Mit dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich (1915) bin ich erstmals 1985 oder 1986 konfrontiert worden. Vor ein paar Monaten habe ich endlich Die 40 Tage des Musa Dagh gelesen.
Heute war ich hier am Mahnmal und in Museum. Es ist eine bedrückende Erfahrung. So, wie in Auschwitz, Yad Vashem oder in den verschiedenen KZ-Gedenkstätten frage ich mich wieder, wie es soweit kommen kann, dass Menschen massenweise zu Sadisten werden, andere vertreiben, vergewaltigen, abschlachten. Bis heute.
Und wieder stecken die Deutschen drin. Dazu gibt es eine eigene Abteilung im Museum, die mich beschämt. Auch wenn ich mehrfach anerkennend von Johannes Lepsius lese. In diesem Zusammenhang liest man dort z. B. das Zitat des Reichskanzlers von Bethmann vom Dezember 1915: “Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“
Ich sehe eine junge Frau, die allein und mit einem Strauß Blumen zum Mahmal kommt. Ob sie ihrer Urgroßmutter gedenkt? Oder ihrer nie geborenen Tanten und Onkel?
In Etschmiadsin bin ich Zeuge einer Taufe geworden. 3 Geschwister wurden getauft. Das geschah nicht durch Untertauchen, wie bei orthodoxen Kirchen durchaus üblich. Aber auch nicht durch Beträufeln wie bei uns. Es war gewissermaßen eine angedeutete Ganzkörper-Waschung: Hände, Arme, Gesicht, Nacken, Brust und die Beine (Hosen wurden hochgekrempelt) wurden mit dem Taufwasser benetzt und gewaschen. Es war bewegend, die drei Kinder dabei zu erleben.
Auch das ist übrigens dem sowjetischen Einfluss zu danken: Kwas aus dem Supermarkt. Ich liebe dieses vergorene Brot (fast) ohne Alkohol. Eigentlich ein russisches Getränk, wird es seit 100 Jahren auch in Armenien getrunken.
Was sagt es über eine Stadt, wenn die Straßen sechsspurig sind, aber keinen Fußweg haben – von Radwegen ganz zu schweigen. Das Auto spielt hier die Hauptrolle. Daran, mit dem Rollstuhl unterwegs zu sein, möchte ich gar nicht denken...
Überhaupt dominiert hier das Große. Viel Sowjet-Architektur, breite, laute Straßen. Aber, natürlich: Wenn du die Augen offen hältst, findest du sie, die kleinen bezaubernden Ecken (von denen es wenige zu gehen scheint). Und die beeindruckenden, großen (von denen es mehr gibt).
Heute war ich unterwegs in einem Viertel, in dem das alte, einfache Jerewan weiterlebt: klein und versteckt. Gleich neben den unvermermeidlichen Sowjet-Blocks. Ein kleines Schild in russischer Sprache wies mich auf den Старый Дворчик(den Alten Hinterhof) hin. Dort hat eine (russischsprachige) Familie ein paar Tische in den schönen Hof unter den Aprikosenbaumgestellt und bietet allerlei Leckeres und selbstgemachtes zum Essen und Trinken an. Ein Genuss.
Bis gerade war ich dabei, die letzten dienstlichen Aufgaben zu erledigen, die nicht bis Ende Juli warten können oder sollen. Nun habe ich noch meinen Rucksack gepackt und bin bereit.
Vor einiger Zeit habe ich intensiv recherchiert, ob ich mit Zug und Bus nach Armenien komme. Das Ergebnis: Ja, es könnte gehen. Aber es dauert vier Tage und das letzte Wegstück von Istanbul nach Jerevan schien mir recht unsicher. Also habe ich entschieden, doch ein Flugitcket zu lösen, obwohl ich es nicht mag.
In mir: ein Kribbeln, das langsam den Hamsterrad-Modus der letzten Tage ablöst. Ich freue mich auf das Neue, das auf mich zukommt. Ich freue mich auf die Wärme, die Berge, die Menschen. Ich freue mich darauf, mal wieder etwas russisch zu sprechen – jedenfalls das, was nach 14 Jahren davon noch übrig ist. Ich freue mich auf die Ruhe, etwas Lektüre. Und auf die Freiheit, die das Reisen allein oft bringt.