
Wie oft hast du dir vorgenommen, etwas zu üben, bis es sitzt – und warst frustriert, weil sich kaum Fortschritte zeigten? In der Lehre erlebe ich oft, wie stark sich die Vorstellung hält, man müsse eine Aufgabe einfach immer wieder wiederholen, bis sie sitzt. Viele Lernende vertrauen darauf, dass reine Routine den entscheidenden Unterschied macht. Umso grösser ist die Irritation, wenn die Fortschritte trotzdem ausbleiben. Eine 2016 veröffentlichte Studie eines Forschungsteams der Johns-Hopkins-Universität stellt dieses verbreitete Bild des sturen Wiederholens ebenfalls infrage. Sie zeigt, wie das Gehirn auf feinste Veränderungen im Übungsablauf reagiert und weshalb genau diese Abweichungen den Lernfortschritt beschleunigen können.
Die Studie und ihre wichtigsten Ergebnisse
Die Untersuchung [1] von Nicholas Wymbs, Amy Bastian und Pablo Celnik zielte darauf ab, zu verstehen, wie motorische Fertigkeiten im Gehirn stabilisiert und erweitert werden. Zentral ist dabei ein Prozess, der Memory Reconsolidation genannt wird. Jede Erinnerung, auch die an eine motorische Fähigkeit, wird beim erneuten Abruf nicht einfach abgespult, sondern gewissermassen wieder geöffnet. Während dieser Phase kann sie verändert und dadurch gestärkt werden.
Um diesen Mechanismus zu untersuchen, liessen die Forschenden 86 Freiwillige eine neuartige motorische Aufgabe erlernen: Mit einer präzisen Fingerbewegung sollte ein Cursor auf dem Bildschirm möglichst schnell und genau in verschiedene Fenster gesteuert werden. Entscheidend war dabei die Kraftdosierung, die über ein kleines Gerät erfasst wurde. Die Teilnehmenden wurden in drei Gruppen eingeteilt, deren Trainingspläne sich gezielt unterschieden.
Eine Gruppe übte die Aufgabe zweimal am selben Tag im Abstand von sechs Stunden und wiederholte sie am nächsten Tag erneut. Eine zweite Gruppe erhielt ebenfalls zwei Übungseinheiten am ersten Tag. Für die zweite Einheit veränderten die Forschenden die Bedingungen minimal. Die benötigte Kraft wurde leicht angepasst. Eine Veränderung, die die Teilnehmenden meist nicht bewusst bemerkten. Die dritte Gruppe trainierte nur einmal pro Tag. Diese Kontrollgruppe sollte zeigen, ob allein die Häufigkeit des Übens oder die Art der Wiederholung entscheidend ist.
Das Ergebnis fiel deutlich aus: Die Gruppe mit den kleinen Veränderungen erzielte fast doppelt so grosse Lernfortschritte wie jene, die die Aufgabe einfach identisch wiederholte. Sie wurde schneller und präziser, obwohl der Aufwand derselbe war. Wer dagegen nur einmal täglich übte, schnitt spürbar schlechter ab als beide anderen Gruppen. Das zeigt: Bloss häufiger zu üben, reicht nicht. Die Studie zeigt also, dass die Reconsolidation nicht durch Wiederholung an sich, sondern durch gezielte, subtile Abweichungen aktiviert wird. Interessant ist auch, was nicht funktioniert: Werden die Aufgaben zu stark verändert, geht der Effekt verloren. Dann entsteht eher Verwirrung als lernfördernde Irritation.
Für mich liefert diese Studie einen klaren Hinweis darauf, wie flexibel das Gehirn ist, wenn es um die Weiterentwicklung bestehender Muster geht. Es braucht kleine Störungen der Routine, um neue Verbindungen zu bilden und alte zu stärken.
Drei Erkenntnisse für die Praxis
Für den eigenen Lernprozess lässt sich daraus einiges gewinnen. Zunächst zeigt sich, dass reines Wiederholen weniger wirksam ist, als viele annehmen. Das gilt nicht nur für motorische Abläufe. Auch beim Erlernen von Konzepten, beim Sprechen vor Publikum oder beim Lösen von Problemen profitieren wir von leichten Veränderungen im Vorgehen. Kleine Abweichungen regen das Gehirn dazu an, bestehendes Wissen zu überarbeiten und neu zu verknüpfen.
Ein zweiter Punkt betrifft das Timing. Die Studie bestätigt, wie bedeutsam Pausen für die Speicherung von Wissen sind. Zwischen einer ersten und einer zweiten Übungseinheit sollte genügend Zeit liegen, damit sich die neu gebildeten Spuren festigen können. Erst danach lohnt sich ein weiterer Durchgang – idealerweise einer, der nicht vollständig identisch ist.
Und drittens wird deutlich, dass Variationen den Transfer stärken. Wer immer unter denselben Bedingungen übt, wird zwar routiniert, aber oft nur in genau diesem Szenario. Sobald die Umgebung oder das Tempo wechseln, bröckelt die Sicherheit. Wer hingegen bewusst kleine Veränderungen zulässt, schafft eine Fertigkeit, die auch unter ungewohnten Umständen Bestand hat.
Diese Erkenntnisse lassen sich leicht in die eigene Lernpraxis integrieren. Sie verlangen keine aufwändigen Methoden, sondern lediglich die Bereitschaft, Routinen auch mal zu durchbrechen.

Ein Beispiel aus der Praxis: Einen kurzen Vortrag einüben
Damit die Idee greifbar wird, möchte ich ein einfaches Beispiel durchspielen. Angenommen, ich bereite einen kurzen Vortrag vor, den ich in wenigen Tagen halten werde. Ich beginne mit einem ersten Durchgang, in dem ich den Vortrag in normalem Tempo und möglichst realitätsnah durchführe. Ich achte darauf, dass alle zentralen Punkte vorkommen, und lasse den Vortrag danach ruhen.
Nach einer Pause von mindestens sechs Stunden starte ich den zweiten Durchgang. Nun baue ich eine kleine Variation ein. Ich könnte den Vortrag beispielsweise etwas schneller halten. Nicht übertrieben, sondern nur so, dass ich gelegentlich ins Stolpern gerate und spontane Entscheidungen treffen muss. Genau diese kleinen Unsauberkeiten helfen dem Gehirn, vorhandene Muster zu erweitern.
Beim nächsten Üben wähle ich eine andere Variation. Ich spreche bewusst langsamer und lasse mehr Pausen zu. Dadurch verlagert sich die Aufmerksamkeit auf Betonung und Rhythmus, und ich entdecke unter Umständen Stellen, die mehr Ruhe vertragen. Einmal übe ich nur den schwierigsten Teil, löse ihn aus dem Gesamtfluss heraus und setze ihn anschliessend wieder ein. Ein anderes Mal ändere ich die Umgebung: Ich stehe an einem anderen Ort, benutze einen anderen Laptop oder arbeite mit reduzierten Notizen. Jede dieser Varianten bleibt nah genug am Original, um den Lernprozess zu unterstützen, verändert aber genug, um neue Verbindungen zu schaffen.
Das Einüben wird dadurch nicht länger, aber wirksamer. Ich merke, wie der Vortrag stabiler wird, gerade weil ich ihn nicht immer identisch ausführe. Mit der Zeit entsteht eine Flexibilität, die mir Sicherheit gibt, auch wenn am Vortragstag etwas Unvorhergesehenes geschieht.
Fazit
Die Studie zeigt, dass #Lernen nicht durch mechanische Wiederholung entsteht, sondern durch Wiederholung mit feinen Abweichungen. Das Gehirn reagiert darauf, indem es bestehende Muster erneut öffnet und verstärkt. Variationen sind kein Störfaktor, sondern ein zentraler Bestandteil wirksamer Übung. Wer Pausen einplant, kleine Veränderungen zulässt und die Routine nicht als Voraussetzung versteht, steigert die Lernqualität deutlich – unabhängig davon, ob es um eine motorische Fertigkeit, einen Vortrag oder ein komplexes Thema geht. Die nächste Frage ist dann: Welche kleinen Variationen lassen sich in deine eigene Lernpraxis einbauen?
Fussnote
[1] N. F. Wymbs, A. J. Bastian und P. A. Celnik, „Motor Skills Are Strengthened through Reconsolidation“, Current Biology, 2016. https://doi.org/10.1016/j.cub.2015.11.066.
Bildquellen
Claude Monet (1840–1926): Variationen seiner Serie Les Meules; die Winter-Variante: Metropolitan Museum of Art, New York, Public Domain, die Sommer-Variante: Musée d’Orsay, Paris, Public Domain.
Disclaimer
Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.
Topic
#Erwachsenenbildung