zunft

Brauch und Zunft kennen keine Vernunft.

Erster Akt

Erste Szene

Er steht in der kleinen Küche seiner Altbauwohnung und starrt auf den leeren Küchentisch, als er das vertraute, doppelte Klingeln hört. Es ist das Signal, das er inzwischen fast so gut kennt wie das Ticken der Uhr über der Spüle. Die Schornsteinfeger sind wieder da, so wie jedes Jahr.

Er ballt die Fäuste, als er durch die Gardine einen Blick auf den Eingangsbereich wirft. Schwarze Arbeitskleidung, die typischen Kappen – sie sind immer die gleichen. Irgendwo auf dem Dach fegen sie schon seit einer Viertelstunde den Schornstein, doch die letzte Amtshandlung bleibt immer ihm überlassen.

Doch nicht heute. Wieder nicht.

Er dreht sich vom Fenster weg, weigert sich, den inneren Drang zu verspüren, nachzugeben. Das ist eine Sache des Prinzips, der Ideologie. Er hasst die Zünfte, die alten Strukturen, die immer noch in jedem Winkel der Gesellschaft ihre Finger drin haben. Alte Männer, die bestimmen, was man darf und was nicht, nur weil es immer so gewesen ist. Er lässt sich von niemandem vorschreiben, wen er in seine Wohnung zu lassen hat. Schon gar nicht von einem Schornsteinfeger, nur weil es eine lächerliche Vorschrift verlangt.

Das Klingeln wird dringender, fast fordernd. Er weiß, dass sie irgendwann aufgeben werden, so wie jedes Jahr. Schließlich wird er wieder einen dieser Briefe bekommen, die von der Genossenschaft kommen, in höflicher, aber bestimmter Sprache verfasst. Sie fordern ihn auf, den Zugang zu gewähren, drohen mit Konsequenzen. Aber auch diesen Brief wird er ignorieren, so wie er es immer tut.

Er bleibt still, lauscht, bis das Klingeln aufhört. Er wartet noch eine Weile, bis er sicher ist, dass sie weitergezogen sind, dann atmet er tief durch. Wieder einmal hat er durchgehalten, gegen das System, gegen die Tradition. Sein Haus, seine Regeln.

Er lächelt schwach. Wenigstens für heute hat er gewonnen.

Zweite Szene

Er steht am Fenster, die Vorhänge nur einen Spalt breit geöffnet. Draußen hat der Regen aufgehört, und die Luft ist frisch und kühl. Er atmet tief durch, genießt die Freiheit, die er spürt, während er das vertraute Geräusch der sich nähernden Schritte hört. Wieder einmal kommen sie – die Schornsteinfeger.

Diesmal hat er die Fenster absichtlich offen gelassen, als ob er ihnen eine Einladung anbieten würde, die er nie ausspricht. Aber natürlich wird er die Tür nicht öffnen, das bleibt fest. Stattdessen bleibt er in seinem Versteck, versteckt hinter dem dünnen Stoff, beobachtet sie heimlich, wie sie durch den Innenhof marschieren, die Leiter an die Fassade lehnen und schließlich aufs Dach klettern.

Er spürt ein eigenartiges Kribbeln, als einer der Schornsteinfeger kurz innehält und in seine Richtung schaut. Haben sie ihn gesehen? Der Gedanke, dass sie ihn vielleicht erkannt haben, setzt sich in seinem Kopf fest. Es ist, als ob dieser eine Blick mehr verraten hätte, als er bereit war zuzugeben. Plötzlich fragt er sich, ob sie wissen, wer er ist – ob sie sein Gesicht kennen.

Er zieht sich ein Stück zurück, weg vom Fenster, aber nicht weit genug, um die Schornsteinfeger aus den Augen zu verlieren. Da ist ein Gedanke, der ihn nicht loslässt: Was wäre, wenn er ihnen im Supermarkt begegnen würde? Würden sie ihn erkennen? Und würde er sie erkennen?

Er kann sich nicht erinnern, jemals auf einen von ihnen außerhalb dieser jährlichen Besuche getroffen zu sein. Doch jetzt, wo der Gedanke in seinem Kopf herumspukt, erscheint ihm die Vorstellung fast zwangsläufig. Vielleicht sind sie ihm schon oft begegnet, anonym, unauffällig, als Teil der Masse. Wie würde es sein, einem von ihnen in die Augen zu sehen, in der normalen Welt, wo keine Zunft, keine Regeln existieren?

Und vor allem: Ist er wirklich der Einzige, der sich gegen diese alte Tradition auflehnt? Sind die anderen Mieter einfach nur angepasst oder gibt es noch andere wie ihn, die im Stillen rebellieren? Der Gedanke, dass er Teil einer kleinen, stillen Bewegung sein könnte, lässt ihn kurz lächeln. Aber die Wahrheit ist, dass er es nicht weiß. Und vielleicht wird er es nie wissen.

Er zieht die Vorhänge wieder zu und tritt vom Fenster zurück. Er kann ihre Stimmen gedämpft hören, das Geräusch der Bürsten, die über den Schornstein kratzen. Doch seine Gedanken schweifen bereits ab, zu den unbeantworteten Fragen, die nun in seinem Kopf schwirren. Ein kurzer Blick, eine flüchtige Begegnung – und plötzlich ist er sich seiner selbst nicht mehr so sicher.

Er beschließt, beim nächsten Einkauf besonders aufmerksam zu sein. Man weiß ja nie.

Dritte Szene

Es sind sechs Monate vergangen, und die Gedanken an die Schornsteinfeger haben sich tief in seinen Alltag eingefressen. Die Tage vergehen, aber die Erinnerung an den letzten Besuch bleibt lebendig. Er fühlt sich beobachtet, als ob unsichtbare Augen ihn ständig verfolgen. Die Realität beginnt sich zu verzerren, und das Gefühl der Isolation wächst in ihm.

Er hat angefangen, sich im Internet umzusehen, vielleicht aus einer unbewussten Sehnsucht nach Gleichgesinnten, vielleicht einfach nur, um sich abzulenken. Heute ist er auf Kleinanzeigen gestoßen, wie er es gelegentlich tut, wenn die Leere zu groß wird. Er scrollt durch die Angebote, ohne echtes Interesse, bis ihm ein Aufnäher ins Auge springt. Er hält inne, klickt auf das Bild, um es zu vergrößern. Es ist schwer zu erkennen, was genau darauf zu sehen ist, aber die Form wirkt vertraut – fast wie eine Figur, die er nicht mehr aus seinem Kopf bekommt.

Ein durchgestrichener Schornsteinfeger? Er kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber der Gedanke lässt sein Herz schneller schlagen. Die Idee, dass jemand anders denselben Widerstand hegt, dass es da draußen vielleicht doch noch jemanden gibt, der wie er die Zünfte verachtet, bringt ein seltsames Gefühl von Hoffnung mit sich – und zugleich eine tiefe Unruhe.

Er überprüft das Profil des Verkäufers. Keine anderen Artikel, keine Hinweise auf Identität oder Standort. Nur dieser eine Aufnäher, anonym und einsam im Netz. Sein Kopf beginnt zu rasen. Was, wenn dieser Verkäufer genauso denkt wie er? Was, wenn es da draußen tatsächlich andere gibt, die den gleichen Kampf führen, die sich gegen die unsichtbaren Fäden der Tradition auflehnen? Oder ist es eine Falle, eine weitere Täuschung von denen, die ihn schon seit Monaten verfolgen?

Er starrt auf den Bildschirm, hin- und hergerissen zwischen Neugier und Angst. Sollte er Kontakt aufnehmen? Oder würde er damit nur seine Verfolger auf sich aufmerksam machen? Die Paranoia in ihm wächst, doch gleichzeitig fühlt er sich zu diesem mysteriösen Verkäufer hingezogen. Es ist, als ob dieser Aufnäher ein geheimer Code wäre, den nur Eingeweihte verstehen.

Er schließt die Seite, doch die Gedanken lassen ihn nicht los. In sechs Monaten werden die Schornsteinfeger wieder kommen, das weiß er. Er beginnt zu zweifeln, ob er noch einmal die Kraft haben wird, ihnen zu widerstehen. Der Aufnäher bleibt in seinem Kopf haften, wie ein stiller Vorwurf. Vielleicht, denkt er, gibt es doch noch eine Möglichkeit, nicht allein zu sein. Aber was, wenn dieser Verkäufer tatsächlich so ist wie er? Wäre das die Rettung – oder nur der Beginn einer noch tieferen Abwärtsspirale?

Vierte Szene

Er steht vor seinem Schreibtisch, das Glas mit dem klaren Schnaps in der Hand. Der Alkohol brennt in seiner Kehle, doch das ist genau das, was er jetzt braucht – einen letzten Stoß, um den Mut aufzubringen, den er seit Stunden in sich sucht. Der Bildschirm des Laptops leuchtet vor ihm, die Kleinanzeige ist immer noch geöffnet. Der Aufnäher scheint ihn fast anzustarren, als ob er eine Entscheidung von ihm verlangt.

Er nimmt einen tiefen Atemzug und setzt sich. Seine Finger schweben über der Tastatur, während in seinem Kopf tausend Gedanken kreisen. Er weiß, dass es verrückt ist, sich auf diese Ungewissheit einzulassen, aber irgendetwas in ihm – ein Funken Trotz vielleicht – drängt ihn dazu, es zu tun. Wenn es eine Falle ist, dann soll es so sein. Wenn dieser Verkäufer wirklich jemand ist, der ihn versteht, dann muss er es herausfinden.

Er beginnt zu tippen, erst langsam, dann schneller, als der Alkohol seine Nervosität in einen seltsamen Mut verwandelt:

Hallo,

ich habe Ihren Aufnäher gesehen und kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ist das, was ich denke, wirklich das, was Sie darstellen wollten? Ich frage mich, ob Sie vielleicht denselben Kampf kämpfen wie ich ... gegen die, die uns aufzwingen, wie wir zu leben haben. Vielleicht irre ich mich, aber wenn nicht, würde ich gerne mehr wissen. Wer sind Sie? Und warum dieser Aufnäher?

Er liest die Nachricht zweimal durch. Einfach Furchtbar; Sie klingt vage, unsicher, aber durch einen Geistesblitz, oder womöglich nur ein kurzes Schwindelgefühl, denkt er plötzlich: das muss so sein! Zu viel Offenheit könnte ihn verraten, aber zu wenig könnte die Chance verpassen, Kontakt zu jemandem herzustellen, der ihn versteht.

Mit einem letzten Schluck leert er das Glas und klickt auf „Senden“. Ein kurzer Moment der Panik überkommt ihn, als er die Nachricht abgeschickt sieht. Was hat er getan? Aber es gibt kein Zurück mehr. Die Entscheidung ist gefallen.

Jetzt gibt es nur noch das Warten. Die Minuten dehnen sich, die Stille in der Wohnung wird drückender. Er denkt an die Schornsteinfeger, an ihre nächsten Schritte, und an den Verkäufer, der irgendwo da draußen sitzt und vielleicht gerade seine Nachricht liest.

„Was, wenn ich einen Fehler gemacht habe?“, fragt er sich, doch tief in seinem Inneren weiß er, dass er diesen Schritt gehen musste. Es war unvermeidlich, wie ein letzter Ausweg aus einem Labyrinth, das immer enger wurde.

Er lehnt sich zurück und schließt die Augen, versucht, die aufkommende Paranoia niederzukämpfen. Der Alkohol macht ihn müde, aber er weiß, dass er in dieser Nacht kaum schlafen wird. Zu viele Fragen, zu viele Möglichkeiten.

Doch trotz aller Zweifel spürt er auch eine leise Hoffnung, dass vielleicht – nur vielleicht – er nicht mehr allein in seinem Kampf ist.

Fünfte Szene

Die Nacht zieht sich endlos hin, das leise Ticken der Uhr wird zum einzigen Begleiter seiner Gedanken. Er hat sich auf das Sofa zurückgezogen, aber der Schlaf will nicht kommen. Immer wieder wandern seine Gedanken zurück zu der Nachricht, die er abgeschickt hat. Wie wird die Antwort aussehen? Wird sie überhaupt kommen?

In der Stille seiner Wohnung hören sich selbst die kleinsten Geräusche wie bedrohliche Zeichen an. Ein leises Knarren der Dielen, das entfernte Brummen eines vorbeifahrenden Autos – alles könnte ein Vorbote von etwas Größerem sein. Aber es passiert nichts. Nur die Minuten schleichen weiter.

Als er schließlich die Augen schließt, ist es nicht der Schlaf, der ihn überkommt, sondern eine unruhige, beinahe fiebrige Dämmerung. Bilder von Schornsteinfegern und anonymen Gestalten in schwarzen Anzügen flackern durch seinen Kopf. Er sieht sich selbst in einem endlosen Labyrinth aus Gängen, Türen und verschlossenen Fenstern, hinter denen immer wieder Schatten auftauchen, nur um im nächsten Moment wieder zu verschwinden.

Mit einem Ruck fährt er hoch, der Traum – oder was auch immer es war – noch frisch in seinem Geist. Die Dämmerung hat sich längst in den frühen Morgen verwandelt, und das erste fahle Licht des Tages sickert durch die Vorhänge. Sein Kopf fühlt sich schwer an, als ob der Alkohol in der Nacht die Last seiner Gedanken nur verschlimmert hätte.

Er zieht das Handy aus der Tasche und starrt auf den Bildschirm. Keine neuen Benachrichtigungen. Natürlich nicht. Was hat er auch erwartet? Doch gerade als er das Handy wieder wegstecken will, vibriert es plötzlich in seiner Hand.

Eine Nachricht. Die E-Mail-Adresse der Kleinanzeigen-Seite leuchtet auf dem Display auf – darunter der Betreff: “Antwort von Verkäufer”.

Mit einem schnellen Blick auf die Uhr stellt er fest, dass es kaum fünf Uhr morgens ist. Die Person auf der anderen Seite scheint genauso unruhig zu sein wie er.

Die Nachricht ist kurz. Sehr kurz.

Vielleicht verstehen wir uns besser, als du denkst.

Das war alles. Kein Name, kein Gruß, keine weitere Erklärung. Er starrt auf die Worte, als könnten sie sich vor seinen Augen verändern, eine tiefere Bedeutung offenbaren. Aber die Nachricht bleibt so knapp und kalt, wie sie gekommen ist.

„Was soll das bedeuten?“, murmelt er vor sich hin. Die Worte hallen in seinem Kopf wider, drehen sich, bis sie kaum noch Sinn ergeben. Er liest sie erneut, diesmal langsamer, als könnte er dadurch eine verborgene Botschaft entschlüsseln. Doch da ist nichts, außer den Worten selbst.

Er beginnt zu spekulieren. War das eine Antwort auf seine Fragen, oder eine Art Test? Die Person, wer auch immer sie ist, scheint die Dinge absichtlich vage zu halten. Vielleicht, denkt er, will sie seine Reaktion testen, sehen, wie er auf solche Andeutungen reagiert.

Seine erste Vermutung ist, dass es sich um jemanden handelt, der in der Genossenschaft arbeitet. Jemand, der mehr über ihn weiß, als er bisher geglaubt hat. Die knappe und präzise Sprache könnte darauf hindeuten, dass diese Person es gewohnt ist, in formalen Kontexten zu kommunizieren – genau wie jemand, der in der Verwaltung arbeitet.

Aber warum sollte jemand in der Genossenschaft ihn kontaktieren? Und warum auf diese Weise? Es ergibt keinen Sinn. Doch je mehr er darüber nachdenkt, desto mehr verstrickt er sich in seine eigenen Zweifel und Ängste.

Er steht auf, geht zum Fenster und zieht die Vorhänge ein Stück beiseite. Der Tag bricht an, aber das vertraute Gefühl von Sicherheit will sich nicht einstellen. Stattdessen breitet sich die Unsicherheit wie ein dunkler Schatten über seinem Geist aus.

„Vielleicht verstehen wir uns besser, als du denkst.“ Die Worte brennen sich in sein Gedächtnis ein. Er weiß, dass er Antworten braucht, aber er ist sich nicht sicher, ob er bereit ist, den nächsten Schritt zu machen.

Seine Hände zittern leicht, als er das Handy wieder zur Seite legt. Für den Moment entscheidet er, nichts zu tun, abzuwarten und zu beobachten. Doch tief in seinem Inneren weiß er, dass dies nur der Anfang ist. Die Ungewissheit nagt an ihm, während er sich fragt, was die nächsten Tage bringen werden.