Effektiv und nachhaltig lernen (2): weitere wissenschaftlich fundierte Strategien
Vor gut einem Jahr habe ich in einem Blogbeitrag vier wissenschaftlich fundierte Lernstrategien vorgestellt, die sich als besonders effektiv und nachhaltig erwiesen haben. Der Artikel hat viele Leserinnen und Leser dazu inspiriert, sich intensiver mit Methoden wie Spaced Practice oder Retrieval Practice auseinanderzusetzen, um ihr #Lernen gezielt zu verbessern.
Nun möchte ich diesen Beitrag erweitern und zwei weitere Strategien vorstellen, die ebenfalls auf wissenschaftlicher Evidenz beruhen: Pre-Testing und Mental Replay. Wie im ersten Beitrag sind die Beschreibungen bewusst kurz gehalten, um einen kompakten Überblick zu bieten. Für diejenigen, die tiefer in die Themen einsteigen möchten, stehen erneut weiterführende Links bereit, die zu einer eigenen vertieften Auseinandersetzung einladen.
Strategie 5: Pre-Testing / Vorabtest
Pre-Testing, auch als Vorabtest oder Pre-Questioning bekannt, ist eine Lernmethode, bei der Fragen zu einem Thema gestellt werden, bevor der eigentliche Lernprozess beginnt. Im Gegensatz zu klassischen Tests, die das Wissen nach einer Lerneinheit überprüfen, fordert Pre-Testing die Lernenden auf, Vorhersagen zu treffen und Antworten zu versuchen, bevor sie die Inhalte erarbeitet haben. Dieser Ansatz mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, da er unweigerlich zu Fehlern führt. Doch genau diese Fehler sind der Schlüssel: Sie aktivieren Neugier, erhöhen die Aufmerksamkeit und schaffen eine Grundlage für gezieltes Lernen. [1]
Ein Beispiel aus der Praxis: Viele Lehrbücher in der Aus- und Weiterbildung enthalten am Ende eines Kapitels Repetitionsfragen. Anstatt diese Fragen erst nach der Bearbeitung des Kapitels zu beantworten, kann es sinnvoll sein, sie bereits vor dem Lesen des Kapitels durchzugehen und erste Antworten zu versuchen. So werden die Lernenden angeregt, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen und gezielt nach Antworten zu suchen.
Wie wende ich Pre-Testing an?
Erstelle Vorabfragen zu neuen Themen: Entwickle Fragen, die zentrale Aspekte des Lerninhalts berühren, ohne dass die Antworten bereits bekannt sein müssen. Beispielsweise können dies Fragen sein wie: „Welche Schritte könnten zur Lösung eines bestimmten Problems führen?“
Nutze unterschiedliche Formate: Wähle einfache Multiple-Choice-Fragen, offene Fragen oder sogar Aufgaben, die Hypothesenbildung erfordern. Das Format kann je nach Zielsetzung und Lernmaterial variieren.
Feedback geben, aber nicht sofort: Nach dem Pre-Test solltest Du nicht sofort die Lösungen nachschlagen. Nutze stattdessen die Gelegenheit, während des späteren Lernens die Antworten zu entdecken und zu korrigieren.
Verknüpfe den Test mit dem Lernmaterial: Achte darauf, dass die Pre-Test-Fragen im späteren Lernmaterial wieder aufgegriffen werden, damit Du die Relevanz erkennen und gezielt daran arbeiten kannst.
Halte die Tests einfach und kurz: Ein Pre-Test sollte nicht länger als ein paar Minuten dauern und sich auf die wichtigsten Konzepte beschränken, um die Aufmerksamkeit und Motivation nicht zu überfordern.
Wiederhole Pre-Testing regelmässig: Durch die Integration von Pre-Tests in verschiedene Lernphasen können langfristige Lerneffekte verstärkt werden, insbesondere wenn sie gezielt aufeinander aufbauen.
Exkurs: Retrieval Practice vs. Pre-Testing
Obwohl Pre-Testing und Retrieval Practice auf den ersten Blick ähnlich erscheinen – beide beinhalten das Stellen von Fragen und das Generieren von Antworten – unterscheiden sie sich grundlegend im Zeitpunkt ihrer Anwendung und ihrem Ziel. Pre-Testing findet vor dem eigentlichen Lernprozess statt: Lernende beantworten Fragen zu einem Thema, bevor sie die dazugehörigen Inhalte kennen. Dies regt Neugier an, lenkt die Aufmerksamkeit auf zentrale Themen und hilft, Wissenslücken zu erkennen. Retrieval Practice hingegen wird nach dem Lernen eingesetzt, um bereits erlerntes Wissen aktiv aus dem Gedächtnis abzurufen. Dieser Prozess stärkt die langfristige Speicherung und das Verständnis der Inhalte. [2]
Der wichtigste Unterschied liegt also in der Richtung des Wissensaufbaus: Beim Pre-Testing stehen Hypothesenbildung und die Aktivierung von Vorwissen [3] im Vordergrund, auch wenn dies oft mit Fehlern verbunden ist. Bei der Retrieval Practice dagegen geht es um die gezielte Reaktivierung und Festigung bereits erworbenen Wissens. [4] Beide Methoden sind ergänzend und können kombiniert werden, um den Lernerfolg weiter zu steigern.
Bonus-Strategie 6: Mental Replay / mentales Wiederholen
Mental Replay, auch als mentales Wiederholen bekannt, ist eine Technik, die darauf abzielt, Erinnerungen zu festigen und langfristig verfügbar zu machen. Dabei stellen sich Lernende ein Ereignis, eine Situation oder einen Vorgang erneut vor, um die im Gehirn gespeicherten Informationen zu konsolidieren. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, [5] dass schon kurze mentale Replays die Gedächtnisleistung deutlich steigern können. [6]
Ein Beispiel aus der Praxis: Nach einer Lehrveranstaltung kann es hilfreich sein, die wichtigsten Inhalte im Kopf noch einmal durchzugehen. „Was wurde gesagt? Welche Kernpunkte wurden betont?“ Selbst ein 40-sekündiges mentales Durchspielen solcher Ereignisse kann dazu beitragen, das Gelernte länger im Gedächtnis zu behalten.
Wie wende ich Mental Replay an?
Plane kurze Wiederholungsphasen ein: Nimm Dir nach einer Lerneinheit bewusst einige Sekunden Zeit, um die wichtigsten Inhalte im Kopf durchzugehen. Halte inne und frage Dich: „Was habe ich gerade gelernt?“
Fokussiere auf Schlüsselinformationen: Konzentriere Dich auf die zentralen Ideen, Begriffe oder Schritte eines Prozesses. Versuche, die wichtigsten Punkte bildlich oder gedanklich nachzustellen.
Nutze visuelle und emotionale Anker: Stelle Dir lebhaft vor, wie Du die Inhalte anwendest, oder verknüpfe sie mit persönlichen Erlebnissen, um sie leichter abrufbar zu machen.
Repliziere Abläufe mental: Nach einer praktischen Demonstration oder Übung, wie beispielsweise einer handwerklichen Tätigkeit oder einem Sportmanöver, stelle Dir den gesamten Vorgang noch einmal vor. Überlege dabei, was besonders wichtig war und wie Du es umsetzen könntest.
Integriere die Technik in Deinen Alltag: Nutze freie Momente, um über Gelerntes nachzudenken, sei es auf dem Weg nach Hause, beim Spazierengehen oder vor dem Schlafengehen.
Halte es regelmässig, aber kurz: Mentales Wiederholen ist besonders wirksam, wenn es häufig und für kurze Zeit angewendet wird. Lange Sitzungen sind nicht erforderlich – wenige Sekunden genügen, um den Effekt zu erzielen.
Fussnoten [1] https://featuredcontent.psychonomic.org/test-first-learn-later-the-power-of-pretesting-to-enhance-learning/ [2] https://www.innerdrive.co.uk/blog/pre-tests-help-learning/ [3] https://teaching.vt.edu/teachingresources/adjustinginstruction/priorknowledge.html [4] https://psychology.ucsd.edu/undergraduate-program/undergraduate-resources/academic-writing-resources/effective-studying/retrieval-practice.html [5] https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.1774-15.2015 [6] https://www.nih.gov/news-events/nih-research-matters/mental-replay-learning-memory
Bildquelle Ferdinand Hodler (1853–1918): Der Lesende, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, Public Domain.
Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.
Topic #Erwachsenenbildung