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Das Leben ist manchmal eine Abfolge von miesen Entscheidungen. Es gehen einem die Spielzüge aus. Egal, wohin man seine Figur zieht, man landet in einer Ecke. Man kann nur noch reagieren, aber man ist nicht mehr frei in seinen Entscheidungen.

Irina, gespielt von Vita Smačeljuk, ist in Victim eine Spielfigur, die in einer Gesellschaft, die von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit und Korruption bestimmt wird, das Richtige tun will. Die Geschichte, die der Regisseur Michal Blaško erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. Sein erster Langspielfilm debütierte in Venedig, wurde auf Festivals sowohl in Hamburg als auch in Cottbus aufgeführt und schließlich schickte die Slowakei den Film ins Oscarrennen um den besten internationalen Titel.

Irina, alleinerziehende Mutter, ist mit ihrem Sohn aus der Ukraine in eine tschechische Kleinstadt gezogen. Wir erinnern uns, bereits vor 2022 gab es in der Ukraine Krieg. Sie versucht nun für sich und Igor (Gleb Kuchuk) eine Existenz aufzubauen. Auf den ersten Blick wirkt ihr Leben in dieser Fremde trist und prekär. Blaško beschönigt hier nichts. Er zeigt eine Welt, in der Armut auch wirklich Armut meint. In der halb verrottete Panelwohnungen genau das sind. Wo an den Rändern der Stadt die Zurückgelassenen, die Ausländer und die Roma leben.

“Victim” heißt “Opfer”, aber der Begriff kann für vielerlei stehen. Irina ist bereits in der ersten Szene in einer unverschuldet schwierigen Lage. Sie war in die alte Heimat gereist, um Unterlagen für die Behörden zu holen. Nun blieb ihr Bus an der Grenze hängen, weil ein anderer Bus liegen geblieben ist. So etwas kann Stunden dauern, die hat sie nicht. Scheinbar ist Igor, der Sohn, 13 Jahre alt und auf dem Weg ein Spitzensportler zu werden, Opfer eines Überfalls geworden. Er wurde übelst verletzt und liegt nun auf einer Intensivstation. Irina will also so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Bereits hier wird deutlich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten sind und wie äußere Umstände eine Figur behindern.

Igor liegt erst einmal im Koma. Die Ermittlungen laufen. Bevor die Polizei Informationen mit der geschockten Mutter teilt, soll sie ihren Aufenthaltsstatus belegen. Was sie wissen ist, dass Nachbarn bemerkt haben wollen, wie jemand weg gelaufen ist. Igor, als er aufwacht, benennt drei Roma-Jungen als Täter. Für die Polizei steht fest, dass diese aus der Nachbarschaft kommen. Die Nachbarn reagieren feindlich. Hier ist eine Randgruppe der anderen nicht wohl gesonnen. Irina spürt, dass die Hilfe und Solidarität, die sie auf einen Schlag erfährt, sich explizit gegen die Roma richtet.

Wer den Film ohne jede Kenntnis der Handlung und Entwicklung sehen möchte, sollte hier mit dem Lesen abbrechen. Der Regisseur behandelt jedoch keinen Kriminalfall, sondern eine moralische Parabel. Er weiht das Publikum in das, was wirklich geschehen ist, ein. Er macht das Publikum jedoch nicht zum Verbündeten, sondern schickt es durch eine Zwangslage nach der anderen. Irina ist die Figur, dessen Integrität zur Disposition steht und es gibt keinen Ausweg. Darum teilt die Handlung Igors Geheimnis mit der Mutter und dem Publikum. Seine Verletzungen sind so gravierend wie echt, aber er hat sie sich selbst zuzuschreiben. Es gab keine Täter. Als Irena dies erfährt, hat sich bereits eine Handlungskette in Gang gesetzt, in der ein Zurückziehen der Anzeige gegen unbekannt, keine Option mehr ist.

Nicht nur ihre Staatsbürgerschaftsprüfung steht auf der Kippe. Die Politik war sogleich bei Fuß und witterte die Möglichkeit zum Stimmenfang. Die Bürgermeisterin versprach ihr eine Neubauwohnung und die Sportkameraden des Jungen wollen sogleich eine Demonstration organisieren, um auf Missstände hinzuweisen. Irina weiß und das Publikum weiß, dass sowohl die eine als auch die andere Seite kein sauberes Spiel spielt. Irina muss jedem Versuch der Manipulation ausweichen und kann es doch nicht. Egal, was sie tut, und wenn es das vermutlich Richtige ist, ist eine Entscheidung unter dem Druck von außen.

Die erstarkende Rechte wittert ihre Chance, die Roma für alles verantwortlich zu machen. Die korrupte Politik will sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Die Beschuldigten stecken in einer sie unterdrückenden Justiz fest, die Ergebnisse feiern will, unabhängig davon, dass es keine Ermittlungsergebnisse gibt. Michal Blaško, der das Drehbuch zusammen mit Jakub Medvecký schrieb, arbeitet mit subtilen Hinweisen und knüpft ein realistisches Bild von den komplexen Strukturen unter denen die Mutter nicht nur für ein Leben ohne Lügen kämpft, sondern auch noch für ihren Sohn eine Zukunft sichern will.

Der Verleih Rapid Eye Movies hat “Victim” passend zum Internationalen Roma-Tag am 8. April, der auf deren Verfolgung und Diskriminierung aufmerksam machen will, in dieser Woche ins Kino gebracht. Die gesellschaftlichen und politischen Missstände, die “Victim” behandelt, könnten nicht aktueller sein.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oběť Regie: Michal Blaško Drehbuch: Michal Blaško, Jakub Medvecký Kamera: Adam Mach Montage: Petr Hasalík Mit Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil, Inna Zhulina, Alena Mihulová Slowakei / Tschechien / Deutschland 2022 91 Minuten Verleih: Rapid Eye Movies Kinostart: 6. April 2023 Festivals: Venedig 2022 / Hamburg 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #RapidEyeMovies

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Die Farbe des Gewandes, der Duft der Mandarinen, das Dunkel der Werkstatt der Dampf im Waschhaus, die Melodie der Straße. Das Blau des Kaftans der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani spricht unsere Sinne an, wir trinken von dem Blau, wir riechen das Orange, wir hören das Leben und all das zusammen berührt unser Herz.

Etwas aus der Zeit gefallen ist die kleine Schneiderei in einer der vielen Gassen Casablancas. Halim (Saleh Bakri) hat sein Handwerk noch von seinem Vater gelernt. Vielleicht war die Entscheidung, die Werkstatt zu übernehmen, nicht sein Herzenswunsch. Seinem Herzenswunsch kann er sowieso nicht immer folgen. Zusammen mit seiner Frau Mina (Lubna Azabal), die beiden sind kinderlos geblieben, versucht er nun einen Nachfolger für ein Gewerk zu finden, das scheinbar niemand mehr braucht. Bei ihm wird noch mit der Hand genäht und gestickt. Stolz spielt damit hinein, vielmehr hat man nicht. Schon so mancher Lehrling hat bei Halim und Mina schnell das Weite gesucht. Nicht so Youssef (Ayoub Missioui), er begreift die Sinnlichkeit, die in der Bewegung der Hände liegt.

Der blaue Kaftan, ein besonders edles und teures Stück, ist der rote Faden, der uns durch die Handlung führt, eine Lebensschnur. Geduldig arbeitet der Meister an dem Stück. Für eine reiche, schnippische Kundin, die den Preis nur zu zahlen bereit ist, weil das gute Stück ein Statussymbol sein soll. Die fordernde, vermeintlich fortschrittliche Kundschaft steht für das Morgen, das jedoch an den Regeln der rückständigen Gesellschaft und deren Ächtungen festhält. Halim lebt ein Doppelleben. Nicht aus freien Stücken. Was sein Herz begehrt, gilt faktisch als kriminell. Für diese Gesellschaft wäre er ein Ausgestoßener. Er liebt seine Frau und zeigt ihr das auch mit kleinen Gesten. Um sie nicht zu verletzen, nimmt er Rücksicht, versagt sich die kleinste Regung, wenn es den jungen Lehrling betrifft.

Maryam Touzani, die mit ihrem Debüt Adam, in der eine Bäckerin eine schwangere Frau aufnimmt, bereits ihren Stil gefunden hat, in dem sie die Entwicklung der Figuren sensorisch vermittelt und das Bild nach und nach öffnet, erzählt dieses Mal nicht von der Mutterschaft, sondern von der Liebe in all ihren Schattierungen.

Das Blau des Kaftans brachte sie, wie bereits Adam, nach Cannes, nach Karlovy Vary, nach Hamburg und Zürich, bis nach Toronto und Rotterdam. Ihr Blick ist dabei ein zurückhaltender, sie zeigt nicht alles. Sie gibt den Figuren Würde und Dauer. Die Liebe ist dabei das Hauptthema. Liebe ist Hingabe und Aufopferung, Liebe ist fest in sich ruhen und los lassen können. Mina, nicht frei von Eifersucht, kennt ihren Mann gut. Das Leben entgleitet ihr zunehmend und sie muss die Zeit nutzen, die in den sorgfältigen Stichen der nähenden Hand schier im Stillstand zu verharren scheint. Und er, der sich hin und her gezogen fühlt, die Arbeit gibt ihm Sinn und Halt, muss sie, die geliebte Lebensgefährtin ebenso los lassen. Die Liebe zu der Arbeit, mit geduldig feinen Stichen etwas zum Leben zu erwecken, ist dabei die Liebe, die Halim offen ausleben kann, die die drei Figuren und ihre Beziehung zu einander bindet und formt.

Das Blau des Kaftans, übrigens Marokkos Einreichung für den internationalen Oscar, ist keine Romanze. Romanzen sind wild und stürmisch. Ein Gefühl der ersten Begegnung und mit all der Unvernunft, die damit einher geht. Dieses Drama spielt sich still und leise im Verborgenen ab. Die wenigen Kunden, die die kleine Näherei noch hat, sind ungeduldig und oberflächlich. Touzani spricht die an, die geduldig auf die Sprache der Herzen reagieren und wahrnehmen, für was ein blauer Stoff steht und wie der Duft der Mandarinen die Welt bedeuten kann. Wie die Musik aus der Nachbarschaft für die Freude steht. Das Leben, das Halim trotzig in seiner Trauer feiert. Als Antwort auf das alles, was ihm und auch den anderen Figuren versagt wird. Das Blau des Kaftans ist zart. Der Stillstand, in dem sich Halim befindet, mag eine Herausforderung sein. Dabei ist das Titel gebende Stück Bild der Beständigkeit und eine Bestätigung, für alles, was sein kann.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Le bleu du caftan Regie: Maryam Touzani Drehbuch: Maryam Touzani, Nabil Ayouch Kamera: Virginie Surdej Montage: Nicolas Rumpl Musik: Kristian Eidnes Andersen Mit Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui, Mounia Lamkimel, Abdelhamid Zoughi, Zakaria Atifi, Fatima Hilal, Mariam Lalouaz, Kholoud El Ouehabi, Amira Tiouli, Hanaa Laidi, Aymane El Oarrari, Ilyass El Ouahdani, Fouzia Ejjawi, Mohamed Naimane, Mohamed Tahri Joutey Hassani Frankreich / Marokko / Belgien / Dänemark 2022 124 Minuten Kinostart: 16. März 2023 Verleih: Arsenal Film Festivals: Cannes 2022 / Karlovy Vary 2022 / Toronto 2022 / Hamburg 2022 / Rotterdam 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #ArsenalFilm #Cannes2022

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Eine Liebesgeschichte, die keine sein darf, das ist der nigerianische Spielfilm “All the Colours of the World are Between Black and White”. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es alle Farben der Welt. Nigeria ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land auf dem afrikanischen Kontinent, es hat auch eine bedeutende Filmproduktion. Nicht annähernd so viele Filme aus Nollywood schaffen es in europäische Kinos wie beispielsweise aus Bollywood.

Babatunde Apalowo, der Regisseur dieser ruhig erzählten Geschichte, drehte zwar in seiner Heimat Lagos, lebt aber inzwischen in Großbritannien. “All the Colours” ist ein gelungenes Regiedebüt, der in Zwischentönen all die komplizierten Gefühlszustände seiner Protagonisten zu vermitteln weiß.

Dabei sollte es eigentlich eine Liebesgeschichte an seine Heimatstadt Lagos werden. Apalowo wollte eine Geschichte von einem Kurier erzählen, der unterwegs Fotos von seiner Stadt schießt. Der Regisseur wurde jedoch Zeuge einer Gewalttat. Gewalt ist in Lagos und in Nigeria Teil des Alltags, jedoch sah er, wie ein Kommilitone aufgrund seiner Sexualität von einem Mob gelyncht wurde. Queerness ist in Nigeria nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern wird mit langen Haftstrafen geahndet. So wurde aus einer Geschichte über eine Stadt auch eine Geschichte von ihren Bewohnern. Allerdings ist Apalowo, und da macht der Regisseur gar keinen Hehl draus, straight. Er versuchte trotzdem eine Liebesgeschichte zu erzählen, die zwischen zwei Männern verläuft. Das Gefühl des Liebens und der Zurückweisung, der Unsicherheit der eigenen Gefühle und der Selbstkenntnis und all dem dazwischen sind das Rückrad der Handlung.

Tope Tedela, der nicht nur in seiner Heimat ein renominierter Schauspieler ist, spielt Bambino. Bambino ist ein angesehener Nachbar in seinem Viertel. Er hilft aus, wo er kann, und auch finanziell reicht es zum Leben. Er lebt als Single und denkt gar nicht weiter darüber nach. Doch dann trifft auf Bawo, gespielt von Riyo David, der ihn fotografiert und mit dem er dann in der Stadt herumfährt, um gemeinsam für ein Fotoprojekt Aufnahmen zu machen. Die Kamera von Bawo bringt Bambino nicht nur dem Publikum näher. Doch in der rigiden gesellschaftlichen Haltung gegenüber gleichgeschlechtliche Avancen, braucht es einen Grund, damit sich zwei Männer berühren können, die sich bis dahin mit Blicken taxierten. Als Bambino einen Unfall hat, ist es Bawa, der ihn pflegt und damit Bambinos Selbstbild ordentlich ins Wanken bringt. Es geht in erster Linie um das Gefühl der Zuneigung und Anziehung und Apalowo bringt eine Nachbarin (Martha Ehinome Orhiere) ins Spiel, die sich zu Bambino hingezogen fühlt und dieses auch vermittelt. Nur kann Bambino dieses Gefühl nicht erwidern.

Apalowo vermeidet Klischees und setzt auf Stimmungen. Die Kamera unterstützt in Statik und Bewegung die Grundzüge der Charaktere der Figuren. Lagos als Stadt spielt immer noch eine der Hauptrollen in der Erzählung, wobei Apalowo und sein Partner an der Kamera, David Wyte (“Gbomo Gbomo Express”), einen möglichst realistischen Look anstrebten, auch um das Gefühl der Authentizität zu unterstreichen. Authentizität ist auch in der Handlung wichtig. Bambino kann sich den Zwängen nicht auf Kommando entledigen und er tut es auch nicht. Es tut weh, den beiden, das heißt eigentlich den drei Figuren zuzuschauen. “All the Colours” vermittelt die Stimmungen subtil, aber fühlbar.

Der Teddy ging in diesem Jahr, der reich an queeren Stoffen war, nicht nur in der Sektion Panorama, an diesen nigerianischen Film und ich hoffe, dass der Film auch einen weltweiten Einsatz bekommt. Das, was er zeigt, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen in Nigeria tabuisiert und strafrechtlich verfolgt werden, ist mit Abstrichen zum Glück nur noch auf eine kleine Anzahl von Ländern beschränkt. Die Gefühle, die die Figuren durchlaufen, kennen viele. Lieben und zurück geliebt werden, darum dreht es sich doch. Apalowos Film ist ein Aufruf, und durchaus auch politisch gemeint, diese Liebe, in welcher Farbe auch immer, zuzulassen und Empathie zu entwickeln.

Eneh

Originaltitel: All the Colours of the World are Between Black and White Regie: Babatunde Apalowo Mit Tope Tedela, Riyo David, Martha Ehinome Orhiere, Uchechika Elumelu, Floyd Anekwe, Ciroma Chukwuma Adekunle, Yusuf Olalekan, Bolaji Gelax, Emmanuel Adex, Oni Mercy, Emmanuel Oteikwu-Adah, Nurudeen Obi, Wilson Joseph Nigeria 2023 92 Minuten Auszeichnungen: Teddy für den besten Spielfilm auf der Berlinale 2023 Verleih: bisher kein deutscher Kinostart Coccinelle Film zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

#Filmkritik #Berlinale2023 #Spielfilm #OhneKinostart

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Pietro ist 11 Jahre alt, als er mit seinen Eltern den Sommer in den Bergen verbringt. Kinder leben dort gar keine mehr. Nur Bruno ist im gleichen Alter. Die Buben freunden sich an, nachdem Pietros Eltern die beiden zusammenbringen. Ihre Freundschaft wird ein Leben lang halten. Ihre Freundschaft ist eine, die auch lange Zeiten der Trennung überdauert.

Die Geschichte nach der Vorlage des gleichnamigen Romans von Paolo Cognetti erzählt von den Wendepunkten im Leben von zwei Kindern bis hinein in ihre Lebensmitte. Dabei verlaufen die Entwicklungen dieser Zwei teils parallel zu einander. Teils gehen beide Figuren ihren ganz eigenen, konträren Weg. Immer aber beeinflusst das Leben des einen das des anderen.

Pietro (Lupo Barbiero spielt das Kind, Andrea Palma den Jugendlichen und Luca Marinelli den Erwachsenen) ist ein Stadtkind. Auf den Wiesen und zwischen den Bergen blüht er auf. Die Natur sieht er als Gegenstück zur hektischen, luftverschmutzten Stadt an.

Bruno (Cristiano Sassella spielt den 11-jährigen, Francesco Palombelli den Heranwachsenden und Alessandro Borghi den Älteren) kennt nichts als die Berge. Schon von klein an muss er auf der Alm mit anpacken. Die Freundschaft der Beiden ist vollkommen und vollkommen unschuldig. Ein Riss tut sich auf, als sich die Eltern von Pietro darum bemühen, Bruno die gleichen Möglichkeiten zu geben, die ihr eigener Sohn hat. Sie würden ihn aufnehmen, mit in die Stadt holen, damit er dort zur Schule gehen kann. Pietro fühlt instinktiv, dass Bruno in der Stadt nicht mehr derselbe wäre. So als würde ihn die Stadt verderben. Dazu kommt es nicht. Das Verantwortungsgefühl der Eltern für den zweiten Jungen ist das eine. Aber ist es die richtige Entscheidung? Ist Pietro egoistisch, wenn er sich sträubt? Zumindest diese Entscheidung wird von jemand ganz anderem getroffen werden. Die Wege der Beiden trennt sich daraufhin auf viele Jahre.

Es ist Pietro, der diese Geschichte erzählt. Pietro, der seinen Platz im Leben nicht findet. Zu einem Zeitpunkt der Trauer begegnet er Bruno wieder und ihre Freundschaft ist jetzt eine andere. Gemeinsam bauen sie in den Bergen eine Hütte, die für viele Jahre ihr gemeinsamer Ort der Begegnung wird. Dieser Ort in den Bergen ist die Konstante des Spielfilmes von Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch. Van Groeningen hatte mit The Broken Circle seinen internationalen Durchbruch. Und auch Acht Berge hält Tragik und Melodram bereit. Während Pietro hinaus in die Welt zieht, immer auf der Suche, immerzu rastlos, bleibt Bruno an dem einen Ort, wo seine Kindheit ihn verankert hat. Er will weder irgendwo anders sein, noch sich auf neue Begebenheiten einlassen.

Was ist nun der bessere Lebensweg? Veränderung oder Verharren? Was verliert man, wenn man sich für das eine, was, wenn man sich für das andere entscheidet? Indem das Publikum beide Lebenswege parallel verfolgt, kann es beide Seelen erfühlen. Dass das Leben viel Schmerz bereit hält, versteht sich dabei von selbst.

Die Wendungen, die Eckpunkte sollen gar nicht verraten werden. Leicht könnte man Acht Berge auf die Beziehung der zwei Kinder bzw. Männer reduzieren. Das jährliche Zusammentreffen von zwei im Wesen so wortkargen Männern am immer selben Ort in der Wildnis weckt vielleicht auch Assoziationen zu anderen Filmen. Acht Berge lockt mit wunderschönen Naturaufnahmen und hält im Tempo immer wieder inne, verlangsamt sich, wartet und trottet dann weiter. Aber vielleicht will die Geschichte uns auch nur die Möglichkeit geben, darüber nachzudenken, wie sehr uns die, die uns nahe stehen auf unserem Weg beeinflussen und wie sehr wir ihre Geschichte mittragen auf unserem Lebensweg.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Le otto montagne Regie: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch Drehbuch: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch Vorlage: Paolo Cognetti Kamera: Ruben Impens Montage: Nico Leunen Musik: Daniel Norgren Mit Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Filippo Timi, Elena Lietti, Elisabetta Mazzullo, Cristiano Sassella, Lupo Barbiero, Andrea Palma, Francesco Palombelli, Surakshya Panta Italien / Belgien / Frankreich 2022 147 Minuten Kinostart: 12. Januar 2023 Verleih: DCM Festivals: Cannes 2022 / München 2022 / Around the World in 14 Films 2022 / Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #DCM #Cannes2022 #München2022 AroundtheWorldin14Films2022 #Sundance2023

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Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine Geschichte über das abrupte Ende einer Freundschaft. Banshees sind mythologische Wesen, weibliche Geister aus der “Anderswelt”, einer Welt, die für Menschen nicht sichtbar ist. Sie klagen und wenn sie erscheinen, zumindest im irischen Volksglauben, kündigt sich ein Tod an. Wer das Klagen der Banshees vernimmt, gerät nahe des Wahnsinns.

Pádraic Súilleabháin, gespielt von Colin Farrell, ist ein einfacher Mann und sicherlich nicht der hellste. Ihm genügt sein Leben auf der abgelegenen, fiktiven Insel Inisherin, er hat keine Ambitionen. Er arbeitet selbstständig in der Landwirtschaft und verbringt seine freie Zeit in der Wirtschaft. In der Regel und bisher traf er dort immer auf seinen besten Freund Colm Doherty (Brendan Gleeson). Es ist der 1. April als ihm Colm zuerst wortlos die Freundschaft aufkündet. Kein Aprilscherz, es ist Colm bitterernst und Pádric befällt immer mehr der Wahnsinn, weil er diese Entscheidung nicht versteht und folglich auch nicht akzeptiert und schon gar nicht respektiert.

“The Banshees of Inisherin” von Martin McDonagh ist keine Fortsetzung von “In Bruges” (“Brügge sehen… und sterben?”), auch wenn der irische Regisseur und Drehbuchautor, der zuletzt in den Staaten mit “Three Billboards Outside Ebbing, Missouri” erfolgreich war, sich der beiden Hauptdarsteller der Krimikomödie von 2008, Colin Farrell und Brendan Gleeson, bedient.

Man könnte seinen neuen Film, der bereits für die OSCARS® hoch gehandelt wird und besonders Colin Farrells Nominierung in der Kategorie Schauspiel sollte als gesichert gelten, als Tragikomödie lesen. Das ist nicht falsch, doch ist dieser Film auch eine Parabel auf einen Bruderkrieg, auf den irischen Bürgerkrieg, auf den Krieg im allgemeinen.

Zeit der Handlung ist das Jahr 1923. Auf dem Festland in der Ferne herrscht Bürgerkrieg. Immer wieder verweist McDonagh auf das, was dort vor sich geht. Doch vielleicht lässt es sich dort besser leben. Immer mehr Einwohner der Insel verlassen diese. Die, die zurückbleiben, sollten doch in Eintracht leben können. Pádraic versteht die rigorose Ablehnung seines ehemaligen Freundes nicht und versucht die Freundschaft wieder ins Lot zu bringen. “The Banshees of Iisherin” handelt auch von der Vergeblichkeit dieser Bemühungen. Die gut gemeinten Anstrengungen von Pádraic lösen eine Kette von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Ereignissen aus.

Ursprünglich war die Vorlage ein Theaterstück. Martin McDonagh hatte bereits in den 90ern eine Theaterstück-Trilogie verfasst. “The Banshees of Inisherin”, als dritter Teil der “The Aran Islands Trilogy”, genügte seinen Vorstellungen nicht und so blieb das Stück in der Schublade. Wie wichtig die Zutaten für das Gelingen eines Stückes sind, beweist die Besetzung, die aus der Vorlage das Beste herausholt. Sturrheit, Verbissenheit, Verzweiflung, Unverständnis, Aufbegehren, Einsicht. All das liest man den Darstellern in der Mimik und Körperhaltung ab.

Brendan Gleeson spielt den Mann, der plötzlich Ambitionen hegt. Er möchte für seine Geige Musik komponieren und der Welt etwas hinterlassen. Man solle sich an ihn erinnern. Colin Farrell spielt den Mann, der keine Talente außer seiner Loyalität besitzt, der stets das Richtige tun möchte und das nicht immer schafft. Beiden Männern wohnt eine stille Wut inne, die ihnen keinen Ausweg bietet. Ganz anders reagiert Pádraics Schwester Siobhán, gespielt von Kerry Condon, die zuerst als Brücke zwischen den zwei Männern fungiert, die stets Harmonie und Geborgenheit ausstrahlt. Sie ist eine selbstbewusste Frau, die entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen. McDonagh flechtet in das Stück die Frage ein, ob ein Mensch der ist, der er ist, oder ob seine Taten ihn bestimmen. Und er stellt auch die Frage, ob die Charakterzüge eines Menschen oder seine Talente wichtiger sind. Oder ob diese Fragen uns überhaupt weiterbringen.

Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine düstere Komödie über zwei wortkarge Kontrahenten und ihrer Marotten. Man fühlt mit beiden Figuren und möchte doch nicht in ihrer Haut stecken. Die Handlung wird nicht von der Komik bestimmt, sondern zeichnet sich durch ihre Absurditäten aus. Die karge Landschaft zeugt von einer depressiven Grundstimmung, die Nährboden für die hier angerissene Verzweiflung ist. Die Sinnlosigkeit jedes Streites, die ihm zugrunde liegende Toxizität, die quasi unausweichliche Eskalation, die immer weiter von all dem abrückt, was man noch verstehen könnte, um zu einer Lösung zu gelangen, ist Gegenstand dieses sehr klugen und vielschichtigen Filmes mit historischen Bezügen. “The Banshees of Inisherin” ist großes Kino und vielleicht jetzt schon einer der schönsten Filme des jungen Jahres.

Eneh

Originaltitel: The Banshees of Inisherin Regie: Martin McDonagh Mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon, Barry Keoghan, Pat Shortt, Gary Lydon, David Pearse, Sheila Flitton, Bríd Ní Neachtain, Jon Kenny Großbritannien / Irland / USA 2022 114 Minuten Verleih: Walt Disney Studios Kinostart 5. Januar 2023 Festivals: Venedig / Toronto / Zürich / Hamburg

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#Filmkritik #Filmjahr2023 #Spielfilm #WaltDisneyStudios

© Eneh