. Er hebt hervor, dass viele Sozialwissenschaften, wie Psychologie und Soziologie, belegen, dass Menschen nicht immer vernunftgesteuert handeln: „Eine äusserst merkwürdige Annahme, liefern doch andere Sozialwissenschaften wie die Psychologie und Soziologie Berge von Beweisen dafür, dass wir keinesfalls so ticken“ (S. 7). Perry beschreibt sich selbst als „Aufschieber mit Plan“ und betont, dass man durch bewusstes Aufschieben bestimmter Aufgaben produktiv sein kann: „Ein solcher Mensch schafft enorm viel, indem er anderes links liegen lässt“ (S. 8). Perrys Idee des „strukturierten Prokrastinierens“ greife ich später bei den Strategien gegen das Prokrastinieren nochmals auf.

Zusätzlich spielen auch folgende psychologische Faktoren eine Rolle:

Genussvolle Ablenkungen und deren negative Folgen

Prokrastination wird häufig durch angenehme Ablenkungen wie das Anschauen von Videos begünstigt. Diese Aktivitäten lösen zwar kurzfristig positive Gefühle aus, führen aber langfristig zu Schuldgefühlen, Frustration und Selbstkritik, weil man die eigentliche Aufgabe nicht erledigt hat. Studien belegen, dass diese negativen Emotionen ernsthafte Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden haben können.

Verbindung zum zukünftigen Selbst

Die Relevanz der Verbindung zum zukünftigen Selbst im Kontext der Prokrastination ist ebenfalls entscheidend. Menschen, die eine schwächere Bindung zu ihrem zukünftigen Ich haben, neigen eher dazu, Aufgaben aufzuschieben. Einige Prokrastinierer glauben sogar, ihr zukünftiges Ich verfüge über besondere Fähigkeiten und könne die Aufgabe schneller und effektiver erledigen. Dieser Denkfehler sollte erkannt und überwunden werden.

Strategien zur Überwindung der Prokrastination

In ihrem Ratgeber schlägt Sirois eine Reihe von Strategien mit entsprechenden Übungen vor. Nachfolgend habe ich kurz jene zusammengefasst, welche mir am geeignetsten scheinen.

1. Selbstmitgefühl entwickeln

Selbstmitgefühl (self-compassion) ist eine der effektivsten Methoden, um Prokrastination zu bekämpfen. Indem man sich selbst mit Freundlichkeit und Verständnis begegnet, anstatt sich zu kritisieren, kann man negative Emotionen lindern und eine positive Haltung fördern. Menschen, die nicht selbstmitfühlend sind, erkennen den Nutzen von Selbstmitgefühl oft nicht.

2. Selbstvergebung üben

Selbstvergebung (self-forgiveness) bedeutet, sich die eigenen Fehler und das Aufschieben zu verzeihen. Dies hilft, sich von den negativen Gefühlen zu befreien und einen Neustart zu ermöglichen. Der Prozess umfasst das Akzeptieren der eigenen Fehler, das Erleben der damit verbundenen Gefühle und schliesslich das Überwinden dieser Gefühle. Studien zeigen, dass Selbstmitgefühl und Selbstvergebung die Motivation steigern und effektiver sind als übermässige Selbstkritik.

3. Aufgaben definieren und in kleine Schritte aufteilen

Grosse Aufgaben können überwältigend wirken und zu Prokrastination führen. Bevor man mit einer Aufgabe beginnt, ist es wichtig, die Aufgabe klar zu definieren, anstatt sich von ihrer Grösse entmutigen zu lassen. Indem man sie in kleinere, machbare Schritte unterteilt, können sie leichter angegangen und abgeschlossen werden. Dieser Prozess schafft Erfolgserlebnisse und fördert die Motivation.

4. Ablenkungsfreie Umgebung schaffen

Ein Arbeitsumfeld ohne Ablenkungen ist entscheidend. Dies bedeutet, einen Ort zu finden, an dem man sich voll und ganz auf die Aufgabe konzentrieren kann, ohne von äusseren Reizen abgelenkt zu werden. Ein spezieller Arbeitsplatz, an dem man ungestört arbeiten kann, kann die Konzentration enorm verbessern. Ablenkungen wie Fernseher, soziale Medien oder laute Musik sollten während der Arbeit vermieden werden. Zu Hause kann es aufgrund der vielen Ablenkungen schwierig sein, produktiv zu arbeiten.

5. Sofort anfangen

Oft hilft es, eine Aufgabe einfach sofort zu beginnen, auch wenn es nur für wenige Minuten ist. Der anfängliche Schritt kann den Widerstand brechen und es erleichtern, weiterzumachen.

Strukturiertes Prokrastinieren nach Perry

Perrys Konzept des „strukturierten Prokrastinierens“ kann ebenfalls hilfreich sein. Dabei wird die Prioritätenliste so strukturiert, dass wichtige und dringende Aufgaben an oberster Stelle stehen. Dies motiviert den Prokrastinierer, andere, weniger wichtige Aufgaben zu erledigen: „Der Aufschieber braucht seine Aufgaben nur auf diese Weise planvoll zu sortieren und wird so zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft“ (S. 13). Perry betont, dass es wichtig ist, Projekte auszuwählen, die zwar dringlich erscheinen, aber nicht unbedingt sofort erledigt werden müssen: „Erstens muss es so aussehen, als wäre eine bestimmte Frist einzuhalten (obwohl das in Wirklichkeit gar nicht stimmt). Zweitens muss es so aussehen, als wären sie unheimlich wichtig (was genauso wenig stimmt)“ (S. 14).

Ein weiterer Aspekt ist die „Task-Triage“, bei der Aufgaben nach ihrer Dringlichkeit und ihrem Nutzen sortiert werden. Perrys Methode der „Task-Triage“ kann helfen, Prioritäten zu setzen und die Aufgaben effizienter zu erledigen.

Ein unerwarteter Vorteil des strukturierten Prokrastinierens ist, dass sich manche Aufgaben von selbst erledigen, wenn man sie lange genug aufschiebt. Perry empfiehlt: „Halten Sie sich lieber an folgenden, viel besseren Tipp: Erledige nie etwas, was sich morgen vielleicht schon von selbst erledigt hat.“ (S. 57).

Fazit

Prokrastination ist ein komplexes Phänomen, das tief in unseren psychologischen Mustern verwurzelt ist. Indem man die zugrunde liegenden Ursachen versteht und gezielt Strategien anwendet, kann man lernen, mit Prokrastination umzugehen und ein produktiveres und erfüllteres Leben zu führen. Strukturiertes Prokrastinieren kann dabei eine hilfreiche Methode sein, um produktiv zu bleiben, auch wenn man Aufgaben aufschiebt:

„Es geht also nicht darum, die Prokrastination zu überwinden, sondern darum, klüger auszuwählen, was man aufschiebt, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“ – Oliver Burkeman, 4000 Wochen: Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement, S. 66


Literatur

Bildquelle Akseli Gallen-Kallela (1865–1931): Symposion, Privatsammlung, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.

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