Handschrift und Digitalisierung: Was die Forschung wirklich zeigt
Anfang des Jahres machten alarmierende Schlagzeilen die Runde: Die „Generation Z“ verliere angeblich die Fähigkeit zum handschriftlichen Schreiben – ein Verlust einer 5'500 Jahre alten Kulturtechnik, verursacht durch die Digitalisierung. „40 Prozent der Schüler haben die Fähigkeit zum handschriftlichen Schreiben eingebüsst“, hiess es etwa in Berichten von 20 Minuten oder MSN. Die Berichte zeichneten das Bild einer verlorenen Generation, die ohne Stift und Papier in eine düstere Zukunft blicke.
Doch diese Sensationsmeldungen haben wenig mit der Realität zu tun. Tatsächlich stammen viele dieser Berichte aus Fehlinterpretationen einer wissenschaftlichen Studie – des DigiHand-Projekts der Universität Stavanger und der Hochschule Volda in Norwegen. Zeit also, einen Blick auf die echten Ergebnisse zu werfen – und auf das, was die Medien dabei ignoriert haben.
Das DigiHand-Projekt: Was wirklich untersucht wurde
Das DigiHand-Projekt ist eines der bislang umfassendsten Forschungsprojekte zur Frage, wie sich in der #Bildung das Schreiben von Hand und das Schreiben auf digitalen Geräten* auf die Schreibentwicklung von Schulkindern auswirkt. Durchgeführt wurde es von einem interdisziplinären Team der Universität Stavanger und der Hochschule Volda in Norwegen. Über zwei Schuljahre hinweg wurden mehr als 500 Schülerinnen und Schüler aus 33 norwegischen Grundschulen begleitet und beobachtet.
*Nachtrag, weil ich gefragt wurde und es nicht ganz klar formuliert ist: „Schreiben auf digitalen Geräten“ bedeutet, dass die Schulkinder ein persönliches Tablet nutzten, darauf aber mit Tastatur schrieben; aus dem Studiendesign geht jedoch nicht klar hervor, ob es sich um eine virtuelle Tastatur auf dem Tablet oder eine physische Tastatur am Tablet handelte.
Die Schulen setzten dabei unterschiedliche Schreibmethoden ein:
- Einige Schulen konzentrierten sich auf handschriftliches Schreiben mit Stift und Papier.
- Andere Schulen nutzten hauptsächlich digitale Geräte wie Tablets für die Schreibinstruktion.
- Eine dritte Gruppe kombinierte beide Ansätze.
Ziel war es, herauszufinden, welche Methode die Schreibentwicklung – gemessen an Schreibgeschwindigkeit, Textqualität, Rechtschreibung und Motivation – am besten fördert. Ergänzt wurde die Untersuchung durch die Analyse von Unterrichtsvideos, um die Qualität des Feedbacks durch Lehrpersonen und die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler darauf zu erfassen.
Die zentralen Ergebnisse des DigiHand-Projekts
Die tatsächlichen Ergebnisse des DigiHand-Projekts zeichnen ein differenziertes Bild – weit entfernt von den dramatischen Untergangsszenarien der Medien. Die nachfolgende Zusammenfassung basiert auf einer Sichtung aller zugänglichen, im Rahmen des DigiHand-Projekts veröffentlichten wissenschaftlichen Publikationen.
1. Handschrift bleibt wichtig – aber digitale Schreibmethoden bieten Vorteile
Kinder, die regelmässig von Hand schreiben, entwickeln eine bessere Handschrift und sind in der Lage, lesbarer und flüssiger zu schreiben. Gleichzeitig zeigte sich aber, dass Schülerinnen und Schüler, die hauptsächlich auf Tablets schreiben, oft längere Texte verfassen und dabei schneller sind. Rechtschreibung und Textstruktur profitieren bei digitalen Texten von Funktionen wie der automatischen Korrektur und der besseren Übersichtlichkeit auf dem Bildschirm.
2. Keine Verdrängung der Handschrift durch Tablets
Die Studie konnte keinen Beleg dafür finden, dass Kinder die Handschrift „verlernen“, wenn sie häufiger digitale Geräte nutzen. Vielmehr zeigte sich, dass die Fähigkeit zum Schreiben mit der Hand erhalten bleibt – selbst in Klassen, in denen primär auf Tablets geschrieben wurde. Schülerinnen und Schüler, die hauptsächlich digital schrieben, schnitten in Handschrift-Tests nur geringfügig schlechter ab als jene, die primär von Hand schrieben.
3. Motivation und Feedback als Schlüssel
Die Motivation zum Schreiben war in Klassen, die sowohl digitale als auch handschriftliche Methoden kombinierten, am höchsten. Entscheidend für die Schreibqualität war jedoch nicht die Methode selbst, sondern die Qualität des Feedbacks durch die Lehrpersonen. Klassen mit gutem, strukturiertem Feedback – ob mündlich oder schriftlich – zeigten bessere Fortschritte, unabhängig von der Schreibmethode.
4. Die Kombination macht den Unterschied
Die besten Ergebnisse erzielten Schülerinnen und Schüler, die regelmässig zwischen handschriftlichem und digitalem Schreiben wechselten. Die Handschrift fördert Feinmotorik und visuelle Gedächtnisleistung, während das digitale Schreiben die Textlänge und die Struktur verbessert. Die Studie empfiehlt daher, beide Methoden bewusst zu kombinieren, um die jeweiligen Vorteile zu nutzen.
Medienhype versus Realität
Die alarmierenden Schlagzeilen zum „Verlust der Handschrift“ basieren auf einer dramatischen Fehlinterpretation der Studienergebnisse. Tatsächlich wurde in der Studie kein „Fähigkeitsverlust“ nachgewiesen – schon gar nicht in der Grössenordnung von 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler. Vielmehr offenbart die Studie eine differenzierte Entwicklung: Die Handschrift bleibt wichtig, aber digitale Schreibmethoden bringen zusätzliche Vorteile.
Die Medienberichte ignorieren dabei die eigentliche Kernbotschaft der Forschung: Es geht nicht um ein Entweder-oder zwischen Handschrift und digitalem Schreiben – sondern um die sinnvolle Kombination beider Ansätze. Wer die Handschrift aufgibt, beraubt die Kinder wichtiger motorischer und kognitiver Fähigkeiten. Wer digitales Schreiben ignoriert, verwehrt ihnen die Möglichkeit, effizient und strukturiert längere Texte zu verfassen.
Das wahre Problem liegt also nicht im angeblichen „Verlernen“ der Handschrift, sondern in einer verengten Sichtweise auf das Schreiben als Kulturtechnik. Die Herausforderung für Schulen und Lehrpersonen besteht darin, beide Schreibformen gezielt zu fördern – und den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, wann welche Methode sinnvoll ist.
Fazit: Mehr Pragmatismus, weniger Panik
Anstatt die Handschrift gegen das digitale Schreiben auszuspielen, sollten wir die Synergien beider Ansätze nutzen. Die Studienergebnisse legen nahe, dass der Unterricht durch eine gezielte Kombination von Handschrift und digitalen Methoden verbessert werden kann. Schülerinnen und Schüler profitieren sowohl von der motorischen Herausforderung des Handschreibens als auch von den strukturellen Vorteilen des digitalen Schreibens.
Panikmache und Sensationsjournalismus helfen hier nicht weiter – wohl aber ein pragmatischer Ansatz, der die Vorteile beider Methoden vereint. Das Ziel sollte nicht sein, eine Technik durch die andere zu ersetzen – sondern beide gezielt zu nutzen, um die Schreibkompetenz der nächsten Generation zu stärken.
Handschrift stirbt nicht – sie wird durch digitale Werkzeuge ergänzt. Und das ist eine gute Nachricht für das #Lernen.
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie von Beiträgen, die sich mit dem Thema befassen: |
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1. Papier und Digital effizient verbinden (2): Wie das Schreiben von Hand das Lernen und die Gedächtnisleistung fördert |
2. Papier und Digital effizient verbinden (3): Und was ist mit Stift auf Display? |
3. Papier und Digital effizient verbinden (4): aktuelle Studienergebnisse als Nachtrag |
Bildquelle Albert Edelfelt (1854–1905): Dam som skriver brev (Eine Dame schreibt einen Brief), Nationalmuseum, Stockholm, Public Domain.
Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.
Topic #Erwachsenenbildung