Losing my religion
Ich war ein seltsames Kind. Das stärkste Gefühl, an das ich mich aus meiner frühkindlichen Zeit erinnern kann, ist ein intensiver Gänsehautzustand, den ich zuverlässig reproduzieren konnte. Ich musste nichts anderes tun als mich irgendwo hinzusetzen – gerne wählte ich dafür die Toilette – und mir selbst, still nur in meinem Kopf zu sagen: Ich bin ein Mensch.
Ich bin ein Mensch, der sterben wird. Das Gefühl war so furchteinflößend intensiv, dass ich mich regelmäßig danach selbst beruhigen musste. „Es ist doch eigentlich ganz schön, ein Mensch zu sein“, sage ich mir dann zum Beispiel. Ich denke wahnsinnig viel über den Tod nach für ein vielleicht vierjährigen Jungen und habe das Glück, das meine Mutter behauptet, es gäbe einen Gott und einen Himmel für das Leben nach dem Tod. Ich glaube das, sie wird es schon wissen. Schließlich weiß sie ja auch sonst alles, was mir unerklärlich bleibt – beispielsweise wie Kleidung gewaschen wird oder Geld funktioniert.
Erst als ich in der Grundschule bin, vielleicht aber der dritten oder vierten Klasse, kommt mir der Gedanke: Was, wenn es Gott doch nicht gibt? Eine Schulfreundin von mir, Annika, glaubt nicht an Gott. Sie kommt aus einer atheistischen Familie. Als wir die Pflastersteine-Straße in Düsseldorf-Oberkassel am Steffenspielplatz entlang gehen, sagt sie: „Es gibt keinen Gott im Himmel, da fliegen die Flugzeuge.“ Das Argument finde ich so empörend doof, dass es meinen Glauben bestärkt. Umgeworfen hat mich nie der Zweifel der anderen, sondern letztlich mein eigener.
Für andere Kinder meines Alters spielt aber Religion meist ohnehin kaum eine Rolle. Für mich ist sie ein Fundament. Obwohl meine Eltern nie beten und das einzige Bild aus meiner frühen Kindheit einer Kirche die überfüllte Auferstehungskirche zu Weihnachten ist, wenn sich alle evangelischen Oberkasseler Familien für ihren jährlichen Kirchenbesuch herausputzen. Mein Vater, im Gegensatz zu allen anderen in unserer Kleinfamilie Katholik, bleibt dann zu Hause und kümmerte sich schon mal um die Geschenke, den Baum und das Essen. „Wenn beten helfen würde“, sagte er einmal, „dann sähe die Welt ganz anders aus, so viel wie die Katholiken beten.“
Kurzgesagt: Die Frömmigkeit war mir alles andere als in die Wiege gelegt und bis heute weiß ich nicht, ob mein Vater überhaupt an Gott glaubte. Aber mit folgenden einfachen Gedanken trieb ich mich selbst in eine für ein Kind der 1980er Jahren in einer westdeutschen Großstadt merkwürdige Frömmigkeit: Was sind schon 60 bis 90 Jahre hier auf Erden im Angesicht der Ewigkeit?
Also richte ich mein Leben nach Gott aus – unsichtbar für die Welt der Erwachsenen, die ihrem für mich unverständlichen Alltag nachgehen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich bete. Aber ich möchte gut sein, Gutes tun und schlechte Taten vermeiden. Ich lüge zum Beispiel nie. Und ich fragte meine Tante, die Pastorin ist, all die Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann. Warum, zum Beispiel, frage ich sie, gibt es schlechte Menschen, wenn Gott allmächtig ist? Gott möchte, so lautet ihre Antwort, dass die Menschen selbst darauf kommen, was gut ist. Ich finde die Antwort nicht überzeugend. Aber Zweifel an der Existenz von Gott löst das bei mir zunächst nicht aus.
Der neue Gedanke in der Grundschule, dass meinem Fundament ein Irrtum zugrunde liegen könnte, ängstigte mich. Und doch konnte ich ihn nicht verdrängen. Was, wenn Gott auch nur eine Version des Weihnachtsmanns für Erwachsene ist? Bei genauer, logischer und rationaler Betrachtung spricht doch einiges dafür, dachte ich immer häufiger. Zu Beginn noch zaghaft mit angezogener innerer Handbremse, später auf dem Gymnasium immer deutlicher.
Und irgendwann kam sie dann, die Gretchenfrage – ich weiß noch, wo und von wem sie mir gestellt wird: In der achten Klasse, nachdem ich das erste Mal sitzengeblieben bin, auf dem Weg vom Cecilien-Gymnasium zur Bahnhaltestelle. Von einem Schulfreund, Daniel, der von allen nur Arnuld genannt wird, weil er von einem Schulfotografen, der sich für alle Schüler Namen ausgedacht hat, so getauft wurde.
„Glaubst du eigentlich an Gott?” Ich weiß nichts von diesem Tag – nicht das Wetter, nicht was in der Schule passiert ist oder was er oder ich anhabe. Aber ich kann mich noch ziemlich genau an meine Antwort erinnern. Es ist eine sehr ehrliche Antwort, die sehr lange in mir gereift ist und die – so erinnere ich mich selbst daran – erst im Moment der Aussprach gegenüber einem Dritten fortan ganz und gar zu meiner Wahrheit wird, im Grunde bis heute:
„Ich wünschte, es gäbe einen Gott“, sage ich. „Ich glaube aber nicht daran.“
Noch nenne ich mich nicht Atheist, sondern Agnostiker und erkläre auch gleich in meiner etwas klugscheißerischen Art den Unterschied. Natürlich halte ich mir noch ein Hintertürchen offen.
Ich hatte mir also mein Fundament unter den Füßen weggerissen und stand inmitten der Pubertät ohne Wurzeln da. Was also blieb noch? Liebe natürlich! Von Liebe wusste ich allerdings nichts und das sollte noch scherzhaft lange so bleiben. Stattdessen suchte ich – unbewusst – das Nächstbeste.
Auch meine Biografie erschließt sich mir wie so viele in der Rückschau, als in der Zeit, als ich mittendrin stecke. Ohne es zu wissen, so glaube ich heute, eine Ersatzreligion. In der Spaßgesellschaft um mich herum beschäftigten sich alle mit purem Hedonismus, meist phantasiertem Sex, Party, Auschweifungen, Bravo-Foto-Lovestorys, Mode.
Als Ersatzreligion suchte ich mir das Uncoolste, das meine Position als Außenseiter sicher zementierte, einbetonierte. Es begann ganz harmlos, ich glaube in der siebten Klasse. Die linke Seite eines Schulheftes, es mag das Deutsch-Heft gewesen sein, die für Korrekturen vorgesehen war, kritzelte ich voll. Überschrift: „Zum Thema links liegen gelassen.“ Darunter Symbole des recht frisch untergegangenen Kommunismus: Hammer und Sichel, roter Stern, aber beispielsweise auch das Logo der PDS.
Rund sieben Jahre nach der deutschen Einheit und während Helmut Kohl ein zumindest im Westen immer noch satt-gemütliches Land regiert, beginne ich den damals unwahrscheinlichsten Flirt eines 14-jährigen Jungen aus Düsseldorf-Oberkassel: den Flirt mit dem Kommunismus.