Erdrandbewohner

Inhaber einer Siegerurkunde der Bundesjugendspiele 1985

Fußball, Neurodivergenz und Ton Steine Scherben

Irgendwann Ende der 70er Jahre am Erdrand:

“Hey, Erdrandbewohner, was ist überhaupt dein Lieblings-Fußballverein?!”

Ich war etwa 8 Jahre alt. Die Jungs aus meiner Siedlung oder aus der Schule waren besessen von Fußball, spielten jede freie Minute auf dem Bolzplatz und konnten sich stundenlang über Vereine unterhalten und irgendwelche Fußballspieler für irgendwelche Fußball-Heldentaten anhimmeln.

Mich hingegen interessierte Fußball überhaupt nicht. Sportbegeisterung war bei mir nie vorgesehen. Bei meinem Vater übrigens auch nicht. Die schönsten Vater-Sohn-Wanderungen unternahmen wir während der Fußball-Endspiele von Europa- und Weltmeisterschaften.

Aber zurück zu der Frage der anderen Jungs. Ich glaube, sie wurde mir gestellt, als wir auf den Schulbus warteten:

“Hey, Erdrandbewohner, was ist überhaupt dein Lieblings-Fußballverein?!”

Ich geriet sofort in Stress. Jetzt bloß nix Falsches sagen. Ich durchforstete mein Hirn nach Gesprächsfragmenten. Nach irgendetwas, was ich mal über Fußballvereine aufgeschnappt habe. HSV? Ist der cool? Darf man den gut finden? Ist der überhaupt in der Bundesliga? Oder wie heißt der Verein, der hier in der Region gemocht wird? Mainz? Kaiserslautern?

Gottseidank fiel mir ein, dass man Sepp Maier (ich habe ihn tatsächlich mal im Fernsehen gesehen!) super findet und dass er bei FC Bayern-München spielt. Also sagte ich vordergründig ganz lässig: “Mein Lieblingsverein ist der FC Bayern-München!”. Kaum hatte ich es ausgesprochen, bekam ich Schiss. War das jetzt eine richtige Antwort? Hoffentlich kommen keine Nachfragen. Als ich merkte, dass die Jungs meine Antwort akzeptierten, atmete ich auf. Aber natürlich gabs diesen einen Klugscheißer, der es nicht dabei belassen konnte, sondern auch noch wissen wollte, wer denn meine Lieblingsspieler beim FC Bayern-München seien. “Sepp Maier und Paul Breitner!”, sagte ich mit einem Brustton der Überzeugung. Tja, ein gefundenes Fressen für den Klugscheißer: “HÄ?! Paul Breitner ist doch gar nicht beim FC Bayern-München!”. Mir fiel mein Herz in die Hose. Nicht? Ohje. Scheiße... Da wurde ich von einem anderen Jungen gerettet. “Aber Breitner WAR lange bei Bayern!”. Dann passierte etwas anderes und das Thema war vergessen. Uff.

Warum ich das erzähle? Nun, weil das ein Beispiel dafür ist, wie wenig ich seit je her mit dem ganzen “typischen” Jungs-Kram anfangen konnte. Überhaupt hing ich verdächtig häufig und gerne mit Mädchen ab. Aber nicht mit irgendwelchen Mädchen, sondern mit denen, die wenig mit dem “typischen” Mädchenkram anfangen konnten. Bei ihnen fühlte ich mich wohl, ich musste nichts spielen, was ich nicht war und wir hatten oft verdammt interessante Themen. Zumindest galt das für ein paar Jahre, dann grätschte uns die Pubertät dazwischen und machte die Welt für uns alle sehr kompliziert und seltsam.

Doch versteht mich nicht falsch: Ich liebte manche Jungs-Dinge. Wie zum Beispiel die Dunkel-Prügeleien während der 5-Minuten-Pause in der Schule im Schulklo. Sobald es klingelte, rannten wir zum Klo. Diese Toilette hatte keine Fenster, wenn man das Licht ausschaltete, war es stockfinster darin. Sobald wir fünf oder mehr Jungs waren, wurde die Türe verrammelt, das Licht ausgeschaltet und wir fielen übereinander her, nahmen uns in den Schwitzkasten, zerrten an Armen, Beinen oder nicht identifizierbaren Körperteilen, bis wir zum Schluss alle schwitzend und lachend auf einem Haufen lagen. In dieser Zeit verzweifelten meine Eltern daran, dass ich ständig neue Brillengläser und neue Gestelle brauchte, weil sie mir beim “Schulsport” kaputtgegangen waren.

Eigentlich hat sich daran bis heute nichts geändert, also damit, dass ich mit den Zuschreibungen von Geschlechterrollen nichts anfangen kann, und wenn eine “männliche” markierte Eigenschaft auf mich zutrifft, dann ist das purer Zufall. Mit meinem männlichen Körper bin ich sehr fein. Doch wenn mir jemand sagen möchte, was männlich oder weiblich ist, dann irritiert mich das – und wenn damit ich gemeint werde, dann macht mich das sauer.

Mir passiert es häufiger, dass ich einige dieser “richtigen Männers” verwirre, einfach in dem ich so bin wie ich bin. Mit mir kann man nicht über Autos reden. Das Erstaunen ist grenzenlos, wenn sie erfahren, dass ich noch nicht einmal einen Autoführerschein gemacht habe. Wenn ich erzähle, dass ich einen Motorradführerschein habe, wollen sie mit mir über Motorräder reden und verzweifeln, weil ich ihnen nur einen Vortrag über MZs halten kann, also die DDR-Motorradmarke, die ich jahrelang fuhr. Diese Motorräder sind wirklich fernab von RÖÖÖÖööööhrrrrr und 250 km/h auf der Autobahn. Fußball? Ein anderer Fernseh-Sport? Fehlanzeige. Bier trinken? Bäh! Frauen? Ich rede nicht über Frauen als solche, nur über Personen. Statussymbol Job? Haha, ich mache das, was man als Care-Job bezeichnet. Sehr, sehr uncool für gewisse Herren.

Und genau diese Typen sind es dann auch, die ich so sehr verwirre, dass sie mir gegenüber passiv-aggressiv werden. Weil sie mich nicht einordnen können. Ich bin ein groß gewachsener Mann mit Bart, mit einer Frau verheiratet, also eigentlich ein CIS-Mann. Aber ich spreche nicht ihre Männer-Sprache, nutze ihre Codes nicht (sofern ich sie kenne) und habe kein Interesse an irgendwelchen Dominanzspielchen.

Und dann gibt es noch die anderen Typen, die nach außen hin das ganze Männlichkeits-Kasperletheater mitspielen, aber sobald sie mit mir alleine sind, komplett in einen unmaskierten Modus switchen. Kurz vorher haben sie sich von einem Kumpel mit einer “Höhöhö, jo Bro!”-Rückenklopfer-Halbumarmung verabschiedet und erzählen mir Minuten später ernsthaft von ihren Beziehungsproblemen oder davon, wie scheiße sie sich in ihrem Job fühlen.

Und das verwirrt dann mich. An welchem Punkt genau wurde ich plötzlich der beste Freund, dem man solche Privatheiten erzählt? Und warum gilt dieser private Modus nur so lange, wie ich mit diesem Typen alleine bin?

Ich verstehe weder das Rollenverhalten bei männlich und weiblich gelesenen Personen, noch entspreche ich den Rollenerwartungen. Jedes Rollenverhalten ist eine Maske, schlechtestenfalls wurde diese Maske zu einer falschen Identität. Ich kann aber nur in Beziehung mit dem authentischen Menschen hinter der Maske treten. Jede Schauspielerei, jede Maske ist für mich ein Hindernis, das ich sehr schnell erkenne, aber nicht überwinden kann. Ganz ehrlich? Ich möchte dieses Hindernis auch gar nicht überwinden. Es ist nicht mein Job, sowas zu tun.

Wenn die Definition bei Wikipedia richtig ist, dürfte ich “Queer” sein. Ich spreche dieses Wort gerne deutsch, also wie “Quer” aus. Fragt nicht... ;–) Im Wikipedia-Artikel heißt es:

“Queer ['kwɪə(ɹ)] ist heute eine Sammelbezeichnung für sexuelle Orientierungen, die nicht heterosexuell sind, für Geschlechtsidentitäten, die nichtbinär oder nicht-cisgender sind, sowie Lebens- und Liebesformen, die nicht heteronormativ sind.”

Meine Geschlechtsidentität ist offenbar nichtbinär, weil ich nichts mit den Rollenbildern und den Zuschreibungen anzufangen weiß und sie grundsätzlich scheiße finde. Weil ich es als puren Zufall empfinde, dass ich mit meiner wunderbaren Liebsten eine weibliche (!) Lebenspartnerin gefunden habe. Die übrigens Bi ist. Aber das nur am Rande.

Ich habe an verschiedenen Stellen gehört und gelesen, dass in der queeren Szene extrem viele neurodivergente Menschen zu finden sind. Ob dem so ist, kann ich nicht sagen, aber grundsätzlich macht das sehr viel Sinn. Denn gerade wir Autist:innen haben keine Verträge mit gesellschaftlichen Normen und Ansprüchen. Selbst wenn wir versuchen, sie zu verstehen und diesen Regeln und Ansprüchen nachzukommen, versagen wir früher oder später dabei. Oder wir werden krank, weil die Regeln der neurotypischen Mehrheit unserem So-Sein zuwiderlaufen.

Und das, ihr Lieben, sehe ich als Superkraft: Die meisten neurodivergenten Menschen sind von Geburt an zur Authentizität verdammt. Wir können unser So-Sein verbergen, verleugnen und sogar hassen – aber davon wird unsere Seele krank.

Ich für meinen Teil werde mich Stück für Stück auf in der Vergangenheit angeeignete NT-Kackscheiß-Normen überprüfen, ihre Auswirkungen auf mich untersuchen und sie dann ggf. fallen lassen.

Rio Reiser und die Ton Steine Scherben sangen “Ich will ich sein”. Für mich hingegen gilt: Ich MUSS ich sein. Anders kann ich nicht sein...

Boah! Erstmal Luft holen...

Ihr Lieben, das hier wird nur ein kurzer Blogartikel. Nur eine kleine Erkenntnis über mich. Ja, es wird wieder privat und hat mit meinem derzeitigen ADHS-Hyperfokus und meinem neuen autistischen Spezialinteresse zu tun. Richtig, es geht um meinen höchstwahrscheinlichen Autismus. Wer hätte das gedacht! ;–)

Seit meiner frühsten Jugend bekomme ich die Rückmeldung anderer Menschen, ich sei ein netter, intelligenter, sehr tiefgründiger Mensch. Nichts könne mich aus der Ruhe bringen, ein richtiger Fels in der Brandung. Außerdem sei es toll, dass ich nicht verurteile, immer sachlich bleibe, und so weiter.

Das bekam (und bekomme) ich so oft zu hören, dass das ein Teil meines Selbstbildes wurde. Und stimmt schon, irgendwas muss ja dran sein. Wenn ich mit Kindern zu tun habe, dann sind es vor allem die ernsten, die schüchternen oder die stillen Kinder, die meine Nähe suchen. Was mich verwundert, was ich aber auch schön finde. Außerdem werde gerne um Rat bei Privatangelegenheiten gefragt (was mich übrigens oft tierisch stresst). Ich gelte als sehr vertrauenswürdig. Aus irgendeinem Grund lassen viele mir wildfremde Leute mir gegenüber sehr schnell ihre Maske fallen und zeigen sich so, wie sie sich anderen Menschen gegenüber nicht zeigen würden. Ich weiß nicht, warum. Ich nehme es wieder verwundert hin, bin damit aber nicht selten überfordert...

Diese Fremdwahrnehmung meiner Person ist ja irgendwie nett. ABER SIE STIMMT NICHT!

Während mir Menschen bewundernd sagen, dass sie meine ruhige Tiefgründigkeit so sehr mögen, kann in mir in dem Augenblick ein sehr unangenehmes Gefühlschaos toben. Während ich in einer Traube von wunderbaren, ruhigen, schüchternen Kindern sitze, bekommt niemand mit, dass ich gerade mit einem (natürlich stillen) Meltdown kämpfe und kurz davor bin, nicht mehr reden zu können. Stattdessen freut man sich in genau diesem Moment über meine “tolle Art”, mit den Kindern umzugehen. Wenn ich um einen Rat gebeten werde, ist man offenbar sehr glücklich mit meinen “Weisheiten”, die sich allerdings für mich selber als konstruierte, krampfhaft hervorgebrachte Plattitüden anfühlen. Ähnlich wie bei einer Katze, die unter vollem Körpereinsatz einen Haarball herauswürgt. Während ich stinkewütend auf meinen Kollegen bin und ihm zum hundertsten Mal erkläre, dass er Scheiße baut, lächelt er mich offen an und bedankt sich bei mir, weil ich immer so viel Verständnis zeige... Hallo?! Das alles ist doch einfach nur kafkaesk!

Kurz: Mein Innerstes, also mein wahres Gefühlsleben gelangt in der Regel nicht nach außen. Menschen können mich nicht lesen. Zumindest nicht, wenn sie mich nicht gut und lange kennen oder sich wenig Mühe geben. Wenn ich etwas über mich mitteile, kann es sein, dass es überhaupt nicht zu meinem Tonfall, zu meiner Mimik und zu meiner Körpersprache passt. Und ich frage mich seit jeher, warum die Leute oft so dermaßen komisch auf mich reagieren...

Dass mich die Menschen schwer lesen können, ist vermutlich die andere Seite der “Es fällt mir schwer, andere Menschen zu lesen”-Medaille. Nur, dass ich mein Leben lang unbewusst geübt habe, die Anderen zu lesen. Und tatsächlich habe ich für einen Autisten eine gewisse Meisterschaft darin erlangt. Was mir aber bisher völlig an mir vorbeigegangen ist: Mein Unvermögen, mich meiner meist neurotypischen Umwelt mitzuteilen. Denn man hört verdammt wenig auf Worte, wenn sie nicht in einem wahnsinnig komplexen gemeinsamen Tänzchen mit dem Tonfall, der Mimik und der Körpersprache geäußert werden.

Was folgt daraus? Während in der autistischen Gemeinschaft das Entmaskieren ein ganz großes Thema ist, muss ich wohl erst einmal lernen zu verstellen, damit mich andere Menschen lesen können.

Hört ihr den tiefen, resignierten Seufzer, der sich vom Erdrand über die ganze Welt ausbreitet?

In meiner eigenen Welt

Ich rufe die Onleihe auf, stöbere herum auf der Suche nach Büchern über Autismus. Ein paar Bücher, es ist wirklich nicht die Welt. In über der Hälfte aller verfügbaren Bücher zu dem Thema gehts um Kinder oder sind furzstaubtrockene Ergüsse irgendwelcher (höchstwahrscheinlich mit einer DIN-gerechten und TÜV-geprüften Hirnchemie ausgestattenen) Mediziner:innen, die mit ihrem gesamten medizinischen Wissen ganz einfühlsam alles dafür tun, damit das Krumme möglichst gerade wird.

Das ist der leider immer noch übliche pathologische Blick auf Neurodivergenz. Der folgende Klappentext ist Beispielhaft für den Blick auf den Autismus und auf die Autist:innen:

„Autismus – das Sichabsondern von der Außenwelt und Verschlossen bleiben in der Welt der eigenen Gedanken und Phantasien – zählt zu den besonders rätselhaften seelischen Störungen. In diesem Buch werden von einem renomierten Spezialisten… (Blahblahblah)“

Ja natürlich, Autist:innen sondern sich ab und leben in ihrer eigenen Welt. Und klar, Autist:innen sind seelisch gestört, da braucht es schon renommierte Spezialisten... Hört ihr meine sarkasmustriefende Stimme?

Auf anderen Klappentexten leiden autistische Menschen immer ganz fürchterlich unter ihrem Autismus, oder es sind Eltern, die leiden. Manchmal leiden auch die Lehrkräfte. Leid. So viel Leid. In meinem Kopf hüpft eine Video-2000-Kassette mit einem Tränendrüsen-Video der Aktion Sorgenkind aus Anfang der 80er in den monströsen und sündhaft teuren Videorekorder und spielt sich selber ab.

In Büchern besonders wohlwollender Autor:innen werden die Stärken von Autist:innen betont. Mathe! Strukturiertes Denken! Mustererkennung! Informatik! Spezialinteressen-Expert:innen! Yippie! Alles Superkräfte! Die kann man sogar kapitalistisch verwerten! Aber bloß nicht alleine auf die Menschheit loslassen, das wird schief gehen.

Boah... Bullshitbingo pur!

Und dann gab es da noch dies eine Buch. Ein Roman, der mich berührte, mich durchrüttelte, und mich mit unendlich viel Liebe für die Protagonistin überflutete – die mich in ihrem Denken, Erleben und Handeln in so vielen Dingen an mich während meiner Kindheit und Jugend erinnerte. Ich glaube, dieses Buch eroberte sich bereits mit dem ersten Kapitel seinen Platz in meinen persönlichen Pantheon der lebensverändernden Bücher.

Heute wird es nicht um dieses Buch gehen. Sorry. Aber vielleicht in einem der nächsten Blogartikel.

Als ich mich noch über die stereotypen Klischees in Buchform aufrege, kamen mir merkwürdige Gedanken. Und die gingen in etwa so: „Hm, was heißt das eigentlich, „in seiner eigenen Welt“ zu leben? Warum wird das vor allem bei Autist:innen gesagt, aber nicht bei Fußballfans. Die Welt eines Bayern-Fans muss doch eine völlig andere Welt sein als die eines Kaiserslautern-Fans? Oder wie ist das bei Polizist:innen? Oder bei Bibliotheksangestellten?“.

Mal ernsthaft, wisst ihr, wenn ihr nicht zu so einer Gruppe gehört, wie die wirklich ticken? Worüber sich Fußballfans beim Pinkeln im Stadionklo so unterhalten, was für Phantasien sich die Polizist:innen bei ihren Schießübungen hingeben, was die Bibliothekar:innen zwischen den Regalen in der Bücherei heimlich treiben? Über was nerden sie in ihren Mittagspausen herum, wie sind die Erkennungszeichen, die geheimen Rituale? Ich habe nicht die geringste Ahnung, denn ich lebe nicht in deren Welten. (Super, jetzt sehe ich vor meinem geistigen Auge Bibliotheksangestellte im muffig-staubigen Bibliothekskeller bei Kerzenlicht okkulte Rituale vollziehen…)

Doch zurück zu meinem Gedankengang: „Eigentlich sind eigene wie auch gemeinsame Welten etwas völlig Normales und Schönes. Das führt mich zu der Frage: „WAS ZUM GEIER IST MEINE EIGENE WELT?! Warum fühlt sich meine eigene Welt so falsch und unpassend an, als sei das gar nicht meine eigene Welt, sondern was anderes?“

In der Tat wurde es von den Erwachsenen nicht gerne gesehen, wenn ich als Kind zu sehr in meiner „eigenen Welt“ lebte, und ich merkte schon früh, dass es kaum Überschneidungen zwischen meiner und der Welt der anderen Kinder gibt. In meiner Welt gab es Bücher. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir (fast) alle Bücher aus der Burg-Schreckenstein-Reihe, Jules Vernes Werke und natürlich vieles von Karl May. Ich liebte heiß und innig die Tripods-Trilogie von John Christopher und später das Buch Andymon von Angela und Karlheinz Steinmüller. In der Welt anderer Jungs wurde Fußball gespielt und so getan als sei man Bruce Lee oder Supermäääään! (Was bitte ist ein Bruce Lee, und warum fuchtelt man dabei immer mit den Armen und macht währendessen so komische Geräusche?)

Aber ich war ein kluges Kind, ich beobachtete, ahmte nach, heuchelte sogar Interesse für Themen, die ich totlangweilig fand. Ich lernte, mich in den richtigen Augenblicken unsichtbar zu machen (das ist aber ein anderes Thema) und ich lernte, dass besonders Lehrer:innen es mögen, wenn man ihnen (scheinbar) ununterbrochen mit einem Halblächeln ins Gesicht starrte, während man mit seinen Gedanken auf Weltreise ging. Die Lehrer:innen nannten das „aufmerksam und interessiert sein“, und diese erworbene Fähigkeit rettete mir in diesem Bildungssystem mehrmals den Arsch.

Doch trotzdem ahnte man, dass mit mir irgendwas nicht stimmte. Im zweiten Schuljahr war ich ständig krank, verpasste viel Unterricht. „Ihr Sohn ist geistig behindert, deswegen wäre es zu seinem Besten, wenn er auf eine Sonderschule ginge!“, so meine neue Grundschullehrerin in der zweiten Grundschulklasse (34 Kinder auf engstem Raum in einem schallernden Klassenzimmer). Meine Eltern waren empört. Und holten ein kinderpsychologisches Gutachten ein. Ein außergewöhnlich kluges Kerlchen sei ich, stand darin. Wenn auch mit deutlichen Teilleistungsschwächen und Konzentrationsschwierigkeiten, schnell erschöpft und mit einer nicht näher definierten Entwicklungsstörung, die sich, so die hoffnungsverheißende Aussage der Kinderpsychologin, wahrscheinlich auswächst.

Die Lehrerin war ernsthaft angepisst. Sie wollte mich unbedingt auf der Sonderschule wissen, aber selbst der Direktor der Schule meinte, dass das so nicht ginge. Eigentlich war das ein knallhartes „Du gehörst nicht in meine, und auch nicht in unsere Welt! Verpiss dich!“, ins Gesicht gelacht von einer Frau, die Pädagogik studiert hatte und mit Kindern arbeitete.

Ich wurde zur Kinderkur geschickt (was ein Horror!), wiederholte die zweite Klasse und kam zu einem jungen, engagierten Lehrer, der mit uns spannende Experimente im Unterricht durchführte. Der mit uns in die Pilze ging, uns die Bäume und Sträucher lehrte. Er erzählte uns die Geschichte des Ortes und ich hing an seinen Lippen. Und das in einer Klasse mit nur noch 18 Kindern, in einem ruhigen Klassenraum zum Schulgarten raus. Ich blühte, zumindest schulisch, auf und war nicht mehr ständig krank. Die anderen Kinder akzeptierten mich, so wie man einen freundlich-harmlosen, verträumten und etwas verschrobenen Schulkameraden akzeptiert, der sich für seltsame Dinge interessiert, auf die man ihn besser nicht anspricht.

Ich hingegen akzeptierte die anderen Kinder so, wie man andere Kinder akzeptiert, die einfach da sind und ihre speziellen und geheimen Kinder-Dinge machten. Manche Kinder mochte ich besonders, denn sie zeigten keine Scheu mir gegenüber. Ein Gruß geht raus an Kiki, an Silke und an Nicole! Ich weiß, das Thema Vulkane ist so ein Jungs-Thema und es hat euch nur am Rande interessiert, aber ihr hörtet mir ernsthaft zu und mit euch konnte ich mich ganz normal auch über eure Themen unterhalten.

In der vierten Klasse bekam ich wieder meine alte Lehrerin aus der zweiten Klasse zurück. Sie hatte noch eine Rechnung mit mir offen, und so bekam ich trotz (bis auf Mathe) guter Leistungen eine Empfehlung für die Hauptschule. „Sie wissen ja, diese Entwicklungsstörung. Da ist es für ihn besser, wenn man ihn nicht überfordert. Er kann ja später auf andere Schulen wechseln.“ Meine Eltern, „einfache“ Leute aus der Arbeiterklasse, meinten, ein späterer guter Hauptschulabschluss sei ja schon was. Ich hingegen heulte vor Wut, weil Stefan mit einem ähnlichen Zeugnis aufs Gymnasium kam. Seine Eltern waren Gymnasiallehrer. Und Ralf bekam mit ebenfalls ähnlichen Noten eine Empfehlung für die Realschule. Sein Papa war Beamter im Katasteramt. Auf diese Art lernte ich, dass der gesellschaftliche Status der Eltern darüber bestimmt, welche Chancen man später hat.

Auf der Hauptschule wusste ich in der fünften Klasse die Baustile der europäischen Architektur zu unterscheiden und zu erklären. Das hatte ich gelernt, als ich mit meiner Tante in Frankreich war. Leider machte ich den Fehler, meiner Lehrerin mitzuteilen, dass die Kirche im Nachbardorf nicht romanisch, sondern neoromanisch und somit erst etwas über 100 Jahre alt sei. Sie wurde fuchsteufelswild und herrschte mich wütend an, dass sie auf das Geschwätz altkluger Kinder nichts gäbe. Wie gut, dass ich ihr nicht erzählte, dass ich in der Bücherei eine Kassette von Franz-Josef Degenhardt entdeckt hatte mich deswegen für die Ideen des Sozialismus und des Kommunismus interessiere. Sie hätte mich in der Luft zerfetzt. Ich lernte, meine Fresse zu halten, um nicht „altklug“ (was ein bescheuertes Wort) zu wirken. Hinter meinem Rücken hieß ich bei meinen Klassenkamerad:innen „Professor“. Ich erfuhr davon erst Jahrzehnte später bei einem Klassentreffen.

In der siebten Klasse bekam ich nicht nur Pickel, fettige Haare, viel zu große Hände und Füße, ich bekam auch eine neue Klassenlehrerin. Sie sagte irgendwann den magischen Satz zu mir: „Erdrandbewohner, du gehörst einfach nicht hier auf die Hauptschule, du gehörst aufs Gymnasium und ich traue dir zu, dass du später mal studieren wirst!“

Dieser Satz elektrisierte mich. Ja, das wars! Ich war einfach nur an der falschen Stelle, am falschen Ort bei den falschen Menschen! Und das schon seit immer! Die Leute, die ähnlich wie ich ticken, besuchen das Gymnasium, Leute, die ähnlich wie ich sind, studieren später! Wahrscheinlich wohnen sie auch ganz wo anders. Alles machte Sinn: dass mich der Schmalspur-Unterricht anödete, dass ich niemanden fand, mit dem ich auf einer Wellenlänge schwang. Ich musste irgendwie Abi machen!

Während meine Mitschüler:innen immer komischer wurden und das Balzverhalten einen immer höheren Stellenwert einnahm, wurde mir zunehmend klarer, dass ich zwar akzeptiert wurde, aber einfach nicht dazu gehörte. Klar, ich tröstete mich damit, dass „meine Leute“ sind ja auch auf einer anderen Schule sind! Ich gehörte nicht einmal zur selben Gattung wie meine Freunde, denn ich musste mich ein großes Stück selber verleugnen, um ein rudimentäre Gefühl von Anerkennung fühlen zu dürfen und den schalen Geschmack von falscher Zugehörigkeit zu schmecken. Ich hatte mir diese Freunde nicht einmal selber ausgesucht, sondern ich wurde von ihnen adoptiert. Selber Freunde finden… Wie geht das überhaupt und warum zum Geier kann ich das nicht?!

Was ich dachte und fühlte, was ich interessant fand und von welchen Abenteuern ich träumte, interessierte diese Freunde nicht wirklich. Ich hätte es ihnen auch nicht gesagt. Ich wäre nur wieder der komische, „altkluge“ Typ gewesen, man hätte mich belächelt oder sich lustig über mich gemacht. Ich war richtig klug, also ich schwieg darüber und tat so, als sei ich wie sie…

Die Hauptschule schloss ich als Zweitbester des Jahrgangs ab und würde nun erst einmal meine Mittlere Reife nachholen. Später würde ich nach einer Lehre und dem Zivildienst mein Fachabi machen und studieren. Andere Wege gab es damals nicht. Meine Lehrerin war stolz auf mich und sagte es mir auch genau so. Sie vergaß ich nicht, die Namen und Gesichter meiner Mitschüler:innen verblassten hingegen binnen weniger Jahre zu gestaltlosen Schemen in meiner Erinnerung.

Ich machte meine Mittlere Reife, meinen Zivildienst, zog in eine chaotische, links-alternative 6er-WG, gefiel mir in der Rolle eines langhaarigen Linksradikalen, machte eine Lehre, einfach um eine abgeschlossene Lehre zu haben, erlangte später mein Fachabi, und, Tadaaa, studierte schließlich. Auf meinem Weg war nichts einfach, alles kostete mich eine unglaubliche Kraft. Eine Unterstützung bekam ich nicht. Weder finanziell, noch stand meine Familie hinter mir. Meine Eltern verstanden nicht, warum ich meinen guten Hauptschulabschluss gegen ein Fachabitur eintauschte, ja sogar studierte! Alles nur verlorene Zeit, in der ich längst gutes Geld verdienen und für ein Häuschen sparen könne. Erst nach dem Tod meines Vaters erfuhr ich von einem seiner Freunde, dass er insgeheim dann doch sehr stolz auf mich war...

Ich feierte großartige Erfolge: Mit Anfang 20 hatte ich erstmals einen unfallfreien Smalltalk an der Käsetheke. Ich war soooo stolz auf mich! Ich saß gerne in Cafés und Kneipen, einfach nur, um Menschen zu beobachten, sie in ihrer Mimik und Gestik zu entschlüsseln. Sah ich eine Gestik, mit der ich nichts anzufangen wusste, spielte ich sie vor dem Spiegel nach, in der Hoffnung, dass sie sich mir erschließt. Was soll ich sagen, so langsam hatte ich darin eine gewisse Sicherheit erlangt. Ich entdeckte, dass Alkohol meine überempfindlichen Sinne dämpft. Und ich entdeckte, dass Cannabis meine innere Anspannung lindert. Mit diesen Hilfsmitteln gelang es mir manchmal, mich fast normal zu fühlen, so als gehörte ich dazu. Fast.

Ich war fast 30, als ich endlich studieren konnte. Ich hatte einen Beruf erlernt, der mich nicht interessierte, ich musste in einer Fabrik am Band arbeiten, um mein Fachabi zu finanzieren. Monotonie, Druck und Schichtarbeit. Ich bin fast durchgedreht. Dann das Fachabi, nochmal ein Jahr die Schulbank drücken. Ich studierte weit weg und musste eine Wochenendbeziehung führen, in den Semesterferien arbeitete ich, um mich zu finanzieren. Ich rannte, rannte und rannte, und ahnte schon lange, dass ich mich komplett verlaufen hatte in meinem Leben. Ja, ich habe meiner Grundschullehrerin in dem Moment den Stinkefinger gezeigt, als ich mich an der FH einschrieb. Ja, ich war stolz auf mich. Ich habs allen – und vor allem mir, gezeigt… Aber zu welchem Preis?

Habe ich „meine Leute“ gefunden? Nein. Ich habe nur eine Person gefunden zu der ich passe und die zu mir passt. Und die habe ich geheiratet. Passte ich jetzt besser in die Welt? Nein. Obwohl ich lernte, nachahmte, mich verbog und verstellte, verstand ich diese Welt und die Menschen in ihr immer noch nicht.

Mit 42 erhielt ich die ADHS-Diagnose. Nach einem Eigenverdacht. Die Diagnose nahm unglaublich viel Druck raus. Aber ADHS erklärte nicht alles. Meine Ärztin vermutete auch Autismus, wollte oder konnte das nicht diagnostizieren. Ich solle mich erst einmal um mein ADHS kümmern.

Jetzt, mit 50+ wende ich mich endlich meinem Autismus zu. Also nicht nur als einen abstrakten Gedanken, wie bisher, sondern in der Tiefe. Und plötzlich macht alles Sinn. Mein ganzes Leben erklärt sich, bis in die Details!

Und wisst ihr, was ich jetzt anfange? Ich entdecke als Autist meine eigene Welt neu und werde in ihr leben! Jawoll! Dass ich dabei das Klischee der neuronormativ denkenden Menschen bediene, finde ich auf eine ironische Weise sehr lustig.

Seit ich mich von Mastodon zurückgezogen habe, lese ich wieder Bücher. Eins nach dem andern, wie damals, in meiner Jugend. In meinem Kopf sind plötzlich Kapazitäten dafür frei. Es macht mich glücklich. In meiner Welt streife ich durch Wälder, erkunde die Gegend mit dem Rad, recherchiere über die Geschichte der Orte, an denen ich mich aufhalte. Das gibt mir Energie und Sicherheit. In meiner Welt entdecke und genieße ich meine Musik, und hin und wieder eine geringe Menge Psilocybin oder LSD. Zusammen mit meiner Liebsten erkunde ich Museen und Architektur. Überhaupt habe ich mit meiner Liebsten genau die Verbindung und vor allem den Austausch, den ich mir mein Leben lang wünschte. Andere Menschen kommen in meiner Welt nur wenige vor, und wenn, dann nur am Rande.

Mich regelmäßig über das Weltgeschehen informieren? Was soll mir das bitteschön bringen? Mir zu jeder Sau, die durchs Dorf getrieben wird, eine Meinung bilden? Es ist so befriedigend, einfach sagen zu können, dass man keine Meinung zu einem Thema hat. Mit anderen Menschen über Themen reden, die mich nicht einmal ansatzweise interessieren? Das macht keinen Sinn! Ich höre auf für Menschen mitzudenken, die mir nicht am Herzen liegen. Also, liebe Kolleg:innen, nutzt ab nun euer eigenes Hirn! Ich versuche mir nicht mehr herzuleiten, was andere Menschen meinen könnten, wenn sie sich nicht klar ausdrücken. Ich sag dann einfach „Verstehe ich nicht“. Punkt. Wenn mich jemand volllabern will, dann gehe ich. Punkt. Wenn jemand mit mir über eine andere Person lästern will, dann schweige ich. Punkt.

Bei der Wiederentdeckung, bzw. dem Wiederaneignen der „eigenen Welt“ neurodivergenter Personen ist das „Unmasking“ ein wesentlicher Teil. Unmasking bedeutet das Erkennen und das bewusste, Aufgeben erlernter Verhaltensweisen, die einzig darauf abzielten, das eigene So-Sein zu verschleiern, um nicht anzuecken, nicht aufzufallen, also nicht ausgeschlossen zu werden. Das ist eine große und langwierige Aufgabe, die Fingerspitzengefühl und Mut erfordert. Eben weil man jetzt zu sich steht und möglicherweise völlig anders als vorher reagiert, was bei anderen zu Verwirrungen führt.

Für das verwirrte, neurotypische Umfeld wäre das dann genau der richtige Zeitpunkt für ein Buch eines renomierten Spezialisten, der einem diese besonders rätselhafte seelischen Störungen erklärt. ;–)

Ich danke euch fürs Lesen. Bis bald! <3

Ein Bericht. Tag 3, Tag 4, die Rückfahrt und das Fazit

Tag 3

Der Tag begann, ihr ahnt es vielleicht bereits, mit dem Duft von frisch gebackenen Croissants und vom heißen Brot direkt aus dem Ofen. Aber das bekam ich nur halb bewusst mit, denn ich wurde kaum wach, schlief immer wieder ein oder befand mich in einem Halbschlaf mit wirren Träumen. Irgendwann klingelte mein Handy-Wecker. Höchste Zeit aus dem Bett zu krabbeln, denn sonst könnte es knapp mit dem Hotelfrühstück werden.

Meine Liebste war ähnlich angematscht, was nach dem gestrigen Tag niemanden verwunderte. Heute, ja, heute aber würden wir wirklich langsam machen und auf unsere Bedürfnisse hören! Jawollja!

Also machten wir uns tagesfein, fuhren mit dem wohl kleinsten Personenaufzug der Welt (etwa einen halben Quadratmeter groß, aber angeblich für vier erwachsene Personen geeignet) runter zum Frühstück. Warum zum Geier läuft immer dieser scheiß Fernseher im Essensraum? WARUM?! Der Rezeptions-Mensch glaubte uns sogar einen großen Gefallen zu tun, als er statt eines gruselig-aufgekratzten Senders nun ARTE-Sendungen laufen ließ, damit wir aufgrund der deutschen Untertitel an seinem Fernsehspaß teilhaben konnten. An diesem Morgen wünschte ich mir die alten Röhrenfernseher herbei, die so einen befriedigenden, dumpfen Implosionsknall von sich gaben, wenn man die Mattscheibe mit einem Stein, einer Axt oder einem Vorschlaghammer zertrümmerte. Wir brachten unser Frühstück schnell und ohne Zerstörungen hinter uns, holten auf dem Zimmer unsere Taschen und machten uns auf – heute gings zum berühmten Friedhof Père Lachaise. Mehr hatten wir uns nicht vorgenommen, alle anderen Ideen waren nur Optionen.

Aber zuerst wieder in unsere Endgegner-Metrolinie 11. Und ja, es war mal wieder sehr voll und herausfordernd. Doch gottseidank, nach nur zwei Stationen mussten wir in der Station Belleville umsteigen, in die Linie 2. Wie leer und lieb uns die Linie 2 doch war! Ja, SO gehört das! Sitzplätze, kein Gedränge! Wunderbar! An der Station Philippe Auguste stiegen wir aus und kletterten an die Oberfläche. Eine auf den ersten Blick eher unattraktive Gegend, aber es ging uns ja heute um den Friedhof, dessen Westeingang, ein paar hundert Meter von der Station entfernt lag. Hier befindet sich der älteste und malerischste Teil.

Ich bin davon überzeugt, dass man den Friedhof Père Lachaise am besten an einem kalten und düster-nebeligen Novembertag besuchen sollte, wenn man den morbiden Charme verfallender Pracht, kahler Bäume und krächzender Raben in seiner ganzen Tiefe erleben möchte. Ein kühler, bewölkter Februartag geht aber auch, doch braucht es etwas mehr Phantasie, denn lärmende Kinder einer nahen Schule und die in Erwartung des Frühlings tschilpende Spatzen störten ein wenig die Reflektionen über den Tod und die Vergänglichkeit.

Wir liefen stundenlang zwischen den Grüften umher, machten viele Fotos, genossen die Stille, folgten irgendwann einer kleinen Gruppe junger, schwarz gekleideter, spanisch sprechender Menschen, von denen wir annahmen, dass sie zum Grab von Jim Morrison unterwegs waren. Herrjeh, wie kann man auf so einem tollen Friedhof so zielstrebig unterwegs sein, ohne die Besonderheiten und die Schönheit des Ortes mit auch nur einem Blick zu würdigen? Es muss schlimm sein, an Neuronormativität zu leiden...

Das bemerkenswerteste an Morrisons unscheinbarem Grab waren die Absperrungen mit mobilen Bauzäunen davor, der von den Besucher*innenmassen völlig plattgetrampelten Boden und ein großer Baum, der mit einer Sichtschutzmatte aus Stroh umwickelt war, an dem tausende und zig tausende Kaugummis klebten. Was für ein trauriger Ort und was für eine erbärmliche Form der Verehrung eines Idols!

Viel spannender als das Grab von Morrison fand ich die verfallenen Grüfte und Gräber, deren Bodenplatten zerbrochen waren, so dass man einen Blick auf zerstörte Särge mit den Knochen seiner Besitzer*innen werfen konnte. Manche der Grüfte dienten offenbar Obdachlosen als Wohnstätte, jedenfalls lagen Schlafsack und Habseligkeiten herum. Wie viel Geld einst die Angehörigen in die Errichtung eines prächtigen Grabtempels investiert hatten, um mit ihrem finanziell-gesellschaftlichem Status zu protzen! Heute gibt es nur noch wenige der alten, prächtigen Grufthäuschen, die gepflegt und in Schuss gehalten werden. Die meisten Grabhäuser befinden sich in variablen Zuständen des Verfalls, die Toten sind längst vergessen und die Nachkommen interessieren sich nicht dafür.

Je weiter man sich vom Westeingang fortbewegt, desto jünger werden die Gräber. Man kann hierbei sehr schön den Wandel der Bestattungskultur beobachten. Es wird schlichter, aber auch individueller. Monumentale Grabstätten waren kaum noch zu sehen. Dafür gibt es jetzt bevorzugte Ecken, in denen sich Kommunistinnen oder Jüdinnen bestatten ließen. An der Mauer der Kommunarden entdeckte ich zufällig das Grab von Laura Lafargue, geborene Marx, eine der Töchter von Karl Marx. Zusammen mit ihrem Mann Paul Lafargue schied sie 1911 freiwillig und selbstbestimmt aus dem Leben. Sie liegen im Familiengrab der Familie Longuet bestattet, die heute noch das Erbe von Karl Marx lebendig hält. Lenin soll bei der Beerdigung der beiden eine Rede gehalten haben.

Oscar Wilde besuchten wir, Edith Piaf, Max Ernst und Max Ophüls. Das Grab des ukrainischen Anarchisten Nestor Machno und das eines Jürgen (dem Onkel eines Mastodon-Followers) fand ich trotz einiger Suche leider nicht, hinterließ aber vor mich hin gemurmelte Grüße.

Obwohl wir nur einen kleinen Teil des Friedhofs gesehen hatten, verließen wir fußmüde und durchgefroren das Reich der vergessenen und unvergessenen Toten durch den Ostausgang. Unsere Hoffnung war es, ein kleines und ruhiges Café zu finden, um uns dort etwas aufzuwärmen und auszuruhen. Und das fanden wir dann auch schnell: Ein einfacher, kleiner Raum hinter einem großen Schaufenster, die Wände am Fenster schimmelig, der Putz an den Wänden abblätternd. Tische und Stühle vom Sperrmüll, eine gebrauchte Theke, deren beste Zeit schon seit Jahrzehnten vorbei war. Das Café war gut besucht von einem studentischen, links-alternativ gelesenem Publikum. Das Alleinstellungsmerkmal dieses Cafés war wohl der Kaffee aus Argentinien. Und der Zustand der Einrichtung, der alle bürgerlichen Vorstellungen von Behaglichkeit und Wohnlichkeit verhöhnte und verspottete. Die Bedienung war nett, der Kaffee heiß und lecker, wir tauten auf und überlegten, wie es nun weiter gehen könnte.

Meine Liebste schlug vor, uns die Kirche Saint Augustin anzuschauen, auf die ich während der Vorbereitungen zum Parisurlaub durch Zufall gestoßen bin und äußerst spannend fand. Mit der Metrolinie 3 ging es vom nahe gelegenen Place Gambetta zu einer Station, deren Namen ich vergessen habe. Die Metro war erträglich, spuckte uns aber an einem höllisch belebten und dementsprechend lauten Ort aus – an einem der Prachtboulevards. BÄNG! Stress subito! Erstmal orientieren. Scheiße, echt jetzt, diese höllisch laute Straße noch ein gutes Stück entlang? Um der Situation zu entfliehen, rannten wir fast. Nur noch um diese Ecke und… Ah, da steht die Kirche ja!

Die Kirche ist ein äußerst seltsames Bauwerk. Sie ist noch jung, erst 1871 wurde sie fertig gestellt. Stilistisch wird sie dem Historismus, genauer dem Eklektizismus zugerechnet. Romanik, Gotik und Renaissance verschmelzen zu etwas ganz eigenem, und erstaunlicherweise gefiel es mir sehr. Der Grundriss des Gebäudes ist trapezförmig, ein recht schmaler Eingangsbereich weitet sich, um einen gigantischen Chorbereich mit einer ebenso gigantischen Kuppel darüber. Was diese Kirche wirklich einzigartig macht: erstmals wurde hier ein Tragwerk aus prächtig verziertem Gusseisen verwendet, die Steine des Mauerwerks selber sind nur Blendwerk und haben keine tragenden Funktionen. Wenn man das Kirchenschiff empor schaut, dann wird man an eine alte Markthalle erinnert. Und das ist überhaupt kein Wunder, denn der Architekt dieses Kirchengebäudes entwarf einst die berühmten, aber im Modernisierungswahn der 60er und 70er Jahre abgerissenen Markthallen von Les Halles.

Wir beschlossen, dass wir genug gesehen hatten für den Tag. Nach Hause, ins Hotel! Und Abends wollten wir essen gehen. Meine Liebste, gleichzeitig auch meine Beauftragte für Genussfragen, hat uns ein super bewertetes vietnamesisches Restaurant in Belleville herausgesucht, ganz in der Nähe unseres Hotels. Es war ebenfalls meine Liebste, die mich davon überzeugte, dass wir besser mit dem Bus nach Belleville fahren, denn sie hatte mit nur einem Blick auf ihr Handy eine Linie herausgefunden, die nicht weit unseres Standorts quer durch die Innenstadt bis zur Haltestelle direkt bei unserem Hotel fährt.

Wir bekamen sogar Sitzplätze und genossen sowohl die Aussicht als auch das Sozialverhalten der Pariser*innen in den Bussen des ÖPNVs. Es ist auffällig, dass vor allem ältere Personen lieber mit dem Bus als mit der Metro fahren. Zum einen sind die alten Metrostationen innerhalb der alten Stadtgrenzen in keinster Weise barrierefrei. Zum anderen ist die Fahrt mit der U-Bahn, ihr habt es ja bereits mitbekommen, meist enorm stressig und überfordernd.

Auch der Bus füllte sich schnell, aber alle Fahrgäste verhielten sich äußerst aufmerksam und freundlich einander gegenüber. Wer schlecht zu Fuß war, dem wurde sofort ein Sitzplatz angeboten. Wildfremde Leute begannen freundliche Gespräche, zusammen organisierte man, dass eine Frau mit Kinderwagen einsteigen konnte, obwohl eigentlich kein Platz mehr war. Niemand murrte, alle rückten zusammen. Ein alter Mann kramte in seiner Tasche herum, fischte Süßkram daraus hervor, überreichte es einem überraschten, den Klamotten nach armen Papa, der es an seine zwei wunderschönen kleinen Kinder weiterreichen sollte. Es war trotz des vollen Busses eine insgesamt sehr angenehme und spannende Fahrt. Und die Krönung des Ganzen: Als wir ankamen, hatten wir noch so viel Energie, dass wir uns in das kleine Bistro bei unserem Hotel setzten, noch etwas tranken, und kleine, süße Köstlichkeiten aus Nordafrika probierten.

Wir ruhten ein wenig aus, dann machten wir uns auf den Weg zum Restaurant. Zu unseren hart erlernten Skills als neurodivergente Menschen gehört es, dass wir im Restaurant (natürlich mit Reservierung) aufschlagen, sobald es gerade geöffnet hat und noch nichts los ist. Diesen Trick kann ich nur empfehlen. Der Service ist dann noch sehr entspannt und besonders zuvorkommend, das Essen ist schnell da, und wir sind fertig, wenn es beginnt so richtig voll und laut zu werden.

Das passte auch diesmal prima. Wir waren die ersten Gäste in den kleinen, aber echt nett gestalteten Räumlichkeiten. Der kommunikative und hyperaktive Kellner glaubte offenbar, dass es in Deutschland keine vietnamesische Küche gäbe und vermittelte uns so wortreich wie in einem schlechtem französisch die Vorzüge seiner Landesküche. Er erklärte uns detailreich die Speisekarte und empfahl uns die passenden Getränke. Vor allem passte seiner Ansicht nach zu allen Gerichten Bier. Vietnamesisches Bier. Oder chinesisches Bier. Kambodschanisches Bier sei aber auch nicht zu verachten. Zwar hätte er auch Wein da, aber der sei halt nicht landestypisch. Da ich aber keinen Alkohol trinke, musste ich mit einer süßen Kokoswasser-Plörre mit Fruchtstückchen drin vorlieb nehmen. Aus der Dose. Immerhin eisgekühlt.

Ich bestellte was mit Ente und Orange. Meine Liebste hatte Lust auf eine Schüssel Bun Bo, das ist ein herrlich würziger Reisnudelsalat, allerdings statt mit Rindfleisch mit vielen Garnelen. Und wahrscheinlich hieß das Gericht gar nicht Bun Bo, weil Bun, wenn ich es korrekt im Gedächtnis habe, Rindfleisch heißt. Ist ja auch egal, denn meine Liebste riss nach dem ersten Bissen die Augen auf und verkündete begeistert, wie unglaublich lecker ihr Essen doch sei. Meine Ente auf Orange kam auf einem Eisenpfännchen brutzelnd frisch aus dem Ofen. Es war das köstlichste vietnamesische Gericht, das ich je in meinem Leben gegessen habe.

Während wir aßen, lief der Laden voll. Alle Tische waren nun belegt, immer wieder kamen Leute rein um telefonisch bestelltes Essen abzuholen. Der Kellner, er war wahrscheinlich auch der Besitzer, konnte endlich seine Hyperaktivität produktiv ausleben und schmiss, um die eigene Achse wirbelnd, alleine den Service. Wenn wir uns auf das Essen konzentrieren, kommen wir mit Lautstärke und Gewusel ganz gut zurecht, weil unser Fokus uns Sicherheit gibt, bzw. uns ein Stück vor anderen Reizen abschirmt. So hatte ich nur am Rande mitbekommen, dass sich ein älteres Paar an den Tisch neben uns gesetzt hatte. Als meine Liebste mir wiederholt versicherte, wie lecker das doch sei, sprach sie der Mann an, ob wir Deutsche seien, er habe das Wort „Lecker“ verstanden. Er sprach sehr gut Deutsch und so hatten wir noch ein nettes, angenehmes Gespräch mit Leuten, die in Belleville lebten.

Damit endete der Tag 3. Das Fazit des Tages: Alles richtig gemacht! Was ein wunderschöner Tag! Trotzdem waren wir sehr müde. Paris ist so oder so anstrengend.

Tag 4.

Rückblickend möchte ich unseren vierten Tag in Paris „den Tag der Katastrophen“ nennen. Doch beginnen wir mit dem Anfang. Der war sehr schön und startete, ihr vermutet es richtig, mit dem Duft frischer Croissants und heißem Brot frisch aus der Bäckerei in der Nähe. Wir dösten noch etwas, duschten, quetschten uns zu zweit in den Miniaturaufzug, frühstückten, pflegten gemeinsam unsere Gewaltphantasien gegenüber der Glotze.

Heute sollte es in den Jardin des Plantes gehen. Das ist ein historischer, in seinem Kern formal angelegter großer Park auf der südlichen Seine-Seite. Ursprünglich war er der königliche Heilpflanzengarten, später ein botanischer Garten. Er wird eingerahmt durch einen Zoo, durch „die große Halle der Evolution“, ein naturhistorisches Museum, durch Gebäude mit einer mineralologischen und einer botanischen Sammlung sowie durch ein weiteres Gebäude mit einer paläontologischen Sammlung, also mit beeindruckenden Saurier-Skeletten und anderen Versteinerungen. Es gibt mehrere Gewächshäuser, das größte beherbergt Tropenpflanzen. Und in diesem Gewächshaus fand eine große Orchideenausstellung statt. Da wollten wir rein. Nicht wegen der Orchideen, sondern weil uns das viele Grün und die Wärme rief. Und danach, so stellten wir es uns vor, könnten wir entweder die große Halle der Evolution besuchen oder uns die Saurier-Skelette in der paläontologischen Sammlung anschauen.

Die Fahrt mit der Metro war eine einzige Katastrophe, und ich habe sogar vergessen, wie wir gefahren sind und wo wir überall umgestiegen sind. Es war so voll, dass wir mehrere Züge durchrauschen lassen mussten, weil wir uns nicht in die Züge quetschen wollten. Was wir letztlich dann doch tun mussten, weil die Züge immer voller wurden. Ich sah, wie meine Liebste panisch guckte und ganz bleich und gleichzeitig fleckig im Gesicht wurde. Sie bekam eine Panikattacke, also mussten wir an der nächsten Station raus. Ich weiß noch, wie wir verzweifelt herausfinden wollten, wie wir mit dem Bus zum Ziel kommen können, aber dann doch wieder die Metro nehmen mussten. Ich habe nur noch Erinnerungsfetzen an einzelne Situationen, zum Beispiel wie ich versuchte, meine Ohrstöpsel durch meine guten ANC-Ohrhörer auszutauschen, in der Hoffnung, dass sie den Lärm besser filtern. Was nicht wirklich was brachte. Oder dass meine Liebste verzweifelt rief, dass sie den Lärm und das Gewusel nicht weiter ertrage. Ich kann mich daran erinnern, dass alles am Rand meines Sichtfeldes flackerte, dass mein Kreislauf instabil wurde. Mehr können meine Liebste und ich nicht rekonstruieren. Uns fehlt, wie gesagt, schlicht die Erinnerung.

Unsere Erinnerungen setzen erst wieder ein, als wir am Gare de Lyon zittrig und völlig durch an die Oberfläche kamen. Wir wollten ein ruhiges Plätzchen finden und uns kurz ausruhen, auch um nachzuschauen, wie wir nun zum Park kommen, der eigentlich nicht mehr weit entfernt auf der anderen Seine-Seite liegt. Es gab kein ruhiges Plätzchen. Aber wir entdeckten prächtige Wandgemälde im Bahnhof, die die Städte und Landschaften auf der Zugstrecke nach Süden zeigten. Und Meine Liebste entdeckte das berühmte Bahnhofsrestaurant „Le Train Bleu“. Tut euch den Gefallen, befragt eine Suchmaschine danach und staunt über die Bilder!

Wir beschlossen, zu Fuß zum Park zu gehen. Über die Brücke, dann ein paar hundert Meter am Fluss entlang, dann wären wir schon da. Diese Ecke am Gare de Lyon ist laut und hässlich, geprägt vom tosenden Autoverkehr und einer grausamen Klötzchenarchitektur der 70er Jahre. Es wurde saniert, Presslufthämmer zerfetzten uns zusammen mit dem Gehupe der Autos und den Sirenen von Rettungsfahrzeugen die letzten Reste unseres Nervenkostüms. Auf der Brücke geriet meine Liebste erneut in einen Meltdown. Es gab keinen Rückzugsort, wir waren gefangen in einer Blase aus höllischem Lärm und Gewusel. Ich weiß nicht, wie wir es auf die andere Seine-Seite geschafft haben. Ich weiß nur noch, dass ich Notfallpläne schmiedete. So was wie mit dem Taxi zum Hotel fahren. Letztlich haben wir es dann doch bis in den Park geschafft. Die Einzelheiten erspare ich euch.

Im Park, der in den kalten Monaten vor allem den Jogger*innen gehört und als ein erweiterter Schulhof zum Toben für die Kinder der Innenstadt-Schulen dient, hatte ein Kiosk geöffnet. Obwohl ich kaum noch reden konnte, bestellte ich uns zwei Kaffee. Hier saßen wir nun schweigend und aßen unsere Notfall-CBD-Fruchtgummis, tranken unseren Kaffee. Langsam, sehr langsam kamen wir wieder zurück ins Leben, konnten wieder vorsichtig miteinander kommunizieren. Uns wurde kalt. Zeit, ins Gewächshaus zu gehen.

So warm wie erhofft, war es im tropischen Gewächshaus gar nicht. Aber das Grün der Pflanzen wirkte zusammen mit der stresslösenden Wirkung des CBDs wie eine dicke Schicht Nutella auf unsere geschundenen Sinne. Die Besucher*innen der Orchideenausstellung waren fast alles Orchideen-Geeks, die sich langsam und ehrfurchtsvoll flüsternd zwischen den Pflanzen bewegten. Sie störten uns nicht. Meine Liebste entdeckte eine Bank, dort saßen wir, nachdem wir alles gesehen und fotografiert hatten, noch lange und beobachteten die Leute.

Es meldete sich der Hunger. Da wir die Ecke schon von unserem vorletzten Paris-Urlaub kannten, wusste ich, dass die große Moschee ganz in der Nähe war. Diese Moschee wurde 1926 eingeweiht und war ein Dankeschön des französischen Staates an die Muslime, die als nicht immer ganz freiwillige koloniale Hilfstruppen im ersten Weltkrieg kämpften und starben. Es ist nicht nur eine Moschee im tunesischen Stil, sondern ein großer Komplex mit einer Schule, einem Hammam, einer Bibliothek, Konferenzräumen, einem Tee-Salon, und einem Restaurant. Den Tee-Salon kannten wir schon, und wir wussten, wie wunderschön das Restaurant gestaltet ist. Man fühlt sich in einen orientalischen Palast aus vergangener Zeit versetzt.

Leider war das wunderschöne Restaurant sehr gut besucht und sehr laut. Wir konnten dort trotz Gehörschutz nicht sitzen bleiben, wir hatten einfach keine Abwehrkräfte mehr. Also raus. Sehr bedauerlich.

Ein paar hundert Meter von der Moschee entfernt sahen wir mehrere Restaurants. Darunter ein ägyptisches Restaurant, das einen sehr angenehmen Eindruck machte und recht leer war. Das Essen war nicht nur günstig, sondern auch köstlich. Wir beglückwünschten uns gegenseitig zur richtigen Entscheidung, zahlten, und entschlossen uns noch zum Besuch der „großen Galerie der Evolution“.

Was für ein Gebäude! Stellt euch ein großes Gebäude für ein naturhistorisches Museum aus dem 19. Jahrhundert vor. Eines, das nicht in Etagen unterteilt war. Zwei breite, umlaufende Galerien gliederten den Innenraum um einen unverbauten „Hof“. Denkt euch dunkle Wandvertäfelungen, gusseiserne, verschnörkelte Geländer, gläserne Vitrinen in einem Rahmen aus dunklem Tropenholz, gläserne Wandschränke mit Ausstellungstücken. Hohe Türen führen zu staubigen Bibliotheken. Museumswächter achten penibel darauf, dass man den Ausstellungsstücken nicht zu nahe kommt und zischeln ein „Psssst!!!“, wenn Menschen sich zu laut über etwas unterhalten.

So ein Museum war es mal. Vor dem Umbau. Vor der großen Entstaubung. Man hat den einstigen Keller zu einer weiteren Etage geöffnet. Die gigantischen Skelette zweier Wale schwimmen heute zwischen dem ehemaligen Keller und dem Erdgeschoss. Doch es gibt es sie noch, die Galerien, die dunklen Wandvertäfelungen, die alten Vitrinen. Aber sie treten zurück hinter einem gigantischen Farbkonzept. Das ganze Museum, einschließlich der gläsernen Decke ist ein faszinierendes Kunstwerk aus langsam wechselnden Farben. Hinter den hohen Türen befinden sich keine staubigen Bibliotheken mehr, hier findet man heute die virtuellen Realitäten. Es gibt nach wie vor tausende ausgestopfte Tiere, Präparate in den Vitrinen und in den gläsernen Wandschränken. So ganz habe ich das Ausstellungskonzept nicht verstanden, alle Erklärungen sind ausschließlich in französisch. Außerdem hatten wir ganz ehrlich auch kein gesteigertes Interesse daran, irgendwas zu verstehen oder zu lernen, wir waren einfach nur von dem Gebäude geflasht und genossen alles daran!

Nachmittag. Wir mussten langsam zurück. Meine Liebste hatte eine Online-Schulung für ihre Domführer*innenprüfung. Es galt eine Anwesenheitspflicht, sie musste also teilnehmen. Ich hatte eine Idee: Wir fahren mit dem Bus zur Metrostation Chatelet, dort fährt die leere U-Bahn ein, die uns nach Belleville bringt. Da die Metro leer einfährt, so meine Überlegung, bekommen wir einen Sitzplatz, können die Augen zu machen und Musik hören, bis wir bei unserem Hotel aussteigen können. Haha. Ha. Ha...

Die Rückfahrt geriet wie die Hinfahrt zu einem einzigen Super-Gau. Wir wurden geschubst, fast niedergetrampelt, bekamen keine Sitzplätze, mussten aus Zügen und U-Bahn-Stationen fliehen. Meine Liebste konnte nicht mehr, fing an zu zittern und zu weinen. Ich lotste sie nach draußen, versuchte sie abzuschirmen und zu beruhigen. Wir können beide nicht mehr nachvollziehen, wie und auf welchen Umwegen wir ins Hotel kamen, irgendwann waren wir da.

Macht niemals den Fehler und fahrt in Paris zum Feierabendverkehr auf bestimmten Linien mit der Metro – vor allem, wenn ihr neurodivergent seid oder ein Problem mit Enge, Lautstärke oder Stress habt.

Ich schickte meine Liebste aufs Zimmer. Ich wollte noch was zu Essen im Supermarkt organisieren. Ich war natürlich bereits komplett durch. Ich konnte mich nicht mehr entscheiden. Ich bewegte mich in Zeitlupe. Aber ich bekam es hin. Zurück im Hotelzimmer konnte ich nicht mehr reden, mich nicht mehr bewegen. Ich stand da und starrte. Ich hörte meine Liebste mit mir reden, aber ich konnte sie nicht mehr verstehen. Ein Shutdown.

Ein Shutdown ist eine Notabschaltung, ein Schutzmechanismus. Um da wieder herauszukommen hilft normalerweise nur absolute Stille und Dunkelheit. Keine Reize, eine sichere, bekannte Umgebung. Aber das war mir nicht gegönnt, denn meine Liebste hatte ihre Online-Schulung. Ich ertrug die Helligkeit ihres Laptop-Bildschirms nicht, jedes Wort aus dem Lautsprecher war ein Schlag in die Fresse. Ich überwand meine Starre und flüchtete schwankend aus dem Zimmer, aus dem Hotel, hinein ins nun dunkle, abendliche Belleville. Der stetige Rhythmus meines Gangs und meines Atems beruhigte mich, ich dachte nicht, ich ging nur. Ich achtete nicht darauf, wohin ich ging, nahm nichts wirklich wahr, außer meinen Schritt- und Atemrhythmus. Dieser Zustand ist gefährlich. Ich hätte nicht gemerkt, wenn ich in eine Gefahrensituation geraten wäre. Ich hätte vor ein Auto laufen können, ohne das Auto zu bemerken. Ich hätte mich in üble Ecken (von denen ich nicht annehme, ob es sie dort gibt) verirren können. Ich war anfangs nicht einmal fähig, auf meine Karten-App zu schauen, um zu sehen, wo ich bin. Ich konnte nur gehen, nur Rhythmus sein.

Das Gehen half, und langsam, sehr langsam kehrten meine Alltagsfähigkeiten zumindest rudimentär zurück. Zurück im Hotel aß ich von meinem wild zusammengekauften Essen, fiel ins Bett, wünschte mir die Gnade des schnellen Einschlafens herbei. Der Schlaf war ausnahmsweise lieb zu mir. Er trödelte nicht.

Fazit des Tages: Ich bin ratlos, was ich als Fazit schreiben könnte. Obwohl der Tag einfach nur brutal war, gab es tolle und schöne Momente. Ich bin immer wieder erstaunt, was wir einfach so wegstecken können – und müssen. Wenn es ein Fazit gibt, dann ist es die Erkenntnis, dass meine Liebste und ich Helden sind. Stehaufmännchen, bzw. -frauchen.

Tag 5. Heimfahrt

Ein letztes mal Croissantduft am frühen Morgen. Ein letztes Frühstück, ein letztes mal von dem Fernseher genervt werden.

Ich fühlte mich einfach nur ausgelaugt, bis aufs Letzte ausgelutscht und innerlich vertrocknet. Ich freute mich auf Zuhause. Ausgerechnet heute kam endlich die Sonne raus. Das hatte die Wetter-App uns für jeden Tag versprochen, woran die Sonne sich aber nicht gehalten hatte. Nein, wir würden nicht mit der U-Bahn fahren, zumindest nicht mit der 11. Mit unseren Rollköfferchen spazierten wir zum Parc des Buttes-Chaumont, setzten uns ein wenig in die Sonne und beobachteten Teenager beim Schulsport. Wir wanderten weiter, zum Kanal Saint-Martin, tranken dort einen Kaffee auf dem Bürgersteig an einer Straße, auf der bei unserem letzten Aufenthalt noch Autos fuhren, die heute aber ein Fahrradweg ist. Ganz in der Nähe des Gare de l`Est warteten wir in einem Park und tankten Sonne. Ja, unsere inneren Akkus waren sehr leer. Geschätzt auf 10 Prozent runter, unsere Energiesparfunktion hatten wir aktiviert. Diese 10 Prozent reichten wahrscheinlich nur noch, um uns zum Bahnhof durchzuschlagen und uns in den TGV zu setzen.

Es kam anders. Denn ich wollte unbedingt noch ein Zitronentörtchen essen. Das hatte ich mir vorgenommen, das war meine private Tradition für Paris. Bisher kam ich nicht dazu. Ganz in der Nähe wusste ich eine gute Bäckerei und es war noch genug Zeit…

Angesichts der 10 Prozent Akku war das die idiotischste Idee des ganzen Urlaubs. Es endete damit, dass ich kein Zitronentörtchen bekam, weil eine lange Schlange vor der Bäckerei wartete. Es endete in einem fiesen Krach mit meiner Liebsten, einem gemeinsamen Meltdown, es endete damit, dass wir nun zum Zug hetzen mussten und nichts zu Essen dabei hatten. Der Zug war pünktlich, sowohl bei der Abfahrt als auch bei der Ankunft in Luxemburg. Der Zug von Luxemburg nach Hause fuhr pünktlich ab, aber sobald wir die Grenze passiert hatten, fuhren wir Schritttempo. Deutschland begrüßte uns mit dem, was es am besten kann: Mit einer dicken Verspätung.

Und nun zu der Frage, ob wir Paris im Februar empfehlen können.

Für nicht neurodivergente Menschen würde ich sagen – ja. Macht ruhig. Seid euch klar, dass die Stadt nicht so locker-flockig entspannt ist wie in den warmen Jahreszeiten, aber für einen Besuch der Museen ist der Februar prima.

Neurodivergenten Menschen rate ich: Flieht, ihr Narren! Lasst es! Die kahlen Parks und Gärten bieten keine Möglichkeiten zur Entspannung. Macht euch klar, dass Sonne und Wärme einen deutlichen Einfluss auf eure und auf die Stimmung der Stadtbewohnerinnen haben. Im Februar ist es noch meist zu kühl, um draußen zu sitzen, und in den Cafés drin ist es oft laut. Die Stimmung in der Stadt ist geprägt von Hektik und nein, an den touristischen Hotspots gehts auch nicht wirklich ruhiger zu. Lasst diese Hotspots besser links liegen. Es lohnt nicht wirklich. Meidet unbedingt bestimmte U-Bahn-Linien! Vor allem die 11. Geht lieber viel zu Fuß. Der Besuch von Museen ist im Februar grundsätzlich okay. Aber vielleicht informiert ihr euch vorher, wann besonders wenig los ist. So werden wir es im Mai bei unserem London-Urlaub machen. Wir fragen vorher an, wann ein Besuch für Autistinnen möglich ist und uns danach richten. Und selbstverständlich denkt an Gehörschutz, an eure Sonnenbrille und an eure Fummelspielzeuge.

Wer bis hier hin durchgehalten hat – Respekt! Ich danke euch fürs Lesen! Bis bald!

Ein Bericht – Tag 1 und Tag 2

Eine Reise zweier neurodivergenter Menschen mit sehr kaputten Reizfiltern nach Paris. Im Februar. Kann das gut gehen? Macht das Spaß? Oder floss Blut? Steht Paris noch?

Bevor ich diese Fragen beantworte, erst einmal die Vorgeschichte:

Vor etwa zwei Monaten sagte meine Liebste: „Schau mal, wir müssen nur noch eine Hotelübernachtung bis Februar auf der Plattform „hotelbuchungen.com“ (die Plattform heißt in Wirklichkeit anders) buchen, dann bekommen wir den Supergast-Status Level 3! Wie wäre es, wenn wir für ein paar Tage nach Köln fahren? Museen und so, das wird sicher toll!“

Nun, Köln im Spätwinter entpuppte sich beim nähren Nachdenken als eher unsexy. Aber hey, wir waren schon lange nicht mehr in Paris gewesen! Außerdem ist Paris viel größer, schöner und hat viel tollere Museen! Und es ist schneller und sicherer zu erreichen als Köln, weil wir mit dem TVG fahren. Der ist immer pünktlich. Im Gegensatz zur Deutschen Katastrophenbahn, wo wir wegen Feuchtigkeit auf den Gleisen (nicht wirklich, aber ähnlich albern) schon mal fast sechs Stunden von Köln nach Trier unterwegs waren.

Wie wir in diversen Reiseblogs lasen, wurde eine Reise nach Paris im Februar als super toll angepriesen, denn das sei der Monat mit den wenigsten Touristen, was kaum Warteschlangen vor den touristischen Hotspots bedeute und eine viel entspanntere Atmosphäre garantiere. (Haha. Aber dazu später...)

Meine Liebste ist bei uns die Reiseplanungsbeauftragte, das ist eines ihrer Spezialinteressen und wohl mit ihre überragendste Superkraft. Ich hingegen fuchse mich in die Stadtstruktur ein, finde so verborgene Juwelen, erarbeite die geschichtlichen Hintergründe und bin ansonsten ein angenehmer Reisegenosse. Meine Liebste fand heraus, dass das von uns ausgesuchte Hotel auf dieser Buchungsplattform sehr viel teurer als bei der Direktbuchung, womit sich unser Supergast-Status Level 3 erledigt hatte. Egal, wir waren angefixt und wollten raus, was erleben.

Reisevorbereitungen sind bei uns eine komplizierte Sache. Es gibt zweierlei Reisevorbereitungen: Zum einen die Organisation, also die Reservierungen, das Herausfinden von Öffnungszeiten und die Buchungen von Zeitfenstern zum Besuch von Museen, Denkmälern usw.

Und es gibt die innere Reisevorbereitung. Das beinhaltet das Schwanken zwischen „Das wird alles ganz toll, oh was freue ich mich!“ und „OMG, wir sind doch völlig bescheuert! Wie kamen wir bloß darauf, wegfahren zu wollen! Und das auch noch im Februar! Was ist, wenn das Wetter scheiße ist? Oder wenn irgendwas schief läuft?“. Außerdem ertrage ich es nicht, wenn ich von einer Reise nach Hause komme und das Haus ist unordentlich. Also steht vor dem Abfahrtstermin eine gigantische Putzorgie auf dem Plan. Ja, ich weiß, es klingt vermutlich sehr bescheuert, aber ich brauche die Gewissheit, dass alles in Ordnung ist, wenn ich zurück komme. Je näher der Termin rückt, desto intensiver wird die Anspannung und das Wechselbad der Gefühle – bis... bis wir endlich unterwegs sind und keine Überraschungen mehr befürchten müssen.

Wir haben uns im TGV die erste Klasse gegönnt. Der Aufpreis dafür ist im Vergleich zur Deutschen Katastrophenbahn lächerlich gering, der zusätzliche Komfort aber unbezahlbar. Es ist recht ruhig, man hat Platz und man kann sich zwischen den ganzen Geschäftsfuzzis hinter ihren Laptops wichtig fühlen. Mit 315 km/h durch die Champagne zu donnern ist schon ein tolles Erlebnis!

Als Unterkunft in Paris haben wir uns für ein einfaches Hotel im Zentrum des Stadtteils Belleville entschieden. In Belleville hatten wir in einem früheren Urlaub schon mal gewohnt und wir haben uns in diesen Ort verliebt. Die Gentrifizierung ist noch nicht weit fortgeschritten, hier wohnen also noch „echte“, alteingesessene Menschen, es gibt zwei große Parks, viele kleine tolle Geschäfte, Streetart, Kneipen, Restaurants, Cafés und vor allem: Es gibt hier kaum etwas, was Standard-Touris interessiert. Nur ein paar Meter von unserem Hotel befinden sich eine Bushaltestelle und eine Metrostation. Prima!

Das Hotel war dann wirklich ganz okay, es war wie gesagt einfach, aber sauber, die Matratzen waren perfekt und das Bad war frisch renoviert. Die Heizung funktionierte und ein simples Frühstück mit so viel Kaffee wie man wollte gab es auch. Unser Zimmer ging raus auf die Kirche, ein etwas heruntergekommenes, schmutzig-graues, neogotisches Ding mit zwei Kirchtürmen und einer schepprig klingenden Glocke, die gottseidank die meiste Zeit nicht bimmelte.

Nach dem Einchecken sind wir dann als aller erstes zur frisch sanierten Kathedrale Notre Dame gefahren. Meine Liebste ist Kunsthistorikerin, sie sabberte bereits vor freudiger Erwartung. Bei unseren bisherigen Paris-Aufenthalten hatte wir die Kathedrale nicht besucht, aber nach dem Brand und der Sanierung gab es diesmal keinen Weg daran vorbei.

Also ab in die U-Bahn-Linie 11. War die beim letzten mal auch so höllisch voll? Selbst zu Zeiten außerhalb des Berufsverkehrs? Wie stressig. Ich liebe das Fahren in einer U-Bahn, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es sooo laut war, die Menschen soooo hektisch und die Wägen soooo gerammelt voll waren!

Gestresst kamen wir auf der Ile de la Cité an und hier erlebten wir die ach so ruhige und entspannte Atmosphäre von Paris mit wenigen Touristen im Februar. Polizei. Überall Polizei. Teils schwer bewaffnet, teils die öffentliche Ordnung alleinig durch einen besonders grimmigen Gesichtsausdruck sichernd. Polizist*innen patroullierten in Gruppen, fuhren auf Motorrädern umher, saßen in Mannschaftsbussen oder blockierten die Straßen. Großes Tatütata (auf französisch klingt das Tatütata wie Düddledü-Düddledü). Später wurde klar, warum da so ein Geschiss gemacht wurde. Ein Staatsbesuch.

Die „wenigen“ Februar-Touristen entdeckten wir dann auf dem Kathedralenvorplatz. Eine zig hundert Meter lange Schlange mit zig hunderten, wenn nicht sogar tausenden Menschen wand sich quer über den Platz und wuchs dabei in rasanter Geschwindigkeit. Alle warteten auf ihren Einlass in Notre Dame. Daneben gab es eine deutlich kleinere Schlange. Die war für die Leute, die ein Zeitfenster im Internet ergattern konnten. Also für so Leute wie wir, denn meine Liebste hat in einem heroischen Akt tatsächlich ein üblicherweise ausverkauftes Zeitfenster geschossen. Yippie! Trotzdem mussten wir erst einmal an der Sicherheitskontrolle vorbei. Taschenkontrolle, Schnellabfertigung, in die Kathedrale hineingetrieben, eng an eng mit Menschen aus allen Herren Ländern, als Teil einer amorphen, sich durch die Kirche schiebenden Walze bestehend aus tausenden von Leibern. Habe ich das Wort Stress eigentlich schon geschrieben? Ja? Zurecht. Trotz Ohrenstöpsel, die uns vor dem schlimmsten Lärm abschirmten.

Ich ertrage keine Enge, mit zufälligen Berührungen durch fremde Leute habe ich ein großes Problem. Vor allem, wenn ich eh schon gestresst und überreizt bin. Nach wenigen Minuten, in denen ich einen Blick auf das nun wundervoll in fast weißem Kalkstein erstrahlendem Gebäude werfen konnte, wollte ich nur noch schreien und um mich schlagen. Mein Sichtfeld verengte sich, jeder Muskel in meinem Körper war angespannt und mir wurde schwindelig vor Wut. Ich musste da raus – sofort! Ein beginnender Meltdown. Höllehöllehölle!

Draußen atmete ich erstmal durch, versuchte herunter zu kommen und wartete auf meine Liebste, die dann auch bald eben so gestresst (ja, schon wieder dieses Wort!) aber auch sehr glücklich aus der Kirche kam. Wir beratschlagten kurz, wie es nun weiter ginge und wir beschlossen, so schnell wie möglich dem stressigen Gewusel und der immer noch herumlärmenden Polizei zu entfliehen... (Das wars jetzt erstmal mit dem Wort „gestresst“, versprochen!)

Hunger. Wir entdeckten unseren Hunger. Er war sehr groß. Außerdem begann es zu dämmern und zu schiffen. Wir kamen an einem ruhigen, winzigen asiatischen Restaurant vorbei, in dem ein kleines Buffet aufgebaut war, von dem man so viel essen konnte, wie man wollte. Die Speisen waren nicht warm, dafür standen mehrere Mikrowellengeräte bereit. Sowas habe ich noch nie gesehen, aber ich fand es lustig und das Essen war sogar sehr lecker und günstig.

Etwas im Bauch zu haben und die Ruhe halfen mir, ich fühlte mich bereit noch etwas zu erleben. Wie zufällig stand da das Centre Pompidou in der Nähe herum, dieses auf links gedrehte Museumsgebäude für moderne und zeitgenössische Kunst. Darin war ich erst ein mal in meinem Leben, als Kind, vermutlich etwa 1980. Damals hat mich nicht nur das Gebäude beeindruckt, sondern auch die dadaistischen Kunstwerke, die ich als kopfchaotisches Kind mit eingebauter assoziativer Denkweise offenbar intuitiv verstand und sofort liebte.

Und hier hatten wir den ersten Paris-Moment für diesen Urlaub. Eine Mischung aus Begeisterung, aus Staunen und einem dauerhaften Grinsen im Gesicht. Es begann bereits auf der außerhalb der Fassade entlangführenden Rolltreppe. Je höher wir kamen, desto fantastischer der Blick über die Stadt. In der Ferne, nebelverhangen, strahlte der illumierte Eiffelturm sein Leuchtturmleuchten in die tiefhängenden Wolken, und ganz rechts ragte der Hügel Montmatre mit seiner kitschigen Zuckerbäckerkirche aus der Dunkelheit hervor. Zusammen mit den retrofuturistisch rot beleuchteten Rolltreppenröhren des Kunstmuseums löste dieser Ausblick bei uns eine fast schon surrealistische Stimmung aus. Apropos Surrealismus. Leider haben wir die große Surrealismus-Sonderausstellung um wenige Tage verpasst. Schade. Aber wir hatten trotzdem großen Spaß, sowohl mit den hochkarätigen Kunstwerken (die wir genossen, aber einfach nicht ernst genommen haben) als auch mit dem Beobachten der kulturbegeisterten Besucher*innen (die die Kunstwerke mit sehr gewichtigem Gesichtsausdruck und unangemessenen Ernst betrachteten). Übrigens waren viele Besuchende ihr eigenes (dadaistisches) Kunstwerk. Ich schätze, das waren Angehörige der örtlichen Modeindustrie oder solche, die sich ihr streng verpflichtet fühlen…

Sehr glücklich, aber physisch und psychisch völlig am Ende und bereits wieder mit einem Tunnelblick gings per Metro zurück zum Hotel nach Belleville. Sowohl in der Metro als auch in Belleville pulsierte trotz vorgerückter Stunde noch das Leben. Gehörschutz – so wichtig! Gegen zu viele optische Reize hilft nur Augen zu. Was aber nicht immer machbar oder sinnvoll ist, wenn man sich in einer Großstadt bewegt… Die mitgebrachten CBD-Fruchtgummis sorgten dafür, dass wir innerlich herunterfahren und schlafen konnten.

Fazit Tag 1: Bereits das frühe Aufstehen, die Aufregung, die Anreise kosteten uns einige Löffel. Der Besuch von Notre Dame und mein beginnender Meltdown saugte mir meinen Akku komplett leer. Die Energie für den tollen Museumsbesuch haben meine Liebste und ich uns vom folgenden Tag geliehen. Das geht. Und vor allem geht es grandios in die Hose, wenn man am nächsten Tag was vor hat und nicht ausreichend regenerieren kann oder will.

Tag 2.

Der Tag begann viel zu früh mit dem betörenden Duft von frisch gebackenem Brot und heißen Crossaints. Ganz in der Nähe gibt es eine Bäckerei, die das gesamte Viertel allmorgendlich beduftet. Natürlich konnte ich nicht mehr schlafen (mein Schlaf ist natürlich dann gestört, wenn ich ihn am meisten brauche) und beobachtete und lauschte statt dessen, wie das Viertel langsam erwachte. Das kleine Café hatte bereits vor 6:00 Uhr in der Früh geöffnet und in der Dunkelheit saßen die ersten Gäste an den Tischen an der Straße und tranken ihren Kaffee und rauchten dazu sehr klischeehaft eine Zigarette, bevor sie von dem Loch im Gehweg mit dem Schild „Metro“, verschluckt wurden. Ja, in Frankreich wird immer noch viel geraucht. Lastenradfahrer*innen fuhren Waren aus oder ihre Kinder in die jeweiligen Lehr- oder Verwahranstalten, die Stadtreinigung tat ihr Bestes, und das sogar mehrmals.

So ganz fit war ich nicht, das merkte ich ziemlich schnell. Denn auch die drei Tassen Kaffee beim einfachen Frühstück im eher schlicht und sachlich gehaltenen Frühstücksraum vertrieb nicht die Müdigkeit und auch nicht die Schwere in den Gliedern. Ja, kein Wunder, denn gestern war alles zu viel und der Schlaf war zu wenig.

Auf dem Plan für den Tag stand die Sainte-Chapelle, ein hochgotisches Wunderwerk das vor allem aus bunten Fenstern besteht. Früher war sie die Kapelle der königlichen Residenz auf der Ile de la Cité Aus der königlichen Residenz wurde später nach vielen Umbauten der Justizpalast, ein heute schwer gesicherter, aber auch ein traurig abgeranzt-vergammelter Ort. Doch wir hatten noch Zeit, meine Liebste ergatterte eine Eintrittskarte für um 12:00 Uhr.

Wir beschlossen, durch Belleville zu schweifen, bewunderten die Käseläden, sabberten vor den Fischläden, bestaunten die wirklich schönen Wandmalereien (aka Streetart) und fanden eine Kreuzung, an der man von der Rue de Belleville den Hügel herab über die Stadt bis zum Eifelturm schauen kann, der hinter dem Dunst und dem Morgennebel der Stadt wie eine unwirkliche, fremdartige Landmarke über der Dachlandschaft hervorragte.

Durch kleine Wohnstraßen schlendernd strebten wir zum Parc de Belleville. Bevor die Stadt Paris zu ihrer heutigen Größe explodierte, wurde an den Hängen des Hügels, der heute teilweise bebaut, teilweise der Park ist, Wein und Obst angebaut. Später lebte hier die aufsässige Arbeiterklasse, vom Bürgertum und der reaktionären Regierung argwöhnisch beobachtet, und hier wie im Parc des Buttes Chaumont fand die unvergessene Pariser Kommune, der erste Versuch einer sozialistischen Gemeinschaft, in einem gnadenlosen Gemetzel ihr trauriges Ende. Daran erinnert heute nichts mehr.

Der Park ist hübsch angelegt, wir hatten von der obersten Terrasse eine phantastische Aussicht über die Stadt – und auf eine Gruppe von etwa zehn älteren Damen aus Asien, die zu asiatischen Popsongs eine nur für sie einen Sinn ergebende Choreographie tanzten und uns ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Nicht nur die tanzenden Damen bevölkerten den kahlen, winterschlafenden Park, sondern auch ein paar Grüppchen Jugendliche. Ich vermute, sie repräsentieren die inoffiziellen französischen Freiluft-Coffeeshops, wo man dubiose Kräuter erwerben und gleichzeitig konsumieren kann…

Bis hier hin liest es sich, als hätten wir einen sehr erholsamen und entspannten Vormittag gehabt, nicht wahr? Stimmt. Aber das ändert sich genau jetzt. Achtung, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werde ich wieder sehr oft das Wort „Stress“ in all seinen Formen und Ableitungen benutzen.

Nachdem wir den Park von oben nach unten durchschlendert hatten, trafen wir auf den Boulevard de Belleville, und dort fand gerade der wöchentliche Straßenmarkt statt. Ich liebe Märkte! Laute, bunte, wuselige Märkte, mit Menschen aus allen möglichen Kulturen, die ihre Waren anpreisen, feilschen, oder kaufen. Märkte, auf denen ich Obst, Gemüse oder auch tote Tiere sehe, deren Existenz mir bisher unbekannt war und über deren Eignung als Nahrung ich sehr skeptisch bin. Hier schieben sich alte Männer mit rot gefärbtem Bart aus Bangladesch durch die Menge, neben den in traditionelle Gewänder gehüllten Menschen aus Zentralafrika. Elegant für den Markt herausgeputzte ältere Pariserinnen beratschlagen sich mit jungen Frauen mit Kopftuch über die Qualität der Fische, während am Stand nebendran ein Verkäufer mit lautem Sprech-Singsang für seine Waren wirbt. Herrlich!

Bevor ihr euch nun fragt, wie ich als Mensch ohne nennenswerten Reizfilter eine solche Atombombe an Reizen „herrlich“ finden kann: nun, ich weiß was auf mich zukommt, daher weiß ich, wie ich in diesem Tsunami an Reizen schwimmen muss und ich weiß (meistens), wann ich da raus muss. Ich will es und ich entscheide mich dafür. Das genau macht den Unterschied zu Situationen, die ich nicht will und auch nicht beeinflussen kann. Aber mir ist bewusst, dass mich so ein Markt am Ende enorme Energie kostet. Ein hoffentlich treffendes Gleichnis: Ein Mensch kann unter Wasser nicht lange überleben. Aber man kann mit angehaltener Luft tauchen und die Fische im Wasser beobachten. Wenn die Luft verbraucht ist und die Lunge schmerzt, ist man gezwungen zum Atmen aufzutauchen...

Also habe ich meine Liebste angeschaut, sie nickte. Gehörschutz in die Ohren und los, sich treiben lassen, gucken, riechen und staunen. Mittendrin drehte ich mich nach ihr um. Oh je, sie sah bereits enorm angestrengt und gestresst aus und bald darauf machte sie Zeichen, dass es ihr zu viel wird. Gut, dass wir eh schon fast am Ende des Marktes angekommen waren. Als wir uns etwas abseits ohne Gehörschutz unterhalten konnten, spürte auch ich, dass das auch mir schon fast zu viel war. Ich habe mich überschätzt, vergessen, dass ich mit zu wenig Schlaf und einem Energiedefizit in den Tag gestartet bin. Mist.

Nirgends gab es eine wirklich ruhige Ecke, der Verkehr auf dem Boulevard toste, Presslufthämmer, hupende Autos, Motorräder, überall Menschen. Außerdem meinte meine Liebste, dass wir nun langsam los zur Sainte-Chapelle müssten. Also eine Bushaltestelle finden. Wieder Stress. Wo sind wir überhaupt, und warum funktioniert das scheiß GPS nicht ordentlich? Ah. Hier sind wir. Jetzt links rein in eine belebte Seitenstraße, dort sollte eine Bushaltestelle sein, sagte die Pariser ÖPNV-App. Menschenmassen, blinkende Lichter, Läden, Gesprächsfetzen und laute Musik, und nach hunderten Metern Slalomlauf endlich die Bushaltestelle. Meine Liebste sah inzwischen zutiefst verzweifelt aus, ergatterte einen Sitzplatz im Wartehäuschen und versuchte sich herunterzuregulieren. Ich spürte, wie verspannt meine Schultern waren, atmete bewusst und versuchte meinen Stress und die Anspannung fallen zu lassen. Erfolglos.

Das wäre nun der Punkt, an dem wir dringend einen Park, ein ruhiges Cafe, notfalls eine stille Kirche gebraucht hätten. Statt dessen saßen wir im Bus zur Ile de la Cité. Im Stau. Um uns hupten genervte Menschen in ihren Autos, fest davon überzeugt, dass sich der Stau durch ihre Huperei in Wohlgefallen auflöst.

Auf die Sainte-Chapelle hatte ich mich mit am meisten gefreut. Dummerweise liegt sie unweit der Kathedrale Notre Dame, also im Epizentrum des touristischen Paris. Wie am Tag zuvor war alles voll mit schwerbewaffneter Polizei, Straßenzüge waren abgesperrt, Taschen wurden anlasslos kontrolliert. Blaulicht und „Düddledü-Düddledü, Düddledü-Düddledü, Düddledü-Düddledü“. Wieder ein Staatsbesuch? Kurz vor 12:00 Uhr fanden wir die Schlangen mit Menschen, die ebenfalls in die Saint-Chapelle oder in die Conciergerie wollten. Eine Reihe für Leute ohne gebuchten Timeslot, die andere Reihe für Leute, die wie wir ein Ticket gebucht hatten. Beide Schlangen etwa gleich groß. 12:00 Uhr. Es tat sich nichts. Um 12:15 Uhr standen wir immer noch in der selben Position draußen in der Kälte rum. Genau wie um 12:30 Uhr. Wir waren beide maximal genervt, niemand wusste, was oder ob etwas passiert. Dann endlich wurde die Absperrung für unsere Schlange geöffnet und wir durften zur Sicherheitskontrolle in einen hässlichen, kahlen Raum. Teils unfreundliches, teils gelangweiltes Sicherheitspersonal durchleuchtete unsere Taschen, ein Flughafen-Nacktscanner durchleuchtete uns.

Dann standen wir in einem der Innenhöfe des abgeranzten Justizpalastes und durften uns nun zur Ticketkontrolle anstellen. Das dauerte gottseidank nicht zu lange, und schließlich befanden wir uns im Untergeschoss der Kapelle, stiegen eine enge, steinerne Wendeltreppe hinauf und landeten inmitten einer lärmenden Menschenmasse. Glaubt mir, das war der Moment, an dem ich erneut kurz davor war auszurasten. Ich war eh schon sehr drüber, und nun wieder eingekeilt zwischen fremden Menschen, ohne Ruhe, ohne die Möglichkeit, sich hinzusetzen und die gigantischen Fenster und die Architektur auf sich wirken zu lassen. Ich konnte mich auf nichts mehr fokusieren, mein Sichtfeld verengte sich, mein Puls raste, ein beginnender Meltdown. Ich musste raus. So schnell wie möglich. 13 Euro Eintrittsgeld fürn Arsch. Draußen hätte ich fast angefangen zu heulen. Teils, weil mein Nervensystem komplett dereguliert war, teils aus Enttäuschung über die gesamte Situation.

Ich musste nicht lange auf meine Liebste warten. Auch sie war enttäuscht und völlig drüber, gemeinsam flüchteten wir aus dem Justizpalast, irgendwo hin, wo wir uns weniger Leute und weniger Lärm erhofften. An einen Ort, wo wir uns hinsetzen und runterkommen, vielleicht sogar was trinken und essen können.

Wenn wir beide unterwegs sind und nur eine Person drüber ist oder bereits schon im Meltdown, dann kann die andere Person die Führung und die Verantwortung übernehmen. Das hilft ungemein, so retten wir uns regelmäßig gegenseitig den Arsch. Wenn wir allerdings beide durch sind, kurz vor dem Meltdown stehen oder schon drin sind, dann ist das eine gefährliche Situation, weil niemand mehr einen klaren Kopf hat. Gefährlich, weil es sein kann, dass wir dann einen üblen Krach bekommen, der uns dann noch mehr in den Meltdown hinein reitet. Nicht selten bis zum Shutdown. Aber so weit kam es gottlob nicht. Im Quartier Latin, auf der „Schäl Sick“ von Paris, fanden wir ein nett aussehendes Café, in dem nicht viel los war. Ein sehr freundlicher Kellner begrüßte uns und auf der Sitzbank am Tisch neben uns schlummerte eine wuschelige Katze. Ein guter Ort. Durchatmen. Kaffee trinken. Was essen. Die übrig gebliebenen, verstreuten Lebensgeister zusammenrufen.

Normalerweise wäre das jetzt der Punkt, an dem vernünftige Leute merken, dass es genug ist und herausfinden, wie man am besten zurück zum Hotel kommt. Vernünftige Leute. Also nicht wir.

Denn ich hatte auf dem Weg zum Café eine Ruine gesehen. Aufsteigendes Mauerwerk, das ich als römisch identifizierte. Meine Liebste meinte lapidar, sie vermute, dass es sich um das Musée de Cluny handelt. Dieses ist in einem Palast im Stil der Renaissance, das an die erhaltenen römischen Thermen von Paris angebaut wurde, untergebracht. Das Musée de Cluny ist das nationale Mittelaltermuseum.

Römische Thermen. Renaissancepalast. Mittelalter. Jetzt ratet mal, wie wir uns entschieden haben? Richtig!

Nein, diesmal keine Schlangen. Die Sicherheitskontrolle bestand aus einem Blick in die Taschen. Das Museum war sehr gut besucht, aber nicht überlaufen.

Gute Museen machen uns glücklich. Fast so glücklich wie guter Sex. In diesem Fall strahlten wir vor Glück und hachten ohne Unterlass. Im Frigidarium, dem vollständig erhaltenen Kaltbadesaal der römischen Thermenanlage wurden die bei der Sanierung der Kathedrale Notre Dame aufgefundenen Figurenreste des mittelalterlichen Lettners ausgestellt. Wir hatten eine Doku darüber gesehen und waren äußerst entzückt, diese noch farbig gefassten Architekturreste live bewundern zu dürfen. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wunderschöne Kapitelle nicht mehr existierender Kirchen wurden zur Bewunderung präsentiert, so wie frühmittelalterliche Elfenbeinschnitzereien, überlebensgroße, romanische und frühgotische Jesuse aus Holz, die einst an einem Kreuz in Kirchen hingen. Eine Ursula-Reliquienbüste aus Köln. Berühmte, spätmittelalterliche Wandteppiche mit Einhörnern drauf (fragt meine Liebste, sie kennt sich damit aus), Gemälde, wunderschöne Buchmalereien, prächtige Buchdeckel, verziert mit Gold und Edelsteinen. Geht hin, wenn es euch interessiert und ihr in Paris seid! Dieses Museum ist eine großartige Schatzkammer!

Und wer sich jetzt freut und denkt „Ende gut, alles gut“, der hat die Rechnung ohne die Metrostation Chatelet gemacht. Chatelet ist ein Verkehrsknotenpunkt, ein irres Gewirr aus unterirdischen Gängem, aus Laufbändern und plötzlichen Abzweigungen. Hier mussten wir umsteigen. Das Licht ist extrem grell, die Ansagen brutal laut, die Menschenmassen hetzen teilweise im Dauerlauf, als ginge es um ihr Leben. Meine Liebste, bereits am Ende ihrer Kräfte, fing an zu zittern, blieb stehen, war kurz vorm weinen, konnte nicht weiter. Gottseidank, ich weiß nicht woher, hatte ich noch ein Notlöffelchen übrig und konnte sie sanft zur Linie 11 bugsieren, wo direkt ein leerer Zug einfuhr und uns bis kurz vor unser Hotel brachte.

Achja. Abendessen. Wir hatten gehofft, in das kleine, nette Bistro im Erdgeschoss des Hotels gehen zu können. Die Energie dafür hatten wir nicht mehr. Statt dessen habe ich meine Liebste aufs Zimmer geschickt und habe ihr ein hochdosiertes CBD-Fruchtgummi verschrieben. Ich Wahnsinniger bin dann noch in den Supermarkt um die Ecke und habe uns mit letzter Kraft Kleinkram zur Notversorgung organisiert. Ich muss sehr langsam gewesen sein und der Einkauf war skurril, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Danach fiel auch ich ins Bett.

Fazit Tag 2: Als ich mir eben meine Sätze durchlas, dachte ich spontan, dass wir eigentlich unglaublich bescheuert sind. Sind wir aber nicht, denn wir pendeln ständig zwischen dem wunderbaren Rausch des intensiven Erlebens und der Hölle der kompletten sensorischen Überreizung. Im Urlaub natürlich mehr als im Alltag. Aber auch Zuhause am Erdrand beschreibt das unser Leben...

(Tschuldigung für diese bescheuerte Überschrift. Ich hatte gerade einen Cheech und Chong-Moment...)

Wow. Bald drei Monate bin ich schon von Mastodon weg! Nach etwa 17 Jahren in sozialen Netzwerken. Also Twitter und dem Fediversum. Ich möchte euch kurz mitteilen, was das mit mir gemacht hat:

Als ich relativ spontan mein Ende in den sozialen Netzwerken beschloss, wusste ich absolut nicht, was darauf hin passieren wird. Ich dachte, ich würde richtig viel bloggen. Nun, ich lag ganz großartig daneben. Statt zu bloggen, entdeckte ich das Lesen wieder und habe in fast drei Monaten mehr Bücher gelesen als in den vergangenen 17 Jahren zusammen. Ich liebe und genieße das Lesen. Und zwar sehr. Und mir wird klar, wie diese sozialen Netzwerke meine eh schon zerkratze Fokus-Fähigkeit gebunden haben.

Ich mülle mich nicht mehr mit Informationen zu. Soziale Netzwerke sind ein prima Medium, um sich den ganzen Dreck dieser Welt ungewollt um die Ohren schlagen zu lassen. Sowas macht etwas mit der Psyche. Seit ich mich bei Mastodon verabschiedet habe, bin ich wesentlich ausgeglichener, in mir ruhender, spüre mich mehr und habe insgesamt mehr Energie. Klar, damit ist der Dreck in dieser Welt zwar nicht weg, aber das wäre er auch nicht, wenn ich meinen Geist weiterhin damit weiterhin vollmüllen lassen würde.

Mein Klapprechner, der fast ununterbrochen lief, setzt Staub an. Ich starte das Ding nur noch, wenn ich wirklich was damit machen muss, etwas, was ich nicht am Handy erledigen kann. Und mein Handy ist momentan nur noch ein internetfähiger Musikplayer, auf dem ich Podcasts höre, hin und wieder ein paar abonnierte YouTube-Inhalte anschaue und kurz Dinge nachschlage oder mit dem ich meine Mails checke. Was das Strom spart! ;–)

Achso, ich habe aufgehört, in Tröts zu denken. Ehrlich, das habe ich gemacht, wenn ich etwas gesehen oder erlebt habe, von dem mir klar war, dass ich es meiner Bubble mitteilen will. Ich habe das Erlebte sofort in 500 Zeichen verpackt. Und natürlich ein Foto gemacht. Es fühlte sich etwas sehr strange an, als mir klar wurde, wie sehr dieses Mastodon zu meiner zweiten Natur und der Erdrandbewohner zu meiner Identität geworden war...

Was ich aber wirklich vermisse, ist der Austausch mit meiner wunderbar klugen neurodivergenten Timeline. Hierfür gibt es keinen Ersatz. Das Fehlen dieser virtuellen Verbundenheit mit meinen “Neurogeschwistern” hinterlässt ein Loch, das mich tatsächlich schmerzt.

Wie gehts weiter? Ich habe mir ja offengelassen, ob ich ins Fediversum zurückkehre oder auch nicht. Ich glaube, ich habe da eine Idee, die ich so umsetzen werde: Ich werde projektbezogen tröten. Meine Liebste und ich fahren bald für ein paar Tage nach Paris. Ich werde euch mitnehmen und von dieser Februar-Reise berichten. Darauf freue ich mich. Und im Mai folgt eine Reise nach London. Auch dahin nehme ich euch mit!

Abgesehen davon versuche ich ein wenig mehr zu bloggen. Vielleicht über Bücher? Wer weiß...

Bis bald!

Hier noch mein derzeitiges Lieblingslied, eine besondere Perle aus den Tiefen einer spinnwebenverhangenen Gruft. https://bleibmodern.bandcamp.com/track/winter-mood

Jaaaa, ich weiß: Ihr denkt jetzt, der Erdrandbewohnner meint aus irgendeinem Grund, mit einer reißerischen Überschrift Clickbait betreiben zu müssen.

Nö.

Okay. Aber vielleicht nur ein bisschen

Lasst mich erzählen. Also. Ich war gestern auf einer kleinen Familienfeier. Jemand hatte Geburtstag, und da es nix Rundes war und wir Mittwoch hatten, lud uns das Geburtstagskind zur gemütlichen Völlerei am Mittags-Buffet im vielleicht besten chinesischen Restaurant der Stadt ein.

Dort saßen wir nun, am runden Tisch, mitten drin in den dann doch recht gut besuchten Räumlichkeiten. Während wir mampften und erzählten, checkte meine undiagnostizierte ADHS-Schwester (ich bin mir sowas von sicher, schließlich entstammen wir einer traditionsreichen neurodivergenten Familie mit vielen diagnostizieren und nicht diagnostizierten ADHSler:innen und Autist:innen) ihre Nachrichten. Sie war wegen der Lautstärke und den Tischgesprächen wohl nicht ganz bei der Sache und tippte so nervös wie versehentlich auf ein Video.

“AHH! AH! AH! GIBTS MIR! JA, TIEFER! AHHH! SEHR GUT! ICH KOMME! JAAAA! AHHHHH! AHHHHH!”

Nun, ich wusste gar nicht, dass ihr Smartphone so gute, klare und durchdringende Lautsprecher hat. Ich muss sie bei Gelegenheit mal nach dem Hersteller fragen.

Während das Gehirn meiner Schwester noch versuchte, diese Ungeheuerlichkeit zu begreifen, reagierten die anderen Gäste um uns herum praktisch sofort und schauten sich suchend und grinsend nach der Quelle der anstößigen Geräusche um.

Endlich erfasste auch das Hirn meiner Schwester die Situation und handelte sofort: Sie bekam knallrote Ohren. Und mit etwas Verzögerung entschlüpften ihrem Mund empörte Worte: “Ey! Ey! Jetzt aber!!!”

“FICK MICH! FICK MICH! JA, JA, JA!!!!!”

So langsam sah meine Schwester ein, dass sie diese sozial unpassende Situation besser beenden sollte und versuchte deshalb abwechselnd durch wildes Tippen auf den Bildschirm und durch unkoordiniertes Drücken auf den Lautstärketasten wieder eine gewisse Normalität herzustellen.

Als ihr dann auch noch das Gerät aus den Händen glitt, sie aus lauter Hektik fast ihre Apfelsaftschorle umwarf, machte es offenbar “Klick” in ihrem feuerroten Kopf und sie wurde plötzlich ganz ruhig.

“Ich war das nicht!”, rief sie halblaut, traf mit ihrem Finger endlich das Pausen-Icon, richtete ihre Haare und verlor über diesen Vorfall kein einziges Wort mehr.

Ja, es dauert immer ein bisschen, aber dann ist meine Schwester eine coole Sau. ;–)

Das Kaninchenloch

Erste Rückblende:

2012, irgendwann zu Jahresbeginn: Ich sitze auf dem Sofa im Arbeitszimmer und sehe ein Video mit Christopher Lauer, damals Vorsitzender der Piratenpartei, in dem er erklärt, dass er ADHS hat und Medikinet als Medikament gegen einige der Symptome nimmt. Ich bin irgendwas zwischen elektrisiert und paralysiert, denn ich erkenne mich in sehr vielen von Christopher Lauer genannten Eigenschaften wieder.

Mir ging es zu dieser Zeit nicht gut. Ich war völlig erschöpft und sehr frustriert, fühlte mich auf so vielen Ebenen unfähig. Und obwohl es von außen betrachtet nicht stimmte, fühlte ich mich am Leben gescheitert. Das war mein Lebensgefühl, dass ich so oder so ähnlich seit meiner Kindheit her kannte.

Zweite Rückblende:

2012, vermutlich irgendwann im Frühsommer. Ich sitze in einem funktional-schlichten, weißen Arztzimmer meiner Psychiaterin gegenüber. “Ich will es gar nicht spannend machen, Herr Erdrandbewohner. Ich habe jetzt die ADHS-Testungen ausgewertet und ich sehe bei Ihnen ganz klar eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Bei Ihnen liegt die Gewichtung eher auf der Unaufmerksamkeit, aber sie haben auch nach innen gerichtete hyperaktive Anteile...”. Während sie mir das (und noch mehr) erklärt, fühle ich eine tiefe Erleichterung. Es gibt jetzt eine Erklärung. Das Kind hat einen Namen. Ich bin es nicht Schuld und ich habe mein Leben nicht in den Sand gesetzt. Ich habe „nur“ ADHS. Und von dem Blickwinkel aus betrachtet, habe ich unmenschliches in meinem Leben geleistet... Kurze Zeit nach der Diagnose habe ich meine Psychiaterin gefragt, ob denn klar sei, dass es ADHS sei. Denn beim Autismus gäbe es ja ähnliche Symptome. Sie meinte, dass sie bei mir deutliche autistische Anteile sieht. Aber ich solle erst einmal mit meiner ADHS-Diagnose klarkommen. Eine Autismusdiagnose könne ich später anstreben. Sie würde das nicht durchführen. Das sei sehr komplex und sie sei keine Expertin auf diesem Gebiet.

Dritte Rückblende:

12 Jahre später. 2024, im Frühjahr. Meine Liebste hatte Ende 2023 für sich den Verdacht auf Autismus. Seither fährt sie Achterbahn in Dauerschleife. In der Folge beschäftige ich mich erneut mit dem Thema. Obwohl ich seit über 10 Jahren mit Autist*innen arbeite, hinterfrage ich erstmals alle meine oberflächlichen Vorstellungen von Autismus und blicke völlig anders auf das Thema – und auf mich. ADHS und Autismus gleichzeitig? Ja, das gibt es.

Unter mir tut sich der Boden auf und ich falle in ein tiefes, tiefes Kaninchenloch…

Jetzt, in der Gegenwart:

Dieses Kaninchenloch, meine lieben Elfen und Feen, Gnome und Füchse, war nur der Eingang zu einer völlig anderen Welt. Ich schritt durch einen Torbogen, auf dem mich in glitzernden Buchstaben das Wort „Autismus“ begrüßte. In dieser seltsamen Welt macht sowohl plötzlich als auch nach und nach alles, aber auch wirklich ALLES in meinem Leben einen Sinn. Es ist so überwältigend, dass ich nicht nur den Boden unter den Füßen verliere, sondern auch fast all meine alten Überzeugungen und Sichtweisen. Vor allem aber zerbröselt mir meine Vorstellung von mir selber. Während mein altes Ich sich in einer rasenden Geschwindigkeit unter Schmerzen auflöst, setze ich mich an anderen Stellen neu zusammen. Und dieses Neu ist richtig. Es passt. Es fühlt sich zum ersten Mal in meinem Leben an, als könne ich mich wirklich sehen. Und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl des Ankommens in meinem wirklichen Zuhause. In mir zu Hause zu sein, zu wissen, wer und was ich bin – das kannte ich bisher nicht. Über 50 Jahre lang lebte ich in einer mir feindlichen Welt, in der ich nur mit einem wahnsinnigen Kraftakt, mit besonderen Tricks und viel Glück überleben konnte. Wie so ein Außerirdischer, der auf einem Planeten mit giftiger Atmosphäre gestrandet ist und bei der Notlandung einen Gedächtnisverlust erlitt.

Natürlich bin ich ein Außerirdischer nur im übertragenen Sinn. Ich bin ein zutiefst neurodivergenter Mensch, der in der NT-Welt, der Welt der neurotypischen Menschen, leben und klarkommen muss. Das muss ich auch weiterhin. Nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt mein wirkliches Zuhause kenne und mich bestenfalls entscheiden kann, wie viel Zeit und Kraft ich dieser NT-Welt widmen will.

Also, meine lieben Elfen und Feen, Gnome und Füchse, begleitet mich dabei, wie ich meine wirkliche Heimat erkunde, mich darin einrichte. Lest, wie ich weiterhin zerbrösele und mich neu zusammensetze. Lasst euch berichten, wie ich als neurodivergenter Mensch mit dieser völlig bekloppten Welt umgehe. Es ist alles sehr spannend und ich bin noch ganz am Anfang…

Als ich mich bei Mastodon vorläufig verabschiedete, schrieb ich, dass ich mich aus den sozialen Medien gänzlich verabschiede und nur noch meinen Pixelfed-Account hin und wieder mit Fotos bestücken werde.

Nun, das war, wie sich gerade herausstellt, eine Lüge. Okay, ich habe nicht wirklich gelogen, denn als ich es schrieb, war ich davon überzeugt. Aus irgendeinem Grund verlinkte ich ein Lied von Ton Steine Scherben: “Ich geh weg”. Darin heißt es:

“Ich geh weg, ich geh weg Ich geh weg und such was Neues

Denk an mich, denk an mich Ich komm zurück zu dir” (...)

Jetzt habe ich was Neues. Diesen Blog. Und ich bin zurück. Im Fediversum. Nur anders.

Ich will dem Internet vorerst nicht mehr zuhören, ich möchte gerade nichts mehr von den realen oder den geglaubten Katastrophen wissen, will mich nicht mit Meinungen von Leuten aus dem Netz beschäftigen, und ich ertrage das schrille Aufmerksamkeitsgeheische in den Nachrichten und anderswo nicht mehr. Alles schreit, alles kreischt, alles, was im Netz passiert, ist eine einzige Kakophonie.

Ich käme ja damit klar, wenn mir nicht auch im RL die Rübe fast explodieren würde. Denn meine Identität zerfällt gerade im laufenden Betrieb und setzt sich gleichzeitig neu zusammen. Und ja, es ist so dermaßen anstrengend und verwirrend wie es sich anhört. Wenn ich jetzt jemanden zuhören möchte, dann mir selber.

Klingt kryptisch? Ja. Aber ich werde später darüber schreiben.

Jedenfalls freue ich mich darauf, meine Gedanken hier sortieren zu können. Übrigens: Diese Blogsoftware ist toll, denn ich sehe keine Kommentare, keine Sterne oder Herzen. Es ist fast so, als würde ich auf einer einsamen Nachtwanderung zum Wald reden, und nur Elfen, Feen, Gnome und vielleicht ein Fuchs hören mir zu. Eine schöne Vorstellung.

Bis zum nächsten Eintrag, ihr Elfen, Feen, Gnome und Füchse!

Ich habe eine erste Followerin auf diesem neuen Blog. Es ist, wer erahnt es, meine Liebste @Thalestria. ;–)