Michael Gisiger

selbstbetrachtungen

Heyser: Ophelia

Ich stehe kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag. Eine Zahl, die nüchtern betrachtet nichts anderes bedeutet, als ein weiteres volles Lebensjahrzehnt. Und doch lädt sie zum Innehalten ein. Vielleicht ist es das langsame Abklingen des Tatendrangs, das leise Umordnen der Prioritäten, oder auch nur die schlichte Tatsache, dass meine Wochenenden anders aussehen als früher. Nicht schlechter, aber stiller.

Dabei drängt sich mir eine Beobachtung auf, die ich lange mit einem gewissen Unbehagen betrachtet habe: Ich bin heute öfter alleine als früher. Nicht immer, nicht ausschliesslich – aber doch merklich häufiger. Und noch vor einigen Jahren hätte ich das für ein Warnsignal gehalten. Einsamkeit, so heisst es, sei die neue Volkskrankheit. Rückzug wird rasch mit Mangel gleichgesetzt. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto weniger überzeugt mich diese Gleichung.

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Linderum: Schreibstube im Kloster

Es ist ein Satz, der hängen bleibt: „Wir im Westen befinden uns in einem kollektiven Burnout. Da könnten gewisse Techniken aus dem Kloster helfen. Etwa die Rhythmisierung des Lebens, die Stille. Ohne Stille gibt es keine Visionen, und ohne Visionen können wir die Gesellschaft nicht voranbringen.“ So sagte es Abt Urban Federer vom Kloster Einsiedeln im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 19. April 2025. Vielleicht wirkt er so eindringlich, weil er einen wunden Punkt trifft. Kurz nach Ostern, in einer Phase, in der das Jahr seine erste Ermüdung offenbart und das Licht des Frühlings gegen die Schatten der Überlastung antritt, klingt der Gedanke nach Stille, Rhythmus und Vision wie ein leiser Protest gegen die Betriebsamkeit des Alltags.

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