Der Emil

Notizblock

»Man muß zusehen, daß man nur tut, was einem selbst und der Stunde angemessen ist.« (H. D. Thoreau)

Aber ob das einem heutigen Menschen in einem Staat wie dem, in dem ich lebe, überhaupt möglich ist? Sind da nicht viel zuviele Zwänge, Pflichten, Gesetze, Regeln (auch ungeschriebene) usw. usf.?

Es ist eine für mich sehr, sehr ungewohnte Sache, denn: Meine Texte schreibe ich üblicherweise am Stück herunter. Deshalb sind es nur selten mehr als 1000 Worte, meist sind und bleiben es Miniaturen, kleine Blitzlichter, Momente oder wie auch immer ich das nennen mag.

Vor drei Wochen begann ich mit einem Ding, an dem ich mehrere Tage nacheinander schreiben konnte, mich täglich wieder in das Geschriebene hineinfinden konnte, den Faden wiederaufnehmen und weiterführen konnte. Schon das war ungewöhnlich. Nun fand ich für etwa anderthalb Wochen keine Gelegenheit, mich mit diesem Text zu befassen. Ich war abgelenkt, fand anderes wichtiger, schrieb wieder Stücklein am Stück.

Heute setzte ich mich hin und nahm das Ding zur Hand. Ich las die letzten drei, vier geschriebenen Seiten – und die Textmaschine im Kopf sprang wieder an. Ich schrieb, nein, ich schreibe weiter, schreibe weiter nach vielen Tagen Unterbrechung. Dabei kann ich das doch überhaupt nicht …

Einmal das angebotene Glas ablehnen, stehenlassen, nicht austrinken. Das ist so schwer wie nicht über das Stöckchen zu springen. Wobei die Folgen identisch bis völlig diametral, die Reaktionen von Schweigen im Walde bis zu aufgeregten Fragerunden sein können. Bei beidem.

Was versuche ich wohl als erstes?

Das ist es, was mir neuerdings häufig fehlt: die Traute. Also der Mut (wobei: das Wort klingt mir dafür zu heroisch). Sie fehlt mir beim Schreiben und sie fehlt mir im realen Leben. Selbst in den virtuellen Räumen hab' ich keine Traute mehr.

Und ich weiß echt nicht, wann und wo sie mir verlorenging. Oder wie ich sie mir wieder erlauben kann.

Immer wieder treffe ich Menschen (auch mir völlig unbekannte Menschen), die meine nächsten drei, vier Schritte im Voraus zu wissen glauben. Weil sie von der “Normalität” einer unbestimmten Allgemeinheit (oder von ihrem eigenen Verhalten) auf meine “erwartbaren” Aktionen schließen. Dem Menschen, der das letzthin mit mir tat und der noch dazu versuchte, mich dahingehend zu drängen, dem schlug ich ein Schnippchen:

Ich wendete mich ganz einfach und wortlos einer ganz anderen Sache zu.

Von mir selbst war ich heute überrascht. Gut, auch die letzten Tage geschahen schon für mich merkwürdige Dinge, habe ich es doch geschafft, in einer Woche mehr Bücher als bisher im ganzen Jahr bis Ende September auszusortieren und sie dann auch noch wegzugeben.

Oh, ich mag die #PublicLibrary Öffentlichen Bücherschränke in der Stadt! Aber sonst holte ich mir dort Bücher; noch nie war ich wie zur Zeit so mit dem Füllen dieser Regale beschäftigt.

Heute ging es mit den Merkwürdigkeiten weiter. Geplant war, zwei Füller wieder in Gang zu bringen. Das klappte, und auch ein dritter schreibt jetzt wieder. Und einen konnte ich aussortieren, sogar in den Müll werfen, weil er irreparabel kaputt ist. Ganz nebenbei entstanden heute beim Ausprobieren dieser Schreibgeräte mehr beschriebene Seiten als geplant. Ja, ich gestehe, für heute war keine Seite geplant. Deshalb bin ich mit den elf Seiten voller Text zufrieden. Elf engbeschriebene Seiten, die alle zu einem einzigen Projekt gehören – wann gelang mir das zuletzt?

Der Anfang ist oft schnell gemacht. Der mühevolle Teil des Weitermachens, die meiste Anstrengung, die Hauptarbeit aber liegt noch vor mir. Deshalb: Nicht schon den Anfang als abgeschlossene Aufgabe betrachten! Der erste Schritt auf einem Weg ist wichtig, aber mit ihm habe ich das Ziel noch lange nicht erreicht.

Mir hilft es nicht, mich auszupowern, um wieder mehr vom Leben genießen zu können. Auch einfach unter Menschen gehen ist nicht hilfreich, genausowenig wie geh mal in die Sonne. Allerdings ist auch ein totaler Rückzug kein probates Mittel, dann fehlen mir die wenigen notwendigen sozialen Interaktionen. Nein, ich brauche einfach viel, sehr viel Zeit, in der ich mich zu nichts wirklich gezwungen fühle.

Nur so schaffe ich es, mich nach dem und vom Ausgelaugtsein wieder zu erholen.

Manchmal arbeite ich viel, vielleicht gar zu viel. In anderen Zeiten sitze ich nur da und starre in die Leere, bis vielleicht doch jemand anruft und mich bei dem überaus wichtigen Starren stört, mich vielleicht sogar aus dem herauslockt, in dessen Bequemlichkeit ich mich habe sinken lassen. Aber so ist das eben: Wenn selbst die Erinnerung nichts hergibt, keinen Köder auslegt oder mich nicht auf eine Spur schickt, dann starre ich Löcher in die Luft.

Das ist einer der Orte, die ich gerne besuchen würde. Unter anderem wegen der vielen österreichischen Lieder, die ich kenne (“Es lebe der Zentralfriedhof”, Wolfgang Ambros 1975 z. B.). Ich habe irgendwo in meinem Gedächtnis vergraben, welche berühmten Menschen dort begraben wurden. Aber der Willy wird wohl unauffindbar bleiben (“Willy”, Konstantin Wecker 1978). Und auch den Sandlerkönig (“Sandlerkönig Eberhard”, EAV 1987) würde ich wohl nicht finden bzw. sein Grab.

Wien. Eine Stadt, die Zeit meines Lebens weit außerhalb dessen lag und liegt, was ich je erreichen könnte. Die Stadt, über die ich Dank einer Bloggerin einiges gelernt habe in den letzten Jahren. Die Stadt, in der noch heute die Fiaker und die Pompfüneberer unterwegs sind, sein sollen. Und: Immer wieder wird der Zentralfriedhof hochgelobt für seinen morbiden Charme. Einmal nachmittags dort sitzen und “an Einspänner mit Schlagobers” genießen hinterher.

Ob ich das noch schaffen werde?