Wie wir im Alter das Glück neu lernen können

Renoir: Bal du moulin de la Galette

Seit 2020 lese ich regelmässig und mit wachsender Neugier die philosophisch angehauchten Kolumnen von Arthur C. Brooks im Magazin „The Atlantic“. Seine Texte tragen Überschriften wie „How to Be Happy Growing Older“ oder „The Seven Habits That Lead to Happiness in Old Age“ und sind weit mehr als populärpsychologische Ratgeber. Brooks schreibt als Sozialwissenschafter, als ehemaliger Thinktank-Präsident, als Ehemann und Vater. Vor allem aber schreibt er als jemand, der selbst erfahren hat, wie schwierig es ist, wirklich glücklich zu werden. Nun, da ich ebenfalls 50 geworden bin und die Frage nach dem #Glück in der zweiten Lebenshälfte brennender wird, habe ich eine Reihe seiner zentralen Gedanken zusammengetragen und mit der nötigen kritischen Distanz betrachtet.

Arthur C. Brooks, Jahrgang 1964, lehrt heute an der Harvard Kennedy School und an der Harvard Business School. Sein Forschungsgebiet umfasst Glück, Führung und Sinn. In Interviews, Büchern und Kolumnen vertritt er eine Haltung, die zwischen wissenschaftlicher Fundierung und spiritueller Lebenskunst oszilliert. Seine zentrale These lautet, dass die zweite Lebenshälfte eine zweite Chance bietet, sofern wir bereit sind, sie aktiv zu gestalten.

Was mich an Brooks fasziniert, ist sein Ansatz. Er weiht uns nicht in eine Formel ein, sondern spricht vom Glück als einer Fähigkeit, die man einüben muss. Was mich allerdings skeptisch stimmt, ist seine oft eng auf das Individuum fokussierte Perspektive. Menschen, die krank sind, arm oder allein leben, werden in seinen Texten eher am Rande behandelt. Seine Ratschläge setzen ein Mass an Wahlfreiheit und Ressourcen voraus, das nicht allen zur Verfügung steht. Trotz dieser Einschränkungen lohnt es sich, Brooks’ zentrale Gedanken genauer zu betrachten, da sie wichtige Impulse für das Verständnis des Alterns liefern.

Die zweite Lebenshälfte ist eine zweite Chance, aber keine Garantie

Brooks beschreibt zwei Intelligenzkurven, die sich im Lauf eines Lebens kreuzen. Die erste, die sogenannte „fluide Intelligenz“, steht für Geschwindigkeit, Innovation und Problemlösung. Sie nimmt mit etwa 40 Jahren langsam ab. Parallel dazu steigt die „kristalline Intelligenz“ an, die Erfahrung, Urteilsvermögen und Mustererkennung umfasst. Wer diese zweite Kurve bewusst nutzt, kann im #Alter nicht nur klüger, sondern auch zufriedener werden.

Brooks selbst hat diesen Wechsel vollzogen. Mitten in einer erfolgreichen Karriere als Thinktank-Leiter trat er zurück, um sich dem Thema Glück zu widmen. Er beschreibt diesen Schritt als angstbesetzt, aber notwendig. Der Grundgedanke dahinter ist einleuchtend. Wer im Alter am früheren Leistungsideal festhält, läuft Gefahr zu verbittern. Wer hingegen loslassen kann, gewinnt neue Freiheiten und Perspektiven. Diese Erkenntnis führt direkt zu einem weiteren zentralen Punkt in Brooks’ Denken.

Beziehungen schlagen Status, besonders ab der Lebensmitte

In seinen Gesprächen mit älteren Menschen stösst Brooks auf ein wiederkehrendes Motiv. Viele blicken auf ein erfolgreiches Leben zurück und fragen sich dennoch, wofür das alles gut war. Reichtum, Einfluss, Ruhm bleiben ohne tragende Beziehungen erstaunlich hohl. Deshalb plädiert Brooks für einen strategischen Perspektivenwechsel. Nicht die Karriere, sondern das Netz an sozialen Bindungen sei die tragende Infrastruktur für ein erfülltes Altern.

Er fordert dabei einiges von seinen Lesern. Menschen sollen sich aktiv um Versöhnung bemühen, frühere Vernachlässigungen eingestehen und Verantwortung für emotionale Defizite übernehmen. Dass dies nicht allen gelingt oder möglich ist, reflektiert er allerdings kaum. Familiäre Traumata, zerbrochene Freundschaften oder schlicht fehlende soziale Kompetenzen werden in seinem optimistischen Weltbild eher ausgeblendet. Dennoch bleibt seine Botschaft überzeugend: Glück ist kein individueller Aufstieg, sondern entsteht in einem sozialen Beziehungsgeflecht. Wer dieses vernachlässigt, zahlt später einen hohen Preis.

Vier tragende Säulen statt flüchtiger Erfolge

Brooks fasst seine Empfehlungen in ein eingängiges Modell zusammen. Glück ruht auf vier Säulen: Glaube, Familie, Freundschaften und sinnvolle Arbeit. Dabei meint „Glaube“ nicht zwingend Religion, sondern eine Haltung der Selbstrelativierung. Wer sich selbst als das Zentrum der Welt versteht, gerät in späteren Jahren leicht in eine Sinnkrise.

Diese vier Säulen sind keine Garantie für Glück, aber sie bilden den Rahmen, in dem sich Glückserfahrungen verdichten können. Besonders betont Brooks die richtige Reihenfolge: erst die Beziehungen, dann die Arbeit. Wer das umkehrt, lebt im ständigen Mangel. Ein Beispiel dafür wäre der erfolgreiche Manager, der seine Familie für die Karriere vernachlässigt und im Ruhestand feststellt, dass ihm die emotionalen Bindungen fehlen, die seinem Leben Sinn geben könnten.

Glück ist eine Frage der Übung, nicht der Umstände

Ein zentraler Gedanke durchzieht alle Texte von Brooks. Glück ist erlernbar. Zwar spielt das Temperament eine Rolle, doch entscheidend seien Gewohnheiten. Menschen, die sich regelmässig mit Sinnfragen beschäftigen, Dankbarkeit einüben und achtsam mit ihren Emotionen umgehen, sind im Alter nachweislich zufriedener.

Dabei hebt Brooks hervor, dass auch Persönlichkeitsveränderungen möglich sind. Studien zeigen, dass sich Eigenschaften wie Extraversion, Gelassenheit oder Freundlichkeit trainieren lassen. Das Altern sei also keine Phase der Defizite, sondern ein Bereich bewusster Lebensgestaltung. Das mag fordernd klingen, ist aber eine der hoffnungsvollsten Passagen in Brooks’ Denken. Gleichzeitig zeigt sich hier erneut seine Schwäche für individualistische Lösungen, die strukturelle Probleme wie Armut, Krankheit oder soziale Isolation ausblenden.

Altern kann die bessere Lebensphase sein – aber nur, wenn wir es zulassen

Entgegen kultureller Klischees sieht Brooks im Alter keinen Niedergang, sondern eine Entwicklungschance. Studien belegen tatsächlich, dass Menschen mit den Jahren empathischer, weniger neurotisch und emotional stabiler werden. Selbstwertgefühl, Gelassenheit und Dankbarkeit nehmen zu. Das Altern sei nicht einfach ein Verfall, sondern eine Neuorientierung dessen, was im Leben zählt.

Doch auch hier gilt, dass das nicht automatisch passiert. Wer Erfüllung im Alter erleben möchte, muss bereit sein, umzudenken, loszulassen und neu zu beginnen. Das kann unbequem sein und erfordert oft schmerzhafte Einsichten. Aber vielleicht ist gerade das der Sinn des Alterns: Die Welt nicht mehr erobern zu wollen, sondern sie wieder schätzen zu lernen. Allerdings bleibt Brooks auch hier die Antwort schuldig, wie Menschen mit schweren Verlusten, chronischen Krankheiten oder finanziellen Sorgen diese positive Umdeutung schaffen sollen.

Ein Fazit mit gemischten Gefühlen

Arthur C. Brooks ist kein Guru und keine Lichtgestalt, und das macht ihn so lesenswert. Seine Texte zeigen einen Menschen, der viel erreicht hat, an sich selbst gescheitert ist und daraus gelernt hat. Nicht alle seine Vorschläge lassen sich einfach übertragen, und nicht alles wirkt gleich überzeugend. Seine Ratschläge funktionieren am besten für Menschen mit stabilen Verhältnissen und gewissen Privilegien. Aber die grundsätzliche Richtung stimmt: Wer die zweite Lebenshälfte als Einladung versteht, neue Akzente zu setzen, wird vielleicht nicht automatisch glücklich, aber bestimmt klüger.

Und falls das Glück dann doch mal ausbleibt? Dann hilft möglicherweise ein Spaziergang, eine gute Frage oder die Lektüre eines dieser Brooks-Texte, die ich seit 2020 so gerne lese. Man wird ja schliesslich nicht jünger – aber mit etwas Glück und den richtigen Umständen durchaus weiser. Ob das allerdings für alle reicht, die ihre zweite Lebenshälfte vor sich haben, bleibt eine offene Frage.


Bildquelle Pierre-Auguste Renoir (1786–1856): Bal du moulin de la Galette, Musée d'Orsay, Paris, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.

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