Benannt nach dem englischen Philosophen Wilhelm von Ockham (engl. William of Occam), der mit seinem berühmten „Rasiermesser“ die Grundlage für eine elegante Wissenschaftsregel legte, ist „Ockhams Besen“ eine humorvolle und nachdenklich machende Ergänzung: anstatt die einfachste Erklärung zu wählen, werden hier störende Details beiseitegefegt. Dieser Ansatz erlaubt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und die ungelösten Fragen – zumindest vorläufig – aus dem Blick zu räumen.
Was ist Ockhams Rasiermesser?
Ockhams Rasiermesser gilt als eine der bekanntesten heuristischen Prinzipien der Wissenschaft. Es besagt, dass von verschiedenen Theorien zur Erklärung eines Phänomens die einfachste die plausibelste ist. Diese Denkweise dient als Leitfaden, um Hypothesen zu vereinfachen und jene zu bevorzugen, die ohne zusätzliche Annahmen auskommen. Doch so elegant Ockhams Rasiermesser ist, es vermag nicht jedes Rätsel der Forschung zu lösen. Hier kommt „Ockhams Besen“ ins Spiel, eine vom Molekularbiologen und Nobelpreisträger Sydney Brenner eingeführte Idee, die bewusst in eine andere Richtung weist.
Ockhams Besen: Ein „Anti-Denkwerkzeug“
Sydney Brenner, Mitentdecker der Boten-RNA (mRNA) mit unkonventionellen Ansätzen, formulierte das Prinzip von „Ockhams Besen“. Es beschreibt die bewusste Entscheidung, Fakten, die einer Theorie widersprechen, vorläufig zu ignorieren. Statt das Bild zu verkomplizieren, erlaubt Ockhams Besen, das Unerklärte erst einmal zu verdrängen und sich auf das Erklärbare zu konzentrieren: „Was unverstanden bleibt, fege man so lange unter den Teppich, bis es zu schwierig wird, auf ihm herumzulaufen. Dann hole man alles wieder hervor und fange von vorne an“ (NZZ).
Auch der Philosoph Daniel Dennett bezieht sich auf Ockhams Besen, indem er es als „Anti-Denkwerkzeug“ beschreibt. Es wird genutzt, um das analytische Denken auszubremsen und auf das Wesentliche zu fokussieren. Doch in dieser Verdrängung steckt eine zweischneidige Gefahr: Zuweilen kann die Ignoranz unbequemer Fakten wissenschaftlichen Fortschritt behindern und den Status quo stützen, anstatt ihn kritisch zu hinterfragen: „[Der Besen] glättet den Teppich gerade nicht, unter den er das Unerklärte fegt, aber er gibt auf jeden Fall den Blick auf ein sauberes Zimmer frei, in dem sich leben lässt, bis einen das Knirschen unter dem Teppich stört“ (NZZ).
Sydney Brenner und die „Don't Worry Hypothesis“
Der humorvolle Umgang mit komplexen wissenschaftlichen Fragen zeigt sich auch in Brenners „Don't Worry Hypothesis“ („Reg-dich-nur-nicht-auf-Hypothese“). Anstatt von der Unvollständigkeit von Theorien überwältigt zu sein, rät Brenner, pragmatisch zu bleiben und die offenen Fragen beiseitezuschieben, bis die Zeit reif ist, sich ihnen zu stellen. „Mit den schwierigen Fragen der Biologie“, so Brenner, „muss man so umgehen wie mit den Einkommenssteuern – nämlich alles tun, um ihnen aus dem Weg zu gehen“ (NZZ).
Brenner demonstrierte diesen Ansatz in seiner Forschung zur Boten-RNA (mRNA). Durch Experimente, die einzelne Hypothesen verifizierten oder falsifizierten, konnte Brenner einen Durchbruch erzielen, ohne die ungelösten Fragen zu seinem Thema sofort zu klären. Indem er sich auf das machbare #Wissen konzentrierte und sich nicht im Detail verlor, schuf er ein Modell, das das Verständnis der Molekularbiologie grundlegend beeinflusste. Diese pragmatische Methode veranschaulicht, wie Ockhams Besen sinnvoll eingesetzt werden kann, um zunächst Fortschritte zu erzielen, ohne das Unerklärte auszublenden.
Beispiele aus der Wissenschaft und dem Alltag
Ockhams Besen findet sich nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltag. Im wissenschaftlichen Kontext zeigt sich dieses Prinzip, wenn Forscher auf Daten stossen, die bestehende Theorien infrage stellen. Anstatt diese Daten in die Forschung zu integrieren, werden sie mitunter ignoriert oder beiseitegeschoben, um den Fortschritt nicht zu behindern. Solche Vorgehensweisen sind jedoch oft nur kurzfristig hilfreich. Das Risiko besteht darin, dass man langfristig auf einem Modell verharrt, das möglicherweise unvollständig oder gar falsch ist.
Im Alltag begegnen wir Ockhams Besen beispielsweise in Diskussionen, in denen bestimmte Fakten nicht in das eigene Argument passen und bewusst ausgeklammert werden. Man denke etwa an die Entscheidung, eine neue Wohnung zu beziehen. Ein Käufer, der den Lärmpegel als störend empfindet, mag diese Information „wegfegen“, um seine Entscheidung zu rechtfertigen. Doch wird das Problem später unüberhörbar, steht man vor einer Herausforderung, die man durch kritische Prüfung hätte vermeiden können.
Nutzen und Risiken von Ockhams Besen
Ockhams Besen ist mehr als ein pragmatischer Trick – er ist ein Dilemma. Während die bewusste Ignoranz störender Faktoren helfen kann, sich auf die Kernpunkte zu konzentrieren, kann sie auch in die Irre führen. Der Besen fegt Widersprüche beiseite und ebnet so den Weg für eine klare Vorstellung, die mit der Zeit immer mehr Fakten integrieren kann. Dennoch birgt diese Methode das Risiko, dass sich wichtige Erkenntnisse verschliessen, wenn Forscher sich nicht mehr die Zeit nehmen, das Widersprüchliche zu untersuchen.
Eine kluge Anwendung des Besens sollte also nicht in reiner Ignoranz enden, sondern als ein Mittel verstanden werden, das offene Fragen strukturiert und später wieder aufgreift. Wie Brenner betonte, ist Wissenschaft ein dynamischer Prozess, der sich kontinuierlich anpassen muss. Ein Forscher, der den Besen ohne Verstand schwingt, könnte sich letztlich in einem Konstrukt verlieren, das an wichtigen Stellen brüchig ist.
Drei Empfehlungen für den Alltag
Wie lässt sich die Idee von Ockhams Besen im Alltag produktiv und dennoch kritisch anwenden? Hier sind drei Empfehlungen:
Selektive Fokussierung statt blindes Ignorieren: Nutze den Besen bewusst, um dich auf die wichtigen Elemente eines Problems zu konzentrieren, ohne dich zu verzetteln. Behalte aber im Hinterkopf, dass die „verdeckten“ Fakten später aufgerollt werden müssen, um ein vollständiges Bild zu erhalten.
Kritisches Hinterfragen: Gerade bei komplexen Entscheidungen lohnt es sich, gelegentlich innezuhalten und zu überlegen, welche Argumente oder Fakten im eigenen Gedankengang fehlen könnten. Was hast du „unter den Teppich gekehrt“? Eine gesunde Portion Skepsis und Selbstkritik hilft, voreilige Schlüsse zu vermeiden.
Flexibilität bewahren: Die besten Entscheidungen werden getroffen, wenn wir bereit sind, neue Informationen zu berücksichtigen und unsere Ansichten gegebenenfalls anzupassen. Manchmal müssen wir den Teppich wieder lüften und das Unerklärliche integrieren, um unsere Entscheidungen zu verfeinern.
Fazit: Die Balance zwischen Pragmatismus und kritischem Denken
Ockhams Besen bietet eine faszinierende Perspektive auf wissenschaftliches und alltägliches Denken. Während das Prinzip der selektiven Ignoranz es erlaubt, sich zunächst auf das Wesentliche zu konzentrieren, ermahnt es uns gleichzeitig zu intellektueller Ehrlichkeit und kritischem Denken. Die Fähigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Fokus und Offenheit zu finden, ist entscheidend. Denn nur so können wir vorankommen, ohne wichtige Wahrheiten dauerhaft zu verdrängen. Letztlich erinnert uns Ockhams Besen daran, dass pragmatische Ansätze und kritische Reflexion keine Gegensätze sein müssen – sie sind zwei Seiten einer Medaille, die den Weg zu fundierten Entscheidungen und Erkenntnissen ebnen.
Bildquelle
Carel Fabritius (1622–1654), zugeschrieben: A Girl with a Broom, National Gallery of Art, Washington, DC, Public Domain.
Disclaimer
Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.
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