Einmal am Tag mich unterbrechen, um auf dem Weg der Bilder zu gehen, die Gott für diese Welt erträumt.
Wie denkt Gott über mich?
Wie stellt er sich die Menschen vor, denen ich begegne?
Welche Vision hat er vor Augen von meiner Stadt?
Wie träumt er die Welt?
Einmal am Tag aus dem Alltag abbiegen. Den Umweg nehmen, um mit Gott durch die Träume zu gehen.
Was kann ich heute und hier dazu beitragen, damit sie wahr werden?
Stell dir vor, du sitzt und liest. Oder du siehst etwas auf der Straße. Oder du wäschst ab oder schaust einfach nur vor dich hin. Und plötzlich zeigt sich irgendwo in dir der Anfang eines Gedankens oder einer Idee. Oder der erste Satz für einen Blog-Beitrag...
Im Alltag geht viel davon einfach verloren. Weil ich weiter lese oder abwasche oder zum nächsten Termin hetze. Das Geniale am Kontaktsemester ist: Ich kann einfach unterbrechen. Stehenbleiben. Die Hände abtrocknen. Und ich schreibe wild auf, was mir gerade durch den Kopf oder durchs Herz gegangen ist.
Mein Notizbuch füllt sich.
Leben einzeln und frei wie ein Baum und dabei brüderlich wie ein Wald diese Sehnsucht ist alt. Sie gibt uns Halt in unserem Kampf Gegen die Dummheit, den Hass, die Gewalt. (Hannes Wader)
Meine Bedürfnisse als Individuum oder die Gemeinschaft, in der ich lebe – Die Frage was von beidem wichtiger ist, beschäftigt mich seit meiner Jugend. Sie gehört wohl zu den grundlegenden Fragen der Menschheit. An zwei Stellen meiner Biografie habe ich die Antworten gelernt, mit denen ich (derzeit) lebe:
Der christliche Glaube. Als Christ weiß ich mich von Gott geliebt, in meiner Individualität. Gott will mich nicht nur als Gattungswesen, sondern mit meinen Eigenheiten, meiner Personalität. So, wie ich geschaffen bin. So wie ich geworden bin. Deshalb kann ich (ja muss ich) mit Überzeugung ICH sagen. Zugleich bin ich hineingeworfen in eine Gemeinschaft von Menschen – nein, gleich in viele. Gott will mich als Teil der Gruppe (der Gemeinde; der Familie; derer, die die Stadt gemeinsam gestalten...). Nur so kann ich überleben. Nur so finde ich auch Sinn.
Die Themenzentrierte Interaktion (TZI). Die TZI kann man durchaus als ein Konzept verstehen, das es einzelnen ermöglicht, das Eigene zu finden und stark zu machen, und zugleich die Verantwortung im Wir wahrzunehmen und zu leben. Sie ist eine Konzeption gegen das Verschwinden der einzelnen in einer nach Gutdünken konstruierten Gruppe. Dieses Verschwinden hatte Ruth Cohn in der NS-Zeit erlebt. Und auch heute wächst wieder die Sehnsucht danach, in einem wie auch immer definierten Volk unterzugehen, die Bedürfnisse und Rechte der Einzelnen diesem Konstrukt unterzuordnen. Zugleich ist die TZI aber auch eine Konzeption der Verantwortung für die Gruppe, für die Gemeinschaft. Über 20Jahre Leben mit TZI-Hintergrund ist eine Erfahrung, die ich nie wieder missen möchte.
Schwankend zwischen ästhetisch und ethisch. Zwischen spontan und überlegt. Zwischen überschwänglich und geplant. Zwischen verschwinden und bleiben. Zwischen Goldmund und Narziss. Zwischen genussvoll und zielgerichtet. Zwischen geworfen und sortiert. Zwischen Chaos und Erstarren.
Wehe, wenn du aufhörst zu schwanken und bleibst auf einer Seite, fällst ohne Balance.
“Der Unglückliche ist einer, der auf die eine oder andere Weise sein Ideal, seines Lebens Inhalt, seines Bewusstseins Fülle, sein eigentliches Wesen außerhalb seiner selbst hat. Der Unglückliche ist allzeit abwesend von sich selbst, niemals sich selber gegenwärtig. Abwesend aber kann man offenbar sein entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft.“
(Sören Kierkegaard)
Aber immer nur Gegenwart und Glück führt dann auch in die Verzweiflung, oder?
Besuch in den Ausstellungsräumen in der Kleinen Synagoge in Erfurt.
Ganz viel Musik und Tanz bei den Veranstaltungen des großartigen Yiddisch Summer Weimar und beim Erfurter Stadtfest zum ersten Geburtstag des Welterbe-Status.
Es hat mich begeistert: das Musical Anatevka. Es war ein großartiger Abend, an dem auf den Domstufen zu Erfurt der kleine ost-jüdische Ort zum Leben erwachte und Tewje seine letzlich doch so traurige Geschichte erzählte. Dazu die Musik, die mich tief berührt hat.
Wieder zu Hause habe ich den Roman von Scholem Alejchem gefunden. Die schöne Ausgabe mit den Bildern von Anatoli Kaplan, die seit 1984 bei uns im Regal steht. (Damals 32,– Mark, was für ein Buch in der DDR ein horrender Preis war.) Und nun, nachdem ich das Buch neu gelesen habe, kommt es mir vor wie ein tiefer, lebendiger See. Und das Musical wie ein seichter Teich – so schön es auch ist. Also meine Empfehlung: Lest (auch) das Buch.
Diese Welt der Ostjuden. Was könnten wir bis heute davon haben, wenn sie nicht schon damals in Russland und dann 35 Jahre später vollends von den völkisch verblendeten Deutschen zerstört worden wäre... Wie viele Menschen!
War voll von Liebe und war voll Vertraun
und Wärme war um ihn und war viel Zeit.
So konnte er sich große Flügel baun,
und alles in ihm war ihm unendlich weit.
So war es schließlich möglich, dass er flog,
die Erde ließ er unter sich zurück.
Bis man die Wärme von ihm nahm und ihn belog,
da blieb vom Ganzen in ihm nur ein Stück.
So fiel er nieder, stürzte und zerbrach.
Wer sagt, er wäre nie geflogen, lügt.
Man trug ihm die zerbrochnen Flügel nach,
und jeder weiß, dass er nie wieder fliegt.
Bettina Wegner
Ich werde nie den Abend vergessen, an dem ich in Dresden mit vielleicht 17 Jahren zu einem Konzert ging, ohne zu wissen, was da eigentlich auf mich zukommt. Ich erlebte dann Bettina Wegner bei ihrem letzten Nicht-Kirchen-Konzert in Dresden. Und ich ging als anderer, gestärkter Mensch wieder heim. so hatte ich das noch nie erlebt.
Bettina Wegner gehörte immer zu den wirklich Großen meiner Jugend, auch wenn ich sie nie wieder live erlebt habe. Wir brauchten damals Kraft, um in der DDR aufrecht zu bleiben. Ihre Lieder waren Kraft-Quellen für mich (und für einige meiner Freund*innen).
Jeht habe ich den Dok-Film “Bettina“ gesehen, der mir alles wieder ganz nah gebracht hat...