Ein Bericht – Tag 1 und Tag 2
Eine Reise zweier neurodivergenter Menschen mit sehr kaputten Reizfiltern nach Paris. Im Februar. Kann das gut gehen? Macht das Spaß? Oder floss Blut? Steht Paris noch?
Bevor ich diese Fragen beantworte, erst einmal die Vorgeschichte:
Vor etwa zwei Monaten sagte meine Liebste: „Schau mal, wir müssen nur noch eine Hotelübernachtung bis Februar auf der Plattform „hotelbuchungen.com“ (die Plattform heißt in Wirklichkeit anders) buchen, dann bekommen wir den Supergast-Status Level 3! Wie wäre es, wenn wir für ein paar Tage nach Köln fahren? Museen und so, das wird sicher toll!“
Nun, Köln im Spätwinter entpuppte sich beim nähren Nachdenken als eher unsexy. Aber hey, wir waren schon lange nicht mehr in Paris gewesen! Außerdem ist Paris viel größer, schöner und hat viel tollere Museen! Und es ist schneller und sicherer zu erreichen als Köln, weil wir mit dem TVG fahren. Der ist immer pünktlich. Im Gegensatz zur Deutschen Katastrophenbahn, wo wir wegen Feuchtigkeit auf den Gleisen (nicht wirklich, aber ähnlich albern) schon mal fast sechs Stunden von Köln nach Trier unterwegs waren.
Wie wir in diversen Reiseblogs lasen, wurde eine Reise nach Paris im Februar als super toll angepriesen, denn das sei der Monat mit den wenigsten Touristen, was kaum Warteschlangen vor den touristischen Hotspots bedeute und eine viel entspanntere Atmosphäre garantiere. (Haha. Aber dazu später...)
Meine Liebste ist bei uns die Reiseplanungsbeauftragte, das ist eines ihrer Spezialinteressen und wohl mit ihre überragendste Superkraft. Ich hingegen fuchse mich in die Stadtstruktur ein, finde so verborgene Juwelen, erarbeite die geschichtlichen Hintergründe und bin ansonsten ein angenehmer Reisegenosse. Meine Liebste fand heraus, dass das von uns ausgesuchte Hotel auf dieser Buchungsplattform sehr viel teurer als bei der Direktbuchung, womit sich unser Supergast-Status Level 3 erledigt hatte. Egal, wir waren angefixt und wollten raus, was erleben.
Reisevorbereitungen sind bei uns eine komplizierte Sache. Es gibt zweierlei Reisevorbereitungen: Zum einen die Organisation, also die Reservierungen, das Herausfinden von Öffnungszeiten und die Buchungen von Zeitfenstern zum Besuch von Museen, Denkmälern usw.
Und es gibt die innere Reisevorbereitung. Das beinhaltet das Schwanken zwischen „Das wird alles ganz toll, oh was freue ich mich!“ und „OMG, wir sind doch völlig bescheuert! Wie kamen wir bloß darauf, wegfahren zu wollen! Und das auch noch im Februar! Was ist, wenn das Wetter scheiße ist? Oder wenn irgendwas schief läuft?“. Außerdem ertrage ich es nicht, wenn ich von einer Reise nach Hause komme und das Haus ist unordentlich. Also steht vor dem Abfahrtstermin eine gigantische Putzorgie auf dem Plan. Ja, ich weiß, es klingt vermutlich sehr bescheuert, aber ich brauche die Gewissheit, dass alles in Ordnung ist, wenn ich zurück komme. Je näher der Termin rückt, desto intensiver wird die Anspannung und das Wechselbad der Gefühle – bis... bis wir endlich unterwegs sind und keine Überraschungen mehr befürchten müssen.
Wir haben uns im TGV die erste Klasse gegönnt. Der Aufpreis dafür ist im Vergleich zur Deutschen Katastrophenbahn lächerlich gering, der zusätzliche Komfort aber unbezahlbar. Es ist recht ruhig, man hat Platz und man kann sich zwischen den ganzen Geschäftsfuzzis hinter ihren Laptops wichtig fühlen. Mit 315 km/h durch die Champagne zu donnern ist schon ein tolles Erlebnis!
Als Unterkunft in Paris haben wir uns für ein einfaches Hotel im Zentrum des Stadtteils Belleville entschieden. In Belleville hatten wir in einem früheren Urlaub schon mal gewohnt und wir haben uns in diesen Ort verliebt. Die Gentrifizierung ist noch nicht weit fortgeschritten, hier wohnen also noch „echte“, alteingesessene Menschen, es gibt zwei große Parks, viele kleine tolle Geschäfte, Streetart, Kneipen, Restaurants, Cafés und vor allem: Es gibt hier kaum etwas, was Standard-Touris interessiert. Nur ein paar Meter von unserem Hotel befinden sich eine Bushaltestelle und eine Metrostation. Prima!
Das Hotel war dann wirklich ganz okay, es war wie gesagt einfach, aber sauber, die Matratzen waren perfekt und das Bad war frisch renoviert. Die Heizung funktionierte und ein simples Frühstück mit so viel Kaffee wie man wollte gab es auch. Unser Zimmer ging raus auf die Kirche, ein etwas heruntergekommenes, schmutzig-graues, neogotisches Ding mit zwei Kirchtürmen und einer schepprig klingenden Glocke, die gottseidank die meiste Zeit nicht bimmelte.
Nach dem Einchecken sind wir dann als aller erstes zur frisch sanierten Kathedrale Notre Dame gefahren. Meine Liebste ist Kunsthistorikerin, sie sabberte bereits vor freudiger Erwartung. Bei unseren bisherigen Paris-Aufenthalten hatte wir die Kathedrale nicht besucht, aber nach dem Brand und der Sanierung gab es diesmal keinen Weg daran vorbei.
Also ab in die U-Bahn-Linie 11. War die beim letzten mal auch so höllisch voll? Selbst zu Zeiten außerhalb des Berufsverkehrs? Wie stressig. Ich liebe das Fahren in einer U-Bahn, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es sooo laut war, die Menschen soooo hektisch und die Wägen soooo gerammelt voll waren!
Gestresst kamen wir auf der Ile de la Cité an und hier erlebten wir die ach so ruhige und entspannte Atmosphäre von Paris mit wenigen Touristen im Februar. Polizei. Überall Polizei. Teils schwer bewaffnet, teils die öffentliche Ordnung alleinig durch einen besonders grimmigen Gesichtsausdruck sichernd. Polizist*innen patroullierten in Gruppen, fuhren auf Motorrädern umher, saßen in Mannschaftsbussen oder blockierten die Straßen. Großes Tatütata (auf französisch klingt das Tatütata wie Düddledü-Düddledü). Später wurde klar, warum da so ein Geschiss gemacht wurde. Ein Staatsbesuch.
Die „wenigen“ Februar-Touristen entdeckten wir dann auf dem Kathedralenvorplatz. Eine zig hundert Meter lange Schlange mit zig hunderten, wenn nicht sogar tausenden Menschen wand sich quer über den Platz und wuchs dabei in rasanter Geschwindigkeit. Alle warteten auf ihren Einlass in Notre Dame. Daneben gab es eine deutlich kleinere Schlange. Die war für die Leute, die ein Zeitfenster im Internet ergattern konnten. Also für so Leute wie wir, denn meine Liebste hat in einem heroischen Akt tatsächlich ein üblicherweise ausverkauftes Zeitfenster geschossen. Yippie! Trotzdem mussten wir erst einmal an der Sicherheitskontrolle vorbei. Taschenkontrolle, Schnellabfertigung, in die Kathedrale hineingetrieben, eng an eng mit Menschen aus allen Herren Ländern, als Teil einer amorphen, sich durch die Kirche schiebenden Walze bestehend aus tausenden von Leibern. Habe ich das Wort Stress eigentlich schon geschrieben? Ja? Zurecht. Trotz Ohrenstöpsel, die uns vor dem schlimmsten Lärm abschirmten.
Ich ertrage keine Enge, mit zufälligen Berührungen durch fremde Leute habe ich ein großes Problem. Vor allem, wenn ich eh schon gestresst und überreizt bin. Nach wenigen Minuten, in denen ich einen Blick auf das nun wundervoll in fast weißem Kalkstein erstrahlendem Gebäude werfen konnte, wollte ich nur noch schreien und um mich schlagen. Mein Sichtfeld verengte sich, jeder Muskel in meinem Körper war angespannt und mir wurde schwindelig vor Wut. Ich musste da raus – sofort! Ein beginnender Meltdown. Höllehöllehölle!
Draußen atmete ich erstmal durch, versuchte herunter zu kommen und wartete auf meine Liebste, die dann auch bald eben so gestresst (ja, schon wieder dieses Wort!) aber auch sehr glücklich aus der Kirche kam. Wir beratschlagten kurz, wie es nun weiter ginge und wir beschlossen, so schnell wie möglich dem stressigen Gewusel und der immer noch herumlärmenden Polizei zu entfliehen... (Das wars jetzt erstmal mit dem Wort „gestresst“, versprochen!)
Hunger. Wir entdeckten unseren Hunger. Er war sehr groß. Außerdem begann es zu dämmern und zu schiffen. Wir kamen an einem ruhigen, winzigen asiatischen Restaurant vorbei, in dem ein kleines Buffet aufgebaut war, von dem man so viel essen konnte, wie man wollte. Die Speisen waren nicht warm, dafür standen mehrere Mikrowellengeräte bereit. Sowas habe ich noch nie gesehen, aber ich fand es lustig und das Essen war sogar sehr lecker und günstig.
Etwas im Bauch zu haben und die Ruhe halfen mir, ich fühlte mich bereit noch etwas zu erleben. Wie zufällig stand da das Centre Pompidou in der Nähe herum, dieses auf links gedrehte Museumsgebäude für moderne und zeitgenössische Kunst. Darin war ich erst ein mal in meinem Leben, als Kind, vermutlich etwa 1980. Damals hat mich nicht nur das Gebäude beeindruckt, sondern auch die dadaistischen Kunstwerke, die ich als kopfchaotisches Kind mit eingebauter assoziativer Denkweise offenbar intuitiv verstand und sofort liebte.
Und hier hatten wir den ersten Paris-Moment für diesen Urlaub. Eine Mischung aus Begeisterung, aus Staunen und einem dauerhaften Grinsen im Gesicht. Es begann bereits auf der außerhalb der Fassade entlangführenden Rolltreppe. Je höher wir kamen, desto fantastischer der Blick über die Stadt. In der Ferne, nebelverhangen, strahlte der illumierte Eiffelturm sein Leuchtturmleuchten in die tiefhängenden Wolken, und ganz rechts ragte der Hügel Montmatre mit seiner kitschigen Zuckerbäckerkirche aus der Dunkelheit hervor. Zusammen mit den retrofuturistisch rot beleuchteten Rolltreppenröhren des Kunstmuseums löste dieser Ausblick bei uns eine fast schon surrealistische Stimmung aus. Apropos Surrealismus. Leider haben wir die große Surrealismus-Sonderausstellung um wenige Tage verpasst. Schade. Aber wir hatten trotzdem großen Spaß, sowohl mit den hochkarätigen Kunstwerken (die wir genossen, aber einfach nicht ernst genommen haben) als auch mit dem Beobachten der kulturbegeisterten Besucher*innen (die die Kunstwerke mit sehr gewichtigem Gesichtsausdruck und unangemessenen Ernst betrachteten). Übrigens waren viele Besuchende ihr eigenes (dadaistisches) Kunstwerk. Ich schätze, das waren Angehörige der örtlichen Modeindustrie oder solche, die sich ihr streng verpflichtet fühlen…
Sehr glücklich, aber physisch und psychisch völlig am Ende und bereits wieder mit einem Tunnelblick gings per Metro zurück zum Hotel nach Belleville. Sowohl in der Metro als auch in Belleville pulsierte trotz vorgerückter Stunde noch das Leben. Gehörschutz – so wichtig! Gegen zu viele optische Reize hilft nur Augen zu. Was aber nicht immer machbar oder sinnvoll ist, wenn man sich in einer Großstadt bewegt… Die mitgebrachten CBD-Fruchtgummis sorgten dafür, dass wir innerlich herunterfahren und schlafen konnten.
Fazit Tag 1: Bereits das frühe Aufstehen, die Aufregung, die Anreise kosteten uns einige Löffel. Der Besuch von Notre Dame und mein beginnender Meltdown saugte mir meinen Akku komplett leer. Die Energie für den tollen Museumsbesuch haben meine Liebste und ich uns vom folgenden Tag geliehen. Das geht. Und vor allem geht es grandios in die Hose, wenn man am nächsten Tag was vor hat und nicht ausreichend regenerieren kann oder will.
Tag 2.
Der Tag begann viel zu früh mit dem betörenden Duft von frisch gebackenem Brot und heißen Crossaints. Ganz in der Nähe gibt es eine Bäckerei, die das gesamte Viertel allmorgendlich beduftet. Natürlich konnte ich nicht mehr schlafen (mein Schlaf ist natürlich dann gestört, wenn ich ihn am meisten brauche) und beobachtete und lauschte statt dessen, wie das Viertel langsam erwachte. Das kleine Café hatte bereits vor 6:00 Uhr in der Früh geöffnet und in der Dunkelheit saßen die ersten Gäste an den Tischen an der Straße und tranken ihren Kaffee und rauchten dazu sehr klischeehaft eine Zigarette, bevor sie von dem Loch im Gehweg mit dem Schild „Metro“, verschluckt wurden. Ja, in Frankreich wird immer noch viel geraucht. Lastenradfahrer*innen fuhren Waren aus oder ihre Kinder in die jeweiligen Lehr- oder Verwahranstalten, die Stadtreinigung tat ihr Bestes, und das sogar mehrmals.
So ganz fit war ich nicht, das merkte ich ziemlich schnell. Denn auch die drei Tassen Kaffee beim einfachen Frühstück im eher schlicht und sachlich gehaltenen Frühstücksraum vertrieb nicht die Müdigkeit und auch nicht die Schwere in den Gliedern. Ja, kein Wunder, denn gestern war alles zu viel und der Schlaf war zu wenig.
Auf dem Plan für den Tag stand die Sainte-Chapelle, ein hochgotisches Wunderwerk das vor allem aus bunten Fenstern besteht. Früher war sie die Kapelle der königlichen Residenz auf der Ile de la Cité Aus der königlichen Residenz wurde später nach vielen Umbauten der Justizpalast, ein heute schwer gesicherter, aber auch ein traurig abgeranzt-vergammelter Ort. Doch wir hatten noch Zeit, meine Liebste ergatterte eine Eintrittskarte für um 12:00 Uhr.
Wir beschlossen, durch Belleville zu schweifen, bewunderten die Käseläden, sabberten vor den Fischläden, bestaunten die wirklich schönen Wandmalereien (aka Streetart) und fanden eine Kreuzung, an der man von der Rue de Belleville den Hügel herab über die Stadt bis zum Eifelturm schauen kann, der hinter dem Dunst und dem Morgennebel der Stadt wie eine unwirkliche, fremdartige Landmarke über der Dachlandschaft hervorragte.
Durch kleine Wohnstraßen schlendernd strebten wir zum Parc de Belleville. Bevor die Stadt Paris zu ihrer heutigen Größe explodierte, wurde an den Hängen des Hügels, der heute teilweise bebaut, teilweise der Park ist, Wein und Obst angebaut. Später lebte hier die aufsässige Arbeiterklasse, vom Bürgertum und der reaktionären Regierung argwöhnisch beobachtet, und hier wie im Parc des Buttes Chaumont fand die unvergessene Pariser Kommune, der erste Versuch einer sozialistischen Gemeinschaft, in einem gnadenlosen Gemetzel ihr trauriges Ende. Daran erinnert heute nichts mehr.
Der Park ist hübsch angelegt, wir hatten von der obersten Terrasse eine phantastische Aussicht über die Stadt – und auf eine Gruppe von etwa zehn älteren Damen aus Asien, die zu asiatischen Popsongs eine nur für sie einen Sinn ergebende Choreographie tanzten und uns ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Nicht nur die tanzenden Damen bevölkerten den kahlen, winterschlafenden Park, sondern auch ein paar Grüppchen Jugendliche. Ich vermute, sie repräsentieren die inoffiziellen französischen Freiluft-Coffeeshops, wo man dubiose Kräuter erwerben und gleichzeitig konsumieren kann…
Bis hier hin liest es sich, als hätten wir einen sehr erholsamen und entspannten Vormittag gehabt, nicht wahr? Stimmt. Aber das ändert sich genau jetzt. Achtung, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werde ich wieder sehr oft das Wort „Stress“ in all seinen Formen und Ableitungen benutzen.
Nachdem wir den Park von oben nach unten durchschlendert hatten, trafen wir auf den Boulevard de Belleville, und dort fand gerade der wöchentliche Straßenmarkt statt. Ich liebe Märkte! Laute, bunte, wuselige Märkte, mit Menschen aus allen möglichen Kulturen, die ihre Waren anpreisen, feilschen, oder kaufen. Märkte, auf denen ich Obst, Gemüse oder auch tote Tiere sehe, deren Existenz mir bisher unbekannt war und über deren Eignung als Nahrung ich sehr skeptisch bin. Hier schieben sich alte Männer mit rot gefärbtem Bart aus Bangladesch durch die Menge, neben den in traditionelle Gewänder gehüllten Menschen aus Zentralafrika. Elegant für den Markt herausgeputzte ältere Pariserinnen beratschlagen sich mit jungen Frauen mit Kopftuch über die Qualität der Fische, während am Stand nebendran ein Verkäufer mit lautem Sprech-Singsang für seine Waren wirbt. Herrlich!
Bevor ihr euch nun fragt, wie ich als Mensch ohne nennenswerten Reizfilter eine solche Atombombe an Reizen „herrlich“ finden kann: nun, ich weiß was auf mich zukommt, daher weiß ich, wie ich in diesem Tsunami an Reizen schwimmen muss und ich weiß (meistens), wann ich da raus muss. Ich will es und ich entscheide mich dafür. Das genau macht den Unterschied zu Situationen, die ich nicht will und auch nicht beeinflussen kann. Aber mir ist bewusst, dass mich so ein Markt am Ende enorme Energie kostet. Ein hoffentlich treffendes Gleichnis: Ein Mensch kann unter Wasser nicht lange überleben. Aber man kann mit angehaltener Luft tauchen und die Fische im Wasser beobachten. Wenn die Luft verbraucht ist und die Lunge schmerzt, ist man gezwungen zum Atmen aufzutauchen...
Also habe ich meine Liebste angeschaut, sie nickte. Gehörschutz in die Ohren und los, sich treiben lassen, gucken, riechen und staunen. Mittendrin drehte ich mich nach ihr um. Oh je, sie sah bereits enorm angestrengt und gestresst aus und bald darauf machte sie Zeichen, dass es ihr zu viel wird. Gut, dass wir eh schon fast am Ende des Marktes angekommen waren. Als wir uns etwas abseits ohne Gehörschutz unterhalten konnten, spürte auch ich, dass das auch mir schon fast zu viel war. Ich habe mich überschätzt, vergessen, dass ich mit zu wenig Schlaf und einem Energiedefizit in den Tag gestartet bin. Mist.
Nirgends gab es eine wirklich ruhige Ecke, der Verkehr auf dem Boulevard toste, Presslufthämmer, hupende Autos, Motorräder, überall Menschen. Außerdem meinte meine Liebste, dass wir nun langsam los zur Sainte-Chapelle müssten. Also eine Bushaltestelle finden. Wieder Stress. Wo sind wir überhaupt, und warum funktioniert das scheiß GPS nicht ordentlich? Ah. Hier sind wir. Jetzt links rein in eine belebte Seitenstraße, dort sollte eine Bushaltestelle sein, sagte die Pariser ÖPNV-App. Menschenmassen, blinkende Lichter, Läden, Gesprächsfetzen und laute Musik, und nach hunderten Metern Slalomlauf endlich die Bushaltestelle. Meine Liebste sah inzwischen zutiefst verzweifelt aus, ergatterte einen Sitzplatz im Wartehäuschen und versuchte sich herunterzuregulieren. Ich spürte, wie verspannt meine Schultern waren, atmete bewusst und versuchte meinen Stress und die Anspannung fallen zu lassen. Erfolglos.
Das wäre nun der Punkt, an dem wir dringend einen Park, ein ruhiges Cafe, notfalls eine stille Kirche gebraucht hätten. Statt dessen saßen wir im Bus zur Ile de la Cité. Im Stau. Um uns hupten genervte Menschen in ihren Autos, fest davon überzeugt, dass sich der Stau durch ihre Huperei in Wohlgefallen auflöst.
Auf die Sainte-Chapelle hatte ich mich mit am meisten gefreut. Dummerweise liegt sie unweit der Kathedrale Notre Dame, also im Epizentrum des touristischen Paris. Wie am Tag zuvor war alles voll mit schwerbewaffneter Polizei, Straßenzüge waren abgesperrt, Taschen wurden anlasslos kontrolliert. Blaulicht und „Düddledü-Düddledü, Düddledü-Düddledü, Düddledü-Düddledü“. Wieder ein Staatsbesuch? Kurz vor 12:00 Uhr fanden wir die Schlangen mit Menschen, die ebenfalls in die Saint-Chapelle oder in die Conciergerie wollten. Eine Reihe für Leute ohne gebuchten Timeslot, die andere Reihe für Leute, die wie wir ein Ticket gebucht hatten. Beide Schlangen etwa gleich groß. 12:00 Uhr. Es tat sich nichts. Um 12:15 Uhr standen wir immer noch in der selben Position draußen in der Kälte rum. Genau wie um 12:30 Uhr. Wir waren beide maximal genervt, niemand wusste, was oder ob etwas passiert. Dann endlich wurde die Absperrung für unsere Schlange geöffnet und wir durften zur Sicherheitskontrolle in einen hässlichen, kahlen Raum. Teils unfreundliches, teils gelangweiltes Sicherheitspersonal durchleuchtete unsere Taschen, ein Flughafen-Nacktscanner durchleuchtete uns.
Dann standen wir in einem der Innenhöfe des abgeranzten Justizpalastes und durften uns nun zur Ticketkontrolle anstellen. Das dauerte gottseidank nicht zu lange, und schließlich befanden wir uns im Untergeschoss der Kapelle, stiegen eine enge, steinerne Wendeltreppe hinauf und landeten inmitten einer lärmenden Menschenmasse. Glaubt mir, das war der Moment, an dem ich erneut kurz davor war auszurasten. Ich war eh schon sehr drüber, und nun wieder eingekeilt zwischen fremden Menschen, ohne Ruhe, ohne die Möglichkeit, sich hinzusetzen und die gigantischen Fenster und die Architektur auf sich wirken zu lassen. Ich konnte mich auf nichts mehr fokusieren, mein Sichtfeld verengte sich, mein Puls raste, ein beginnender Meltdown. Ich musste raus. So schnell wie möglich. 13 Euro Eintrittsgeld fürn Arsch. Draußen hätte ich fast angefangen zu heulen. Teils, weil mein Nervensystem komplett dereguliert war, teils aus Enttäuschung über die gesamte Situation.
Ich musste nicht lange auf meine Liebste warten. Auch sie war enttäuscht und völlig drüber, gemeinsam flüchteten wir aus dem Justizpalast, irgendwo hin, wo wir uns weniger Leute und weniger Lärm erhofften. An einen Ort, wo wir uns hinsetzen und runterkommen, vielleicht sogar was trinken und essen können.
Wenn wir beide unterwegs sind und nur eine Person drüber ist oder bereits schon im Meltdown, dann kann die andere Person die Führung und die Verantwortung übernehmen. Das hilft ungemein, so retten wir uns regelmäßig gegenseitig den Arsch. Wenn wir allerdings beide durch sind, kurz vor dem Meltdown stehen oder schon drin sind, dann ist das eine gefährliche Situation, weil niemand mehr einen klaren Kopf hat. Gefährlich, weil es sein kann, dass wir dann einen üblen Krach bekommen, der uns dann noch mehr in den Meltdown hinein reitet. Nicht selten bis zum Shutdown. Aber so weit kam es gottlob nicht. Im Quartier Latin, auf der „Schäl Sick“ von Paris, fanden wir ein nett aussehendes Café, in dem nicht viel los war. Ein sehr freundlicher Kellner begrüßte uns und auf der Sitzbank am Tisch neben uns schlummerte eine wuschelige Katze. Ein guter Ort. Durchatmen. Kaffee trinken. Was essen. Die übrig gebliebenen, verstreuten Lebensgeister zusammenrufen.
Normalerweise wäre das jetzt der Punkt, an dem vernünftige Leute merken, dass es genug ist und herausfinden, wie man am besten zurück zum Hotel kommt. Vernünftige Leute. Also nicht wir.
Denn ich hatte auf dem Weg zum Café eine Ruine gesehen. Aufsteigendes Mauerwerk, das ich als römisch identifizierte. Meine Liebste meinte lapidar, sie vermute, dass es sich um das Musée de Cluny handelt. Dieses ist in einem Palast im Stil der Renaissance, das an die erhaltenen römischen Thermen von Paris angebaut wurde, untergebracht. Das Musée de Cluny ist das nationale Mittelaltermuseum.
Römische Thermen. Renaissancepalast. Mittelalter. Jetzt ratet mal, wie wir uns entschieden haben? Richtig!
Nein, diesmal keine Schlangen. Die Sicherheitskontrolle bestand aus einem Blick in die Taschen. Das Museum war sehr gut besucht, aber nicht überlaufen.
Gute Museen machen uns glücklich. Fast so glücklich wie guter Sex. In diesem Fall strahlten wir vor Glück und hachten ohne Unterlass. Im Frigidarium, dem vollständig erhaltenen Kaltbadesaal der römischen Thermenanlage wurden die bei der Sanierung der Kathedrale Notre Dame aufgefundenen Figurenreste des mittelalterlichen Lettners ausgestellt. Wir hatten eine Doku darüber gesehen und waren äußerst entzückt, diese noch farbig gefassten Architekturreste live bewundern zu dürfen. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wunderschöne Kapitelle nicht mehr existierender Kirchen wurden zur Bewunderung präsentiert, so wie frühmittelalterliche Elfenbeinschnitzereien, überlebensgroße, romanische und frühgotische Jesuse aus Holz, die einst an einem Kreuz in Kirchen hingen. Eine Ursula-Reliquienbüste aus Köln. Berühmte, spätmittelalterliche Wandteppiche mit Einhörnern drauf (fragt meine Liebste, sie kennt sich damit aus), Gemälde, wunderschöne Buchmalereien, prächtige Buchdeckel, verziert mit Gold und Edelsteinen. Geht hin, wenn es euch interessiert und ihr in Paris seid! Dieses Museum ist eine großartige Schatzkammer!
Und wer sich jetzt freut und denkt „Ende gut, alles gut“, der hat die Rechnung ohne die Metrostation Chatelet gemacht. Chatelet ist ein Verkehrsknotenpunkt, ein irres Gewirr aus unterirdischen Gängem, aus Laufbändern und plötzlichen Abzweigungen. Hier mussten wir umsteigen. Das Licht ist extrem grell, die Ansagen brutal laut, die Menschenmassen hetzen teilweise im Dauerlauf, als ginge es um ihr Leben. Meine Liebste, bereits am Ende ihrer Kräfte, fing an zu zittern, blieb stehen, war kurz vorm weinen, konnte nicht weiter. Gottseidank, ich weiß nicht woher, hatte ich noch ein Notlöffelchen übrig und konnte sie sanft zur Linie 11 bugsieren, wo direkt ein leerer Zug einfuhr und uns bis kurz vor unser Hotel brachte.
Achja. Abendessen. Wir hatten gehofft, in das kleine, nette Bistro im Erdgeschoss des Hotels gehen zu können. Die Energie dafür hatten wir nicht mehr. Statt dessen habe ich meine Liebste aufs Zimmer geschickt und habe ihr ein hochdosiertes CBD-Fruchtgummi verschrieben. Ich Wahnsinniger bin dann noch in den Supermarkt um die Ecke und habe uns mit letzter Kraft Kleinkram zur Notversorgung organisiert. Ich muss sehr langsam gewesen sein und der Einkauf war skurril, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Danach fiel auch ich ins Bett.
Fazit Tag 2: Als ich mir eben meine Sätze durchlas, dachte ich spontan, dass wir eigentlich unglaublich bescheuert sind. Sind wir aber nicht, denn wir pendeln ständig zwischen dem wunderbaren Rausch des intensiven Erlebens und der Hölle der kompletten sensorischen Überreizung. Im Urlaub natürlich mehr als im Alltag. Aber auch Zuhause am Erdrand beschreibt das unser Leben...