Besser lernen mit Seneca
Viele von uns haben das #Lernen auf eine Weise verinnerlicht, die auf Wiederholung, Auswendiglernen und kurzfristige Leistung abzielt. Wir bereiten uns auf Prüfungen vor, bestehen sie – und vergessen danach vieles wieder. Das Erkennen von Inhalten wird oft mit Verstehen verwechselt, das Reproduzieren mit Wissen. Doch was bedeutet es wirklich, „etwas zu wissen“? Diese Frage beschäftigt mich seit Langem – und besonders eindrücklich beantwortet sie ein römischer Philosoph, der vor rund 2'000 Jahren lebte: Seneca. In seinem 33. Brief an Lucilius formuliert er eine Kritik am oberflächlichen Lernen, die heute aktueller denn je ist.
Der Philosoph als Lernbegleiter
Die Epistulae morales ad Lucilium (lateinisch: „Briefe über Ethik an Lucilius“) sind eine Sammlung von 124 Briefen, die Seneca nach seinem Rückzug aus der Politik (etwa 62 n. Chr.) verfasste. In diesen Schreiben gibt er einem gewissen Lucilius Ratschläge, wie sich das Leben im Sinne der stoischen #Philosophie sinnvoll gestalten lässt. Ob Lucilius eine reale oder fiktive Figur war, ist bis heute ungeklärt – sicher ist jedoch, dass Senecas Gedanken eine bemerkenswerte Tiefe entfalten.
Im 33. Brief widmet sich Seneca dem Lernen. [1] Er unterscheidet scharf zwischen dem blossen Erinnern und dem echten Wissen. Erinnern, so schreibt er, sei lediglich das Bewahren von etwas, „das dem Gedächtnis anvertraut wurde“. Wissen hingegen bedeute, sich Inhalte so anzueignen, dass sie „nicht von einem Muster abhängen“ – sie sollen Teil des eigenen Denkens werden.
Erinnerung ist nicht Wissen
Damit trifft Seneca einen wunden Punkt. Denn was viele von uns als Wissen bezeichnen, ist oft nur eine Form der Vertrautheit mit Inhalten. Wir kennen ein Zitat, eine Formel, eine Definition – aber können wir sie auch erklären? Können wir sie anwenden? Haben wir sie durchdrungen?
Seneca kritisiert in seinem Brief all jene, die sich auf „Blümlein“ – also einzelne prägnante Aussprüche – stützen, statt ein Werk als Ganzes zu erfassen. Es sei, so schreibt er, „schimpflich […] nur aus dem Lehrbuche weise zu sein“. Und er fragt provokativ: „Das sagte Zeno – und was du? Das Cleanthes – und was du?“ [2] Die Mahnung ist klar: Es reicht nicht, fremde Gedanken auswendig zu kennen. Entscheidend ist, was ich selbst daraus mache.
Diese Warnung ist auch eine Einladung: zur Eigenständigkeit, zum kritischen Denken, zur Entwicklung eines eigenen Standpunkts. Und genau hier zeigt sich die erstaunliche Nähe zwischen Senecas Philosophie und der modernen Lernpsychologie.
Blooms Taxonomie: Ein moderner Spiegel
1956 formulierte der amerikanische Pädagoge Benjamin Bloom eine Taxonomie kognitiver Lernziele, die bis heute in der Bildungsforschung genutzt wird. Blooms Taxonomie besteht aus sechs kognitiven Stufen, die hierarchisch angeordnet sind und die Komplexität des Denkens in zunehmendem Masse widerspiegeln. Sie wird oft als Pyramide dargestellt, wobei die unteren Stufen die grundlegenden kognitiven Fähigkeiten darstellen und die oberen Stufen komplexere Denkprozesse. Bloom nannte die sechs Ebenen Wissen (knowledge), Verständnis (comprehension), Anwendung (application), Analyse, Synthese und Bewertung (evaluation). David R. Krathwohl schlug eine Formulierung als Verben vor: erinnern, verstehen, anwenden, analysieren, bewerten, erschaffen. Erst in den oberen Bereichen – Analyse, Bewertung und Kreation – beginnt wirklich tiefes Lernen.
Seneca hätte diese Hierarchie wohl begrüsst. Denn auch er fordert, dass wir uns Wissen nicht nur aneignen, sondern es „zu unserem Eigentum machen“. Es geht ihm nicht um das Ansammeln von Zitaten, sondern um Transformation. Was ich weiss, soll in mir arbeiten, sich mit meiner Erfahrung verbinden und mir neue Einsichten eröffnen. Lernen ist für ihn ein aktiver, schöpferischer Prozess – kein passives Konsumieren.
Die Parallele ist aufschlussreich: Beide Ansätze – der antike und der moderne – betonen, dass echtes Wissen nicht im Wiedergeben, sondern im Umgestalten liegt. Nur wer aus Gelerntem etwas Eigenes formt, hat es wirklich verstanden.
Lernen als Ganzes: Senecas Ideal
Seneca verwendet eindrückliche Bilder, um seine Philosophie zu illustrieren. So vergleicht er die Werke der Stoa mit einem Wald, in dem kein einzelner Baum hervorsticht, weil alle gleich hoch gewachsen sind. Oder mit einer schönen Frau, deren Gesamterscheinung die Aufmerksamkeit auf sich zieht – nicht einzelne Gliedmassen.
Diese Bilder machen deutlich: Lernen ist für Seneca ein ganzheitlicher Prozess. Er wendet sich entschieden gegen das selektive Aufnehmen einzelner Sinnsprüche. Ein philosophisches Werk sei ein „Geisteswerk“, das „aus einem Guss“ besteht. Nichts könne herausgenommen werden, „ohne Einsturz des Ganzen“. Lernen bedeute daher, sich mit einem Gedankensystem als Ganzem auseinanderzusetzen – nicht nur mit seinen Schlaglichtern.
Besonders relevant wird das angesichts der Tatsache, dass Lerninhalte heute oft stark fragmentiert und vereinfacht konsumiert werden: in kurzen Videoclips, mit automatischen Zusammenfassungen oder in Form von Bulletpoints, die sofortige Anwendbarkeit versprechen. Dieses „häppchenweise Lernen“ – meist ohne tiefere Auseinandersetzung – steht im Kontrast zu Senecas Ideal. Er fordert stattdessen Langsamkeit, Konzentration und Tiefe. Denn nur wer sich wirklich einlässt, kann verstehen.
Von der Theorie zur Praxis
Seneca fordert uns letztlich auf, Verantwortung für unser Lernen zu übernehmen. „Wie lange willst du noch lernen? Lehre nun auch einmal!“ schreibt er. Diese Wendung ist mehr als ein Appell – sie ist ein Perspektivwechsel. Lernen heisst nicht nur aufnehmen, sondern auch gestalten, ausdrücken, weitergeben.
Deshalb stelle ich mir beim Lernen heute regelmässig drei Fragen – vielleicht helfen sie auch dir:
- Kann ich das, was ich gelernt habe, jemand anderem erklären – mit eigenen Worten?
- Kann ich es auf eine neue Fragestellung oder ein neues Problem anwenden?
- Habe ich daraus einen eigenen Gedanken entwickelt – etwas Eigenständiges, das über das Gelernte hinausweist?
Wer diese Fragen ernsthaft mit Ja beantwortet, folgt Seneca auf dem Weg zu echtem, dauerhaftem Lernen – nicht im Sinne blosser Anpassung, sondern als Ausdruck eigener geistiger Reife.
Anmerkungen [1] Alle Zitate aus dem 33. Brief werden in der Übersetzung von Albert Forbiger, 1866, Ausgewählte Schriften des Philosophen Lucius Annäus Seneca, in zwei Bänden, Band 1: Briefe an den Lucilius 1-90, Hoffmann'sche Verlags-Buchhandlung, Stuttgart, unverändert wiedergegeben: https://archive.org/details/bub_gb_BcNLAAAAMAAJ/page/n123/mode/1up [2] Gemeint sind hier Zenon von Kition, der Begründer der Stoa, und Kleanthes, Zenons Nachfolger.
Bildquelle Manuel Domínguez Sánchez (1840–1906): Boceto para La muerte de Séneca, Museo de Bellas Artes de Córdoba, Public Domain.
Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.
Topic #Erwachsenenbildung