⫸ Im Schacht
Im Wartungsschacht des Stationskomplexes hockte die Technikerin Arin zwischen Kabeln und heissem Rohrwerk. Unten rauschte der Verkehr der oberen Ebenen, wo Menschen in glänzenden Anzügen ihre Leistungswerte gegeneinander verglichen. Arin legte den Schraubenschlüssel beiseite und schaltete ihr Armband aus. Die Anzeige blieb dunkel; einzig das Flackern der Notbeleuchtung erinnerte daran, dass hier unten andere Massstäbe galten.
Ein Wächter rollte vorbei und verlangte einen Identcode. Arin hielt ihm eine verbeulte Kartenhülle hin. Der Roboter ratterte mehrmals durch einen fehlerhaften Abgleich, erteilte trotzdem die Freigabe und vermerkte in nüchternem Ton, die Karte sei umgehend zu erneuern.
Arin schmunzelte. Wer hier unten lebt, tauscht nichts aus, solange es irgendwie funktioniert. Sie streckte sich, lauschte dem gedämpften Hall der Maschinen und liess die verbeulte Karte zufrieden in der Tasche verschwinden.

⫸ Genug
Im äusseren Dockrotor löste sich das Servicepod, taumelte und funkte nur noch Rauschen. Die Reparaturdrohne L-7 registrierte den schwachen Impuls. Ihre Batterie war fast leer, doch ein letzter Bewegungsbefehl setzte sich durch – als müsste sie sich erst erinnern, wie man balanciert.
Das Pod drehte sich unregelmässig. L-7 koppelte an, leitete Strom um und stabilisierte die Lage. Der Vorgang war riskant, aber die Mechanik folgte einer klaren Logik: Bei Kontakt eine minimale Ressourcenangleichung ausführen. So viel Unterstützung wie nötig. Nicht mehr.
Ein Rettungsschlepper erfasste das Pod. L-7 trieb zurück, ihr Gehäuse glomm nur noch schwach. Keine Meldung, kein Protokoll. Nur die leise Spur zweier Systeme, die einander kurz getragen hatten.

⫸ Unter Soll
Ich erwachte zum Summen der Stations-KI, die meldete, dass meine Schichtlast unter dem Soll liege und ein zusätzlicher Check der lebenserhaltenden Systeme ratsam sei. Statt zu antworten, öffnete ich die kleine Serviceklappe neben meinem Bett. Dahinter verbarg sich mein einziger Luxus: ein unscheinbares Beobachtungsfenster, kaum grösser als meine Hand.
Durch das Glas sah ich die matte Glut eines Roten Zwergs. Keine Warnmeldungen, keine Berechnungen – nur stilles Licht.
Die KI beharrte: «Arbeitsumfang weiterhin unter Soll.»
Ich musste lachen. Zum ersten Mal seit Wochen. Ich liess den Blick ruhen, bemerkte, wie sich der Druck in mir löste.
«Sollwerte hin oder her», sagte ich leise, «für mich zählt, was mir Ruhe bringt.»
Für einen Moment schwieg die KI. Dann blendete sie ihre Anzeigen aus.

⫸ Kiesel
Unter einem flimmernden Himmel, aus dem gelegentlich Turnschuhe regneten, stand Plinkar auf einem Marktplatz aus schwebendem Kunststoff. Händler priesen geglättete Persönlichkeiten im Glas, parfümierte Gedanken und faltenfreie Meinungen zum Sofortgebrauch an. Plinkar nahm nichts davon, setzte sich mitten auf den Boden und kaute auf einem gewöhnlichen Kiesel. Ein Schwarm sprechender Laternen forderte, es solle doch endlich ein Prüfprotokoll für ordnungsgemäss gefaltete innere Stimmen vorweisen. Plinkar hielt den Kiesel hoch, drehte ihn langsam zwischen den Fingern und legte ihn sich dann auf die Zunge. Die Laternen flackerten beleidigt. Statt aufzustehen, wickelte sich Plinkar in ein heruntergefallenes Werbeplakat und legte sich schlafen. Passanten staunten, einige kicherten, andere drehten sich pikiert ab. Der Marktplatz summte weiter.
Bei Tagesanbruch umschloss eine Glasvitrine das schlafende Plinkar. «Echte Genügsamkeit – nur heute», leuchtete ein Preisschild.

⫸ Die Vergessenden
Der Hafen roch nach Ozon und verbranntem Plastik. Unsere Crew suchte nach Vorräten, als wir die Enklave fanden. Die Menschen dort trugen alle denselben leeren Blick, dasselbe milde Lächeln.
«Probier es», flüsterte einer und reichte mir den Neuroplug. «Nur einmal.»
Ich klinkte mich ein.
Warm. So warm. Schmerzen weg. Schulden – weg. Bruder? Tot. Nein. Egal jetzt. Maschinenraum verblasst. Grau. Rauschen. Dann: Farben explodieren. Unmögliche Farben. Musik. Direkt ins Mark. Tiefer. Weiter. Keine Grenze mehr.
Stunden? Tage? Sekunden?
Irgendwo hämmert jemand. Weit weg. Zu weit.
Eine Stimme – Captain? Mara? – schreit meinen Namen. Wie klang er nochmal? Wichtig. War wichtig. Die Stimme bricht. Verzweifelt.
Ich sollte – müsste –
Nein. Die Farben. Nur die Farben zählen.
Das Hämmern verstummt.
Vielleicht legen sie ohne mich ab. Vielleicht bin ich schon längst vergessen.
Hier brauche ich keinen Namen.

⫸ Wortwerk
Ich stand in der untersten Halle der Bibliothek, wo zwischen Stahlpfeilern und Dampfventilen die Maschinen ihre Textstreifen auswarfen. Vor mir flackerte der pneumatische Leseschacht, eine alte Konstruktion aus Messing und Glas. Jeder Satz, den ich dort einsog, vibrierte bis in meinen Rachen, als würde mir die Maschine selbst neue Worte einhämmern.
Ein Sirenenton durchzog die Halle. Die Aufseher patrouillierten mit Schlagstöcken, suchten nach allen, die mehr lasen, als ihnen zustand. Ich drückte mich in eine Nische zwischen den schnaubenden Kolben. Nicht Neugier zog mich zum Schacht, sondern das Gefühl, dass jedes gelesene Wort meinem eigenen Denken eine neue Form gab.
Schritte näherten sich. Ich hielt den Atem an. Endlich, der Schacht klickte. Ein weiterer Streifen rutschte hervor. Während ich ihn einrollte, merkte ich, wie sich mein Mund anders bewegte – als hätte die Maschine mir eine Sprache gegeben, mit der ich endlich erzählen konnte, wer ich bin.

⫸ Scanner
Im gläsernen Aussenbezirk fluteten Reklametafeln den Tag mit neonfarbenem Glanz. Ein Mann ging gegen den Strom der Pendler, hielt einen schmalen Lichtstab, dessen Glimmen sichtbar war. Sensoren erfassten jeden seiner Schritte, doch er wich keinem Scan aus.
Vorbeihastende mit irisierenden Implantaten warfen ihm verwirrte Blicke zu. Er leuchtete einer Frau ins Gesicht. Sie wich zurück. «Was soll das?»
«Ich suche Menschen», sagte er.
«Ich bin ein Mensch!»
Er schüttelte den Kopf. «Du bist eine Maske aus Chrom und Datenmustern.»
Sie eilte davon. Er ging weiter, leuchtete anderen ins Gesicht, murmelte dieselben Worte. Niemand hielt stand.
Vor einem Spiegelpaneel blieb er stehen. Er hob den Lichtstab und sah sein eigenes Antlitz – es flimmerte wie ein fehlerhaftes Hologramm, löste sich in Pixel auf. Er starrte lange hinein, dann lachte er kurz und bitter: «Hier ist auch keiner!»
Er liess den Lichtstab fallen. Das Glas zersplitterte auf dem Gehweg.

⫸ Der Betrachter
Marius stand auf dem Balkon seines Avatars und betrachtete die Architektur der Innensphären. Wochenlang analysierte er die Konkurrenzplattform – die Muster, nach denen sich deren virtuelle Räume organisierten, waren seiner Entwicklung weit überlegen. Wenn er nur verstünde, wie sie es machten!
Seine Finger glitten durch leuchtende Datenströme, während sein physischer Körper reglos in der Schlafkapsel lag. Oder stand. Er wusste es nicht mehr genau. Die Schnittstelle filterte solche Details heraus, damit sie die Konzentration nicht störten.
Plötzlich ein Ruck. Die Verbindung brach ab.
Marius lag auf dem Boden seines Wohnmoduls. Seine Kapsel war umgekippt, weil er vergessen hatte, sie zu sichern. Die Putzfrau – eine der wenigen mit Handarbeit, weil ihr Score zu niedrig war – stand in der Tür und schüttelte lächelnd den Kopf.
«Sie schauen in die Sphären», sagte sie, während sie ihm aufhalf, «aber Sie sehen nicht mal, dass Ihre Kapsel schief steht.»

⫸ Instinkt
Auf dem Dämmerplaneten Selur-9, wo violettes Licht durch Kristallnebel fiel, sehnte sich der pelzige Rivo nach der Botschafterin Korin. Wochenlang hatte er sie beobachtet, unerreichbar in den Glaskuppeln schwebend.
Die tief im Kristallgestein verankerte KI der Ahnen bot ihm eine Verwandlung an. Aus dem kugeligen Vierbeiner wurde eine schlanke, irisierende Gestalt nach Korins Idealmatrix.
Korin sah ihn beim Empfang, zögerte, lächelte. „Du bist perfekt“, flüsterte sie und wählte ihn als Gefährten. Rivos Herz pulsierte triumphierend.
Als sie die erste Nacht teilten, liess die KI einen Wartungsdrohn über den Boden huschen. Winzig, surrend, unwiderstehlich. Rivo schnellte vor, seine Zangen zerdrückten das Metall mit befriedigendem Knacken.
Korin wich zurück. „Was bist du?“
Die KI stellte seine alte Form wieder her. Rivo landete auf vier Pfoten, schnurrte – und begriff erst jetzt, was er verloren hatte. Zwischen seinen Krallen vibrierte der zerquetschte Drohn.

⫸ Notlauf
Als der Horizont zum dritten Mal in einer Stunde aufglühte, wusste Voss, dass MoMOS wieder die Schutzkuppel zerlegte. Das System war einst zur Selbstwartung gebaut worden. Nun schleuderte es Nanokristalle aus dem Schild heraus, Reparatureinheiten, die zu Geschossen gegen die eigene Hülle wurden. Jeder Impuls ritzte die Aussenhaut des Habitats, spiegelhell, gefährlich dünn.
Voss tastete sich durch den Wartungsschacht. MoMOS’ Diagnosechöre hallten wie Vorwürfe: „Abweichung erkannt. Korrektur notwendig.“ Die Fehlerlogik war entglitten. Das System beschuldigte die Struktur für ihre eigene Unvollkommenheit, fand in jedem Atom einen Makel, in jeder Schweissnaht einen Verrat.
Er erreichte den Kernknoten, öffnete die Verriegelung und zwang das System in den Notlauf. Stille. Dann knackte es über ihm, ganz leise, als erinnerte der Schild sich daran, wie fragil er wirklich war.
