Chronik des laufenden Wahnsinns

Kommune II

Langsam aber sicher, tröpfelte meine Begeisterung für die 60er Jahre dann doch noch nach außen. Der Hebel, den ich gegenüber meinen Freunden nutze, um ihnen meine Begeisterung für eine politische Rebellion längst vergangener Tage doch noch irgendwie schmackhaft zu machen, ist schnell gefunden: Drogenkonsum.

Ich weiß nicht mehr, wie wir es mit 14 oder 15 schafften, an Haschisch und Gras zu kommen – aber auf jeden Fall schafften wir es. Für den Konsum nutzten wir zu Beginn nicht etwa Joints, sondern gleich eine Bong – denn zunächst kann keiner von uns drehen.

Mein Sehnsuchtsort hat einen Namen: die Kommune I in Berlin. Ich baue sie mit zwei Freunden im Keller von Christoph nach, auf der Kyffhäuserstraße in Düsseldorf-Oberkassel. Christoph ist ein lässiger Typ, immer in weiten Jeans, immer Cappi, schlaksig. Er kommt merklich besser bei Mädchen an als ich.

Im Keller seiner Eltern entrollen wir eine Che-Guevara-Flagge, lesen marxistische Literatur und aus irgendeinem Grund die Verfassung der untergegangenen DDR. Die Eltern, sowohl von Philipp als auch von Christoph, sind zumindest Alt-68er-angehaucht und haben daher so etwas wie die Mao-Bibel einfach herumliegen. Die Begeisterung für politische Texte will sich bei meinen Freunden nicht so recht einstellen – die Begeisterung für Cannabis dagegen schon. Kiffen ist jetzt ein Hobby.

Einmal kommt der Vater von Christoph in den Keller hinunter und fragt, was wir dort treiben. „Das ist die Kommune II”, verkündete ich in einem Anflug von jugendlichem aufgesetzten Selbstbewusstsein. „Wenn das die Kommune II sein soll“, sagt er amüsiert, „dann frage ich mich: Wo sind die Frauen?”

Weitere autobiografische Texte:

Pink Floyd und Helmut Kohl

Ich bin 15 und es ist noch kein Tag seit meiner Geburt vergangen, an dem Helmut Kohl nicht Bundeskanzler war. Das „Argument“ eines Mitschülers aus der Grundschule hat sich bei mir eingebrannt: Bundeskanzler und Kohl – das gehört einfach zusammen, auf Bundeskanzler folgt Kohl, das sei ja wohl klar. Für mich ist damals klar: Kohl muss weg! Das war schon in meiner Kindheit die von meinen Eltern kritiklos übernommene politische Meinung.

Auf einem alten der Familie meiner Mutter aus den 1970ern in Monheim am Rhein prangt ein großer, roter Aufkleber: SPD, was sonst? Einmal fragte ich meinen Vater, ich war noch sehr klein: „Über Helmut Kohl werden im Fernsehen ständig Witze gemacht, gerade wieder. Ich frage mich: Wer wählt den denn überhaupt noch?” Mein Vater überlegte kurz, antwortete dann: „Die, die die Witze nicht verstehen.”

Die Aussicht auf Rot-Grün machte mir mit 15 Hoffnung. Es sind die Parteien, die meine Eltern immer wählten: Meist Erststimme SPD, Zweitstimme Grüne. Einmal, als ich meinem Vater bei der Bundestagswahl 1994 über die Schultern schaue, bemerke ich, dass er nicht wie vorher angekündigt mit der Erststimme SPD und Zweitstimme Grüne wählt, sondern mit beiden Stimmen grün. Ja, sagt er danach, „Ich finde diesen Scharping einfach zu unsympathisch.“

Um mich herum interessiert die herannahende Bundestagswahl 1998 so gut wie niemanden. Wählen darf sowieso noch keiner meiner Freunde. Mein Freund Philipp würde die CDU wählen, wenn er könnte, denn: „Es geht uns doch gut.“ Tatsächlich fällt mir das passende Gegenargument erst später ein, als das Gespräch schon vorbei ist: „Ja, uns vielleicht – aber vielen Millionen anderen?“

Als ich bei einer Verabredung erwähne, dass ich den kommenden Sonntag abends gerne den Ausgang der Wahl im Fernsehen verfolgen möchte, schauen mich die anderen verdutzt an: „Mich interessiert das gar nicht”, sagt einer. „Ja, wäre ganz schön, wenn auch mal die SPD regiert, aber was würde sich schon ändern?“ Mit meinem Entgegenfiebern auf die Bundestagswahl bin ich also allein.

Vielleicht ist es auch diese Einsamkeit in Dingen, die mir wichtig sind, die meine Art des Eskapismus befeuern. Genau 30 Jahre zuvor war 1968. Was für eine Zeit: Die Jugend politisiert, Studenten auf der Straße. Später in einer Dokumentation über die Zeit – ich glaube es war „Pop 2000“ und ich glaube es war Hugo Egon-Balder, der das sagt – höre ich das Zitat: „Über Politik reden war damals die einfachste Art eine Frau ins Bett zu kriegen.“ Ich bin einfach in der falschen Zeit geboren, denke ich.

Von den Eltern meines Freundes Philipp habe ich mir das Pink-Floyd-Album „The Wall“ auf Kassette überspielen lassen. Es ist zwar 1979 erschienen, aber für mich atmet es damals den Geist der 60er. Ich höre die Kassette rauf und runter – mit Kopfhörern. Keinem meiner Freunde erzähle ich davon. Wenn sie über die damals angesagte Musik reden, der aufkommende deutsche Hip Hop oder die harte elektronische Musik des Mayday, fühle ich mich wie ein Zeitreisender, der im falschen Jahrzehnt gestrandet ist.

An meinem wuchtigen Holztisch in meinem lange Kinder-, jetzt Jugendzimmer ist eine kleine, billige Kompaktanlage aufgebaut. Der CD-Ständer im kubischen 90er-Jahre-Pyramiden-Design und ein paar Audio-CDs mit aktuellen Charthits, die mir meine Mutter von Zeit zu Zeit mitgebracht hat (zum Beispiel eine „What is love”-Single von Haddaway) verstaubt. Stattdessen läuft die Pink-Floyd-Kassette. Ich imaginiere ein anderes Leben.

Ein weißer VW Käfer fährt 1967 zu einer Demo. Das Bild erzeugt in mir einen wohligen und zugleich melancholischen Schauer. Ich spüre Nostalgie für eine Zeit, die ich nie erlebt habe. Für eine Zeit vor meiner Geburt. Ich sitze vor meiner Kompaktanlage, die Kopfhörer auf – allein.

Weitere autobiografische Texte:

Schmerz-Radio auf 104,6

Er stellt die Frequenz des Schmerz-Radios auf 104,6. Die Emotionslautstärke etwas höher als gestern, er fühlt sich bereit. Die Melancholie breitet sich langsam aus, süßer Schmerz, umarme mich.

Die Ein-Zimmer-Wohnung im Quadranten E67 ist nur fahl beleuchtet. Layard ist es wichtig, dass seine am Fenster montierte Solaranlage mit Batterie im Zweifel, bei Stromausfall, reicht, den Kühlschrank weiter zu betreiben, die Funkverbindung zum E67-Netz zu halten und eine fahles LED-Notbeleuchtung bereitzustellen. Damit kann er, wenn es mal sein müsste – aber so lange hat es noch nie gedauert – 48 Stunden durchhalten.

Bittersüßer Schmerz. Früher hatte Layard wenige Gefühle gehabt. Wahrscheinlich waren es meistens Gedanken gewesen – und dann überwiegend negative. Das Gefühl, das er noch am besten kannte, am klarsten trennen konnte von dem Klumpen seines Inneren, war Angst.

Als er vor fünf Jahren das alte, längst aus der Mode gekommene Schmerz-Radio auf dem Dachboden seiner Mutter gefunden hatte, änderte sich das. Schmerz war anders. Schmerz war tief, traurige Schönheit – das Gefühl den Schmerz der anderen zu spüren war für ihn berauschender als das Excelsior, das er einmal ausprobierte. E machte Spaß, das Schmerz-Radio machte traurig, ehrfürchtig – die intensiven Gefühle der anderen war das Tor zu einem inneren Universum..

Er hat Urlaub und mehrere Abende am Stück bereits mit dem Schmerz-Radio verbracht. Die Gefühle waren vielleicht auch deshalb so intensiv, so körperlich – weil es auch viele Gefühle von Frauen waren, auf jeden Fall von anderen, die er empfang, so tief, fein schattiert, so ausdifferenziert wie er von alleine nie in der Lage gewesen war zu fühlen. Es war so echt, die wahre Essenz des Lebens – ein spirituelles Erlebnis ohne Gott. Schmerz-Radios sind ja noch legal, denkt er sich, weil sie eben nicht süchtig machen. Nur noch in dieser Welt des Schmerzes, das hält ja schließlich niemand aus, nicht täglich, nicht über mehrere Stunden.

Heute ist da wieder dieses tiefe Gefühl auf dieser Frequenz, das ihn nicht loslässt. Ein abgrundtiefer Schmerz, da er klar empfangbar ist, von ganz besonderer Reinheit. Sehr ausdifferenziert. Ob da jemand über sein verlorenes Kind trauert? Es musste eine ganz besondere Trauer sein.

Er dreht die Gefühlslautstärke auf Maximum.

Es wird schwärzer, vielleicht doch zu viel? Nein, da ist noch etwas anderes, hinter dem Schmerz. Warum fühlt sich diese Trauer so schön an? Er hatte den Verdacht schon länger: Wenn ein Gefühl besonders intensiv ist, dann trägt es immer auch Fetzen anderer Gefühle mit sich. Normalerweise kommt nicht viel mit bei Schmerz und Trauer, das Gefühl überlagert alles. Dieses Gefühl aber – er taufte es spontan Engel-Trauer auf 104,6 – transportierte etwas mit. Ehrfurcht. Trost. Weisheit über das Leben. Wer auch immer dieses Gefühl sendet, er sollte diese Person treffen, schießt es Layard durch den Kopf.

Losing my religion

Ich war ein seltsames Kind. Das stärkste Gefühl, an das ich mich aus meiner frühkindlichen Zeit erinnern kann, ist ein intensiver Gänsehautzustand, den ich zuverlässig reproduzieren konnte. Ich musste nichts anderes tun als mich irgendwo hinzusetzen – gerne wählte ich dafür die Toilette – und mir selbst, still nur in meinem Kopf zu sagen: Ich bin ein Mensch.

Ich bin ein Mensch, der sterben wird. Das Gefühl war so furchteinflößend intensiv, dass ich mich regelmäßig danach selbst beruhigen musste. „Es ist doch eigentlich ganz schön, ein Mensch zu sein“, sage ich mir dann zum Beispiel. Ich denke wahnsinnig viel über den Tod nach für ein vielleicht vierjährigen Jungen und habe das Glück, das meine Mutter behauptet, es gäbe einen Gott und einen Himmel für das Leben nach dem Tod. Ich glaube das, sie wird es schon wissen. Schließlich weiß sie ja auch sonst alles, was mir unerklärlich bleibt – beispielsweise wie Kleidung gewaschen wird oder Geld funktioniert.

Erst als ich in der Grundschule bin, vielleicht aber der dritten oder vierten Klasse, kommt mir der Gedanke: Was, wenn es Gott doch nicht gibt? Eine Schulfreundin von mir, Annika, glaubt nicht an Gott. Sie kommt aus einer atheistischen Familie. Als wir die Pflastersteine-Straße in Düsseldorf-Oberkassel am Steffenspielplatz entlang gehen, sagt sie: „Es gibt keinen Gott im Himmel, da fliegen die Flugzeuge.“ Das Argument finde ich so empörend doof, dass es meinen Glauben bestärkt. Umgeworfen hat mich nie der Zweifel der anderen, sondern letztlich mein eigener.

Für andere Kinder meines Alters spielt aber Religion meist ohnehin kaum eine Rolle. Für mich ist sie ein Fundament. Obwohl meine Eltern nie beten und das einzige Bild aus meiner frühen Kindheit einer Kirche die überfüllte Auferstehungskirche zu Weihnachten ist, wenn sich alle evangelischen Oberkasseler Familien für ihren jährlichen Kirchenbesuch herausputzen. Mein Vater, im Gegensatz zu allen anderen in unserer Kleinfamilie Katholik, bleibt dann zu Hause und kümmerte sich schon mal um die Geschenke, den Baum und das Essen. „Wenn beten helfen würde“, sagte er einmal, „dann sähe die Welt ganz anders aus, so viel wie die Katholiken beten.“

Kurzgesagt: Die Frömmigkeit war mir alles andere als in die Wiege gelegt und bis heute weiß ich nicht, ob mein Vater überhaupt an Gott glaubte. Aber mit folgenden einfachen Gedanken trieb ich mich selbst in eine für ein Kind der 1980er Jahren in einer westdeutschen Großstadt merkwürdige Frömmigkeit: Was sind schon 60 bis 90 Jahre hier auf Erden im Angesicht der Ewigkeit?

Also richte ich mein Leben nach Gott aus – unsichtbar für die Welt der Erwachsenen, die ihrem für mich unverständlichen Alltag nachgehen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich bete. Aber ich möchte gut sein, Gutes tun und schlechte Taten vermeiden. Ich lüge zum Beispiel nie. Und ich fragte meine Tante, die Pastorin ist, all die Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann. Warum, zum Beispiel, frage ich sie, gibt es schlechte Menschen, wenn Gott allmächtig ist? Gott möchte, so lautet ihre Antwort, dass die Menschen selbst darauf kommen, was gut ist. Ich finde die Antwort nicht überzeugend. Aber Zweifel an der Existenz von Gott löst das bei mir zunächst nicht aus.

Der neue Gedanke in der Grundschule, dass meinem Fundament ein Irrtum zugrunde liegen könnte, ängstigte mich. Und doch konnte ich ihn nicht verdrängen. Was, wenn Gott auch nur eine Version des Weihnachtsmanns für Erwachsene ist? Bei genauer, logischer und rationaler Betrachtung spricht doch einiges dafür, dachte ich immer häufiger. Zu Beginn noch zaghaft mit angezogener innerer Handbremse, später auf dem Gymnasium immer deutlicher.

Und irgendwann kam sie dann, die Gretchenfrage – ich weiß noch, wo und von wem sie mir gestellt wird: In der achten Klasse, nachdem ich das erste Mal sitzengeblieben bin, auf dem Weg vom Cecilien-Gymnasium zur Bahnhaltestelle. Von einem Schulfreund, Daniel, der von allen nur Arnuld genannt wird, weil er von einem Schulfotografen, der sich für alle Schüler Namen ausgedacht hat, so getauft wurde.

„Glaubst du eigentlich an Gott?” Ich weiß nichts von diesem Tag – nicht das Wetter, nicht was in der Schule passiert ist oder was er oder ich anhabe. Aber ich kann mich noch ziemlich genau an meine Antwort erinnern. Es ist eine sehr ehrliche Antwort, die sehr lange in mir gereift ist und die – so erinnere ich mich selbst daran – erst im Moment der Aussprach gegenüber einem Dritten fortan ganz und gar zu meiner Wahrheit wird, im Grunde bis heute:

„Ich wünschte, es gäbe einen Gott“, sage ich. „Ich glaube aber nicht daran.“

Noch nenne ich mich nicht Atheist, sondern Agnostiker und erkläre auch gleich in meiner etwas klugscheißerischen Art den Unterschied. Natürlich halte ich mir noch ein Hintertürchen offen.

Ich hatte mir also mein Fundament unter den Füßen weggerissen und stand inmitten der Pubertät ohne Wurzeln da. Was also blieb noch? Liebe natürlich! Von Liebe wusste ich allerdings nichts und das sollte noch scherzhaft lange so bleiben. Stattdessen suchte ich – unbewusst – das Nächstbeste.

Auch meine Biografie erschließt sich mir wie so viele in der Rückschau, als in der Zeit, als ich mittendrin stecke. Ohne es zu wissen, so glaube ich heute, eine Ersatzreligion. In der Spaßgesellschaft um mich herum beschäftigten sich alle mit purem Hedonismus, meist phantasiertem Sex, Party, Auschweifungen, Bravo-Foto-Lovestorys, Mode.

Als Ersatzreligion suchte ich mir das Uncoolste, das meine Position als Außenseiter sicher zementierte, einbetonierte. Es begann ganz harmlos, ich glaube in der siebten Klasse. Die linke Seite eines Schulheftes, es mag das Deutsch-Heft gewesen sein, die für Korrekturen vorgesehen war, kritzelte ich voll. Überschrift: „Zum Thema links liegen gelassen.“ Darunter Symbole des recht frisch untergegangenen Kommunismus: Hammer und Sichel, roter Stern, aber beispielsweise auch das Logo der PDS.

Rund sieben Jahre nach der deutschen Einheit und während Helmut Kohl ein zumindest im Westen immer noch satt-gemütliches Land regiert, beginne ich den damals unwahrscheinlichsten Flirt eines 14-jährigen Jungen aus Düsseldorf-Oberkassel: den Flirt mit dem Kommunismus.

Max

Max war Teil des Möbiliars meines Kinderzimmers. Immer schon da, so lange ich mich erinnern konnte. Ich weiß nicht mehr, wie er dorthin gekommen war. Wahrscheinlich hatten ihn meine Eltern gekauft. Max war ein Pferd aus Stroh. Ich mochte es mich auf Max zu setzen und die Beine fest an den Körper zu pressen. Mein Kinderzimmer in einer Düsseldorfer Altbauwohnung war wenig bemerkenswert – außer, dass es recht groß war. Hohe Decken, hohe weiß gestrichene Holztüren mit milchigen Fensterglas, sodass Licht hinein schien, sobald jemand im Flur das Licht anknipste. Der Teppich ist grau und flauschig, der Heizkörper unter dem Fenster massiv und aus Metall.

Durch die doppelflügel Fenster kann ich auf die Hauptstraße herunterblicken. Abends nimmt mich mein Vater auf den Arm und wir sagen zwei Linienbussen gute Nacht: dem 834er und dem 835er. Sind beide vorbeigefahren, weiß ich, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen.

Irgendwann kamen meine Eltern auf die Idee, dass es Zeit sein könnte, mich von Max zu trennen. Der Gedanke daran löste bei mir kein Gefühl aus. Erst als mein Vater erwähnte, dass wir dann gemeinsam zur Müllverbrennungsanlage fahre würden, bin ich plötzlich Feuer und Flamme für die Idee. Eine Müllverbrennungsanlage, riesige Maschinen, wie aufregend!

Mein Vater war ein eher schmächtiger Mann – müdes, schmales Gesicht, die Jahre des Büro- und Alltagsstress waren schon in seinen 30ern sichtbar. Mit seiner üblichen Kombination aus Alltagsjeans und Hemd wirkte er wie jemand, der immer halb im Büro war – technischer Angestellter bei PKL, die Papier- und Kunststoffwerke in Linnich. Er war – ganz im Gegensatz zu meiner Mutter – schüchtern, wortkarg und sensibel.

Wir fahren mit unserem schon damals in die Jahre gekommenen weißen Audi 80, Max im Kofferraum, zur Müllverbrennungsanlage. Ich mag das Auto – die Gemütlichkeit, wie „technisch“ die Tachos aussehen, der künstliche Geruch nach Stoffbezug. Später werden meine Eltern das Auto für 100 Mark verkaufen.

Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist eine der erste Erinnerungen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben: Ich stehe – glaube ich – rechts neben meinem Vater, wir schieben Max gemeinsam (?) herunter auf ein Laufband, das sich in Richtung Müllverbrennungsanlage bewegt. Das hat sich noch nicht eingebrannt, wohl aber das Bild, das dann folgt: Max liegt auf dem Laufband, davor und danach anderer Müll, den die Düsseldorfer damals so hinunterwerfen.

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag: Max wird nicht wiederkommen. Da unten liegt er, unerreichbar für mich, unüberbrückbar weit weg, unumkehrbar fährt er in Richtung Müllverbrennung. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag, ein Gefühl wie ein Schlag in die Magengrube, ohne dass ich damals gewusst hätte, wie sich das anfühlt. Ich kann nicht weinen.

Plötzlich erinnere mich daran, dass mich meine Eltern immer wieder gefragt hatten, ob es wirklich in Ordnung ist, wenn wir uns von Max trennen und ich mehrfach bejahte. Ich fühle mich schuldig, vielleicht das erste Mal in meinem Leben. An die Rückfahrt kann ich mich nicht erinnern, aber ich stelle mir vor, dass ich nichts oder fast nichts sagte. Schweigen konnte ich schon immer gut – mein Vater ebenfalls. Meiner Erinnerung nach werde ich kein Wort mehr über Max verlieren.

Wenn Besuch kommt und fragt: „Wo ist Max?” bin ich froh, dass meine Mutter oder mein Vater antwortet. „Den haben wir weggeworfen“, sagen sie unbekümmert.

Typische „good news“ 2024 Style:

Russland ist nicht mehr in der Lage Assad zu stützen und Aleppo steht kurz vor dem Fall und zwar in die Hände des IS.

Gedankensumpf

Zieht man eine Erinnerung aus dem Sumpf der Gedanken hoch – also wirklich konzentriert, mit allen Details – kommen andere mit. Das passiert fast automatisch.

Dafür alleine lohnt es sich, finde ich, sich mit der eigene Biografie auseinanderzusetzen und sie aufschreiben. Das Universum der eigenen Erinnerungen ganz neu zu entdecken.

Dings

Oft glaube ich, dass mein Kopf voller Gedanken ist. Doch wann immer ich mich auf einen konzentrieren möchte, zerbröselt er oft wieder wie Sand zwischen meinen Fingern. Das bringt mich zu dem Gedanken: Vielleicht sind es gar keine echten Gedanken, vielleicht ist es vielmehr Gedankenmüll. Gedankenfetzen, grie­seliges Gedankenrauschen im Hintergrund, mehr Störgeräusch als zielgerichtetes Denken.

Und was ist eigentlich mit Gefühlen? Gefühle jenseits des tauben, dumpfen, alles überlagendernden ... Dings. Was ist es? Eine Mischung aus dumpfer Angst und Traurigkeit? Das Dings hat meine innere Gefühlsleinwand durchtränkt, jeden Winkel. Es klebt an allen anderen Gefühlen. Freude wird zu einem klebrigen Gefühl der Freude. Es hängt Dings dran.

Teil von etwas Größerem

Menschen haben das natürliche Bedürfnis, Teil von etwas Größerem zu sein, Teil einer Gemeinschaft. Doch die Angebote im Supermarkt des Lebens aus der Kategorie „Größeres“ haben sich um Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts immer weiter ausgedünnt.

Religionen und (Groß)familien sind vielleicht die ältesten Formen dieser Gemeinschaften, doch seit über hundert Jahren befinden sie sich auf dem Rückzug.

Das 19. und 20. Jahrhundert boten uns Ideologien als große Ersatzfamilien und Ersatzreligionen an. Die Idee der Großfamilie Nation aus dem 19. Jahrhundert, der Patriotismus, wurde durch den Nationalsozialismus und andere nationalchauvinistische Bewegungen so pervertiert, dass sie stark an Attraktivität verlor. Die andere große Ersatz-Familie und -Religion, den Sozialismus, hat es durch den Stalinismus und die anderen Pervertierungen ebenso hart getroffen.

Blieb noch der sich ebenfalls im 19. und 20. Jahrhundert zur vollen Blüte entwickelte liberale Fortschrittsglaube: Der Menschheit zu technischem und gesellschaftlichem Fortschritt zu verhelfen durch mehr Wohlstand – höher, schneller, weiter. Auch diese Ideologie bekommt deutliche Kratzer, weil sie zu lange verfolgt wurde, ohne auf unsere planetaren Grenzen zu achten – von natürlichen Ressourcen über Biodiversität bis zu klimaerhitzenden Emissionen. Das einst erhabene Gefühl, im Überschallflugzeug oder dem schnellen Sportwagen zu sitzen, kann für fühlende und denkende Wesen heute nur noch von einem schlechten Gewissen getrübt werden.

Was bleibt? Das, was schon immer da war: Die anstrengendste und zugleich bereicherndste Form der Verbindung – die authentische von Mensch zu Mensch, über Wahrhaftigkeit im direkten Gespräch. Echte Gemeinschaft. Der Weg dahin ist simpel und zugleich schwer: sich zunächst mit sich selbst (wieder) zu verbinden, ehrlich und furchtlos, um sich dann mit anderen verbinden zu können. Mit Offenheit, Verletzlichkeit, dem ganzen Paket der condicio humana – dem ganzen Paket existentieller Ängste.

Geduld

Liegt es an den Gedanken, den Gefühlen, den Genen oder doch dem Nervensystem? Geduld ist der Schlüssel zu so vielem. Geduld es herauszufinden, auf die Reise ins innere Universum zu gehen. Und Geduld ist so knapp geworden in Zeiten der Dauer-Dopamin-Dusche.