Advent-Gedanken

Wenn ich auf mein Leben schaue, ist es vor allem sehr viel Bewegung. Zwei Berufe, mehrere Wohn- und Arbeitsorte, die Kinder, immer wieder neue Projekte... Eigentlich bin ich stets in Bewegung. Und meistens genieße ich das.

Aber manchmal brauche ich auch das: einfach still sitzen. Nichts hören, den Blick unkonzentriert, kein besonderes Thema zum Denken. Die Gedanken kommen von allein. Sie kommen und gehen, kreiseln und wirbeln. Und wenn es gut geht, geben auch sie irgendwann Ruhe.

Sitzen und ruhen. Kein Ziel, kein Zweck. Einfach nur da sein.

Politische Entscheidungen sind doch immer so zu treffen, als ob die Tombola des Lebens nicht schon hinter mir läge, sondern mich erst morgen treffen würde. Ich meine:

  • Würde Trump andere Entscheidungen treffen, wenn erst morgen entschieden würde, ob er ein reicher weißer US-Amerikaner oder eine arme Mexikanerin ist?
  • Würde Kristina Schröder immer noch sagen, dass sich unser Land persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen nicht leisten können, wenn sie sich bewusst wäre, dass erst morgen klar ist, ob sie sich früh noch ohne Hilfe waschen kann?
  • Würde Herr X immer noch die Abschiebung der kurdischen Familie nach Bulgarien fordern, wenn sich erst morgen entscheidet, ob er ein gut verdienender Handwerker in Deutschland ist, der sein Leben lang alle Chancen hatte, oder ihm das Los eines Kindes zugeteilt wird, das im Winter in Sofia ohne Aussicht auf schulische Bildung und medizinische Behandlung im Park lebt.

Oft wird mir bewusst, wie viel Glück ich im Leben an all den Stellen hatte, auf die ich keinen Einfluss habe.

Mit einigem Kraftaufwand haben wir in diesem Jahr organisiert, dass die Predigerkirche während des Weihnachtsmarktes in Erfurt (fast) jeden Tag ein paar Stunden offen steht. Ehrenamtliche setzen ihre Zeit dafür ein. Dabei ist die Beleuchtung gerade kaputt. Ungeheizt ist sie eh immer.

Es ist bewegend zu sehen, wie hunderte Menschen in die kärglich aber stimmungsvoll beleuchtete Kirche kommen. Es rührt mich an, wie viele eine Kerze entzünden und dabei sicher an Menschen denken, die ihnen wichtig sind. Oder an die Situation in dieser Welt.

Es ist wie ein Gegengewicht zum Glühwein und zum Langos-Stand neben dem Riesenrad auf dem Domplatz. Etwas, was die Seele anspricht, vielleicht etwas empfänglicher macht für das Göttliche in dieser Zeit.

Ich weiß, wie wichtig mir selbst offene Kirchen sind, wenn ich unterwegs bin. Orte der Besinnung. Manchmal einfach Orte zum Ausruhen. Oft auch Orte für das Schöne und das Stille im Hintergrund der Welt. Ich bin dann meist sehr dankbar: denen, die sie offen halten, denen, die sich die Mühe gemacht haben, sie zu erbauen. Und dankbar Gott gegenüber...

Predigerkirche im Advent

#Foto #Advent

Wenn ich darüber rede, spüre ich nicht selten Unverständnis oder Abwehr. Das verstehe ich gut. Und doch ist es für mich seit meiner Jugend wichtig. Im Psalm 90 steht: Gott, Iehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Wenn ich über den Sinn meines Lebens nachdenke, bin ich sicher: es braucht den Horizont der Ewigkeit. Die Vergänglichkeit und der Tod gehören zum Leben dazu. Ohne geht es nicht.

Was heißt das für die Art, wie ich lebe? Wie sieht kluges Leben aus?

Dieses Bild liegt auf meinem Schreibtisch und in meinem Gesangbuch. Es heißt “Ruf des Todes” und ist von Käthe Kollwitz, deren Werke mich ohnehin sehr bewegen.

Käthe Kollwitz

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein: Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.

Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden. Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein, Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn? Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind; Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t. Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten!


Andreas Gryphius, 1658

Eigentlich liebe ich sie seit meiner Kindheit: die Adventskalender. Jedes Jahr hatte ich einen. Mit einfachen Bildchen. Einmal war auch Schokolade drin. Der war ein Geschenk aus den Westen.

Ich mag solche Rituale: jeden Tag einen kleinen Text schreiben (wie diesen hier), 365 Postkarten mit je einem Gedicht verschicken (selbstgestaltet), jeden Morgen zur festen Zeit auf dem Altarplatz zum Morgengebet...

Und doch geht mir die Flut der Adventskalender mehr und mehr auf den Geist. Allein drei hängen oder stehen im Wohnzimmer und da haben wir schon reduziert. Online ist es schwer, an den vielen Links vorbeizukommen. Dazu die Schaufenster. Adventskalender mit Digital-Tipps, Kosmetik, Tee, Sonderangeboten, Schokolade... Da geht es wohl weniger ums Warten auf das Fest, oder?

In diesem #Advent habe ich mir zwei ausgesucht:

  1. Eine Freundin hat uns wie jedes Jahr einen zauberhaften, selbst gestalteten Adventskalender geschickt. Jeden Tag ein Bild. Jedes Bild verweist auf ein Adventslied. Ich freue mich jeden Morgen und summe leise vor mich hin..
  2. Nach vielen Jahren Pause höre ich jeden Morgen mal wieder das Hörspiel zum Buch “Das Weihnachtsgeheimnis” von Jostein Gaarder und freue mich an den 24 Kapiteln dieser wunderbaren Geschichte. Einer Freundin, die es abends hört, schicke ich dabei täglich ein zur Folge passendes Foto, das ich im Netz suche. So hat sie tagsüber etwas zum Grübeln und ich fühle mich verbunden.

Adventskalender

Was ist Luxus? Viel Geld? Auf jeden Fall genügend Geld, um nicht bei jeder kleinen Ausgabe überlegen zu müssen. Aber sonst? Das hier habe ich im Netz gefunden. Ich mag diese Zusammenstellung:

  • Zeit
  • Gesundheit
  • Ein ruhiger Geist
  • Langsame Morgen
  • Die Fähigkeit zu reisen
  • Ruhe ohne Schuldgefühle
  • Eine gute Nachtruhe
  • Ruhige und „langweilige“ Tage
  • Bedeutungsvolle Gespräche
  • Menschen, die du liebst
  • Menschen, die dich zurücklieben

l# Schweben

ICH LIEGE SCHLAFE UND ERWACHE

   denn ein Gott hält mich

ein Gott hält mich

   in der Schwebe

in der Schwebe

   bin ich ein Schiff

ein Schiff bin ich

   das sinkt oder aufsteigt

aufsteigt in den Himmel

   im leichten Aufwind

im leichten Aufwind

   mein Glaube und sein Flügelschlag

sein Flügelschlag

   Grund meines Wachens und Schlafens

 

ich stand am Wasser sah in den Himmel

   und verschwand

ich verschwand

   im Übergang von Wasser und Himmel

war ich ein Übergang

   gelegt in die Linie des Horizonts

die Linie des Horizonts

   in die ich mich auflöste

in die ich mich auflöste

   um Kontur der Schwebe zu werden

 

ich wiegte mich schlief ein

   und wurde Nacht

wurde Nacht und eine Naht

   zwischen jetzt und hier

hält mich ein Gott in der Schwebe

   hält mich und ich liege

im Aufwind der Konzentration

 


Daniela Danz, Portolan. Gedichte © Wallstein Verlag, Göttingen 2025

Unter dem Hashtag #DreiguteDingedesTages posten Menschen im Fediverse immer wieder mal, was ihnen am vergangenen Tag gut getan hat. Bei mir waren es gestern z.B.:

  • Ein langes und gutes Gespräch mit meinem 18jährigen über Schülerparlament, Demokratie und solche Sachen
  • Endlich mal rumsitzen zu Hause ohne Termindruck – und warten, was kommt
  • Ein wunderschöner Stadt-Spaziergang mit Waffel-Essen und mit meiner Frau

Und bei dir so?

Manchmal liege ich morgens, vor dem Aufstehen noch einen Augenblick in Bett und überlege, was mich an diesem Tag so erwarten könnte. Ich hole mir die Menschen vor Augen, die ich vielleicht oder wahrscheinlich treffe. Ich stelle mich auf die Termine ein, bei denen mir einfällt, dass sie heute im Kalender stehen, ich freue mich über unverplante Phasen... Ganz oft stehe ich dann auf mit der Vor-Freude auf den Tag.

Nachher beim Morgengebet werden wir sprechen: “Gott helfe uns, an diesem Tag nicht an Erwartungen festzuhalten, sondern offen zu sein für das, was kommt.