
Heute jährt sich der Todestag von Hannah Arendt zum fünfzigsten Mal. Ursula Renz erinnert in der gestrigen NZZ daran, dass Arendt die Freiheit nicht nur in der Reflexion auf unsere Sterblichkeit verortete, sondern ebenso in der Fähigkeit, immer wieder neu zu beginnen. Dieser Gedanke begleitet mich an diesem Dezembermorgen: unscheinbar im Ton, aber weitreichend in seiner Bedeutung. Er öffnet einen Raum, in dem sich Arendt mit den für mich massgeblichen hellenistischen Philosophien berührt – nicht historisch, sondern existenziell. Und er stellt eine Frage, die mich unmittelbar betrifft: Was heisst es heute, neu zu beginnen, als innere Bewegung, die Freiheit möglich macht?
Ein Todestag und eine Frage nach der Freiheit
Wenn ich Hannah Arendts Namen lese, denke ich zuerst an die politische Theoretikerin, die scharf beobachtete, wie Menschen handeln, urteilen und sich in der Welt verorten. Arendt war eine Denkerin des Zwischenraums: zwischen Menschen, zwischen Handlungen, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ihre Begriffe tragen viel Geschichte in sich, aber sie entfalten ihre Wirkung gerade dort, wo sie persönlich werden.
Ursula Renz hebt in ihrem Artikel den Gedanken hervor, der heute zum Weiterdenken besonders einlädt: dass Menschen immer wieder neu anfangen können. Arendt verbindet diesen Gedanken mit der Natalität – der Gebürtigkeit des Menschen. Jeder Mensch kommt als Anfang auf die Welt; das Neue ist ihm nicht fremd, sondern eingeschrieben. Freiheit bedeutet in diesem Licht, dem Neuen Raum zu geben. Nicht nur in politischen Konstellationen, sondern auch dort, wo wir uns selbst begegnen.
Ich bleibe allerdings auf der existenziellen Ebene stehen. Der politische Gehalt dieses Gedankens ist zweifellos kraftvoll, doch heute suche ich nach der Frage, wie sich das Motiv des Neubeginns im Inneren eines Menschen entfaltet. Vielleicht auch, weil politische Ohnmacht manchmal den Blick auf jene unauffälligen Möglichkeiten trübt, die im eigenen Denken liegen.
Natalität jenseits des Politischen
Der Begriff der Natalität klingt ungewöhnlich und zugleich selbstverständlich. Arendt richtet den Blick nicht wie viele andere Philosophen auf den Tod, sondern auf das, was dem Leben vorausgeht. Wir sind gebürtige Wesen. Und weil wir gebürtig sind, können wir beginnen.
Mir erscheint dieser Gedanke heute als eine Art philosophisches Gegenlicht: Er verweilt nicht bei dem, was uns begrenzt, sondern bei der Möglichkeit, anders zu werden, als wir gestern waren. Dabei geht es nicht um Brüche oder heroische Wendepunkte, sondern um eine innere Beweglichkeit. Das Neue beginnt oft still, kaum merklich. Manchmal nur in einem Satz, der plötzlich weniger hart klingt, in einer Einschätzung, die nicht mehr ganz so absolut ist, oder in einem Gedanken, der sich nicht mehr gegen Veränderungen sperrt.
Genau hier berühren sich Arendts Überlegungen mit Traditionen, die sie zu Lebzeiten kaum thematisierte: den hellenistischen Schulen des #Epikur, der Stoa und der Kyniker. Sie sprechen nicht von Natalität, aber sie kennen das Motiv des Neubeginns auf ihre eigene Weise – als Befreiung von Furcht, als Neuordnung des Urteils oder als subversive Vereinfachung des Lebens.
Der epikureischer Blick: Neubeginn ohne Pathos
Epikur erscheint vielen als Denker der Lust oder des Rückzugs in den Garten. Doch sein Denken ist weniger hedonistisch und viel stiller, als es die Klischees vermuten lassen. Freiheit beginnt bei Epikur dort, wo die Furcht ihre Macht verliert – vor Göttern, vor dem Tod, vor dem Urteil anderer. Nicht die Welt muss sich ändern, sondern die Art, wie wir uns in ihr bewegen.
Ein Neubeginn im epikureischen Sinn verläuft deshalb leise. Er geschieht, wenn ein Mensch erkennt, welche Ängste ihn binden, obwohl sie weder notwendig noch unvermeidlich sind. Epikur hätte Arendts Natalität wohl nicht diskutiert, aber er hätte ihr zugestimmt, dass Freiheit vor allem eine innere Öffnung ist. Die Welt wird nicht neu geschaffen; man selbst tritt ihr neu entgegen.
Mich fasziniert dieser unprätentiöse Ton des Neubeginns. Epikureisch gesprochen ist ein Anfang keine Wende im grossen Stil, sondern ein Zurückfinden zu sich selbst. Ein Wegnehmen von Überlastung, von falschen Dringlichkeiten, von Erwartungen, die nicht die eigenen sind. Arendts Gedanke erhält hier eine bemerkenswerte Erdung: Menschen können neu anfangen, weil ihre Ängste nicht endgültig über sie bestimmen.
Eine stoische Resonanz: Neubeginn durch Neubewertung
Die Stoa denkt radikaler in Bezug auf die Macht des Urteils. „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern unsere Meinungen über die Dinge”, schreibt Epiktet. Ein Neubeginn ist aus stoischer Sicht jederzeit möglich, weil das Urteil jederzeit neu gefasst werden kann. Nicht die äussere Lage ändert sich – weder Krankheit noch Verlust noch gesellschaftliche Zwänge –, sondern der innere Massstab.
Ich denke an einen konkreten Fall: Ein Mensch verliert eine berufliche Position, die er jahrelang als Kern seiner Identität betrachtet hat. Die stoische Frage wäre nicht, wie er diese Position wiedererlangen kann, sondern ob sie je war, was er dachte. Vielleicht war sie nur ein äusseres Gut, dem er zu viel Gewicht gab. Der Neubeginn liegt dann in der Neubewertung. Nicht die Position macht den Menschen aus, sondern sein Urteilsvermögen, seine Haltung, seine Fähigkeit, sich zu dem zu verhalten, was geschieht. Diese Verschiebung ist radikal, weil sie keine äussere Veränderung voraussetzt. Sie verlangt nur, dass der Mensch sich selbst als Massstab ernst nimmt.
Im Licht von Arendt lässt sich das so verstehen: Natalität zeigt sich nicht nur im ersten Atemzug eines Lebens, sondern in jedem Moment, in dem wir uns erlauben, das Weltverhältnis neu zu markieren. Freiheit wird zur Fähigkeit, die eigenen Bewertungen zu korrigieren, nicht weil das leichter wäre, sondern weil es möglich bleibt.
Dieser stoische Gedanke wirkt besonders dann, wenn äussere Handlungsspielräume eng erscheinen. Er erinnert daran, dass ein innerer Neubeginn nicht von günstigen Umständen abhängt. Selbst dort, wo wenig Veränderung denkbar ist, bleibt ein Rest Freiheit bestehen – im Urteil, im Setzen von Prioritäten und im Umgang mit eigenen Erwartungen.
Die kynische Spur: Anfangen als Abschütteln
Die Kyniker treiben das Motiv des Neubeginns in eine andere Richtung. Bei ihnen geht es nicht um eine Neujustierung oder Neuinterpretation, sondern um das bewusste Loslösen vom Überfluss, von gesellschaftlichen Rollen, von den Anforderungen, die Menschen sich gegenseitig auferlegen. Ein Neubeginn gelingt, indem man das Überflüssige abstreift.
Was hiesse das heute? Vielleicht, sich nicht mehr von jener permanenten Erreichbarkeit bestimmen zu lassen, die als selbstverständlich gilt. Vielleicht, auf Statussymbole zu verzichten, die längst zur Last geworden sind. Vielleicht auch, sich aus Debatten zurückzuziehen, in denen man nur noch mitredet, weil alle mitreden. Die kynische Geste ist provokant, weil sie dem Konsens widerspricht. Sie sagt: Nicht alles, was als notwendig erscheint, ist es wirklich. Manches bindet nur, weil wir nicht wagen, es loszulassen.
Diese Tradition wirkt auf den ersten Blick fern von Arendts Natalität. Doch ein gemeinsamer Kern ist da. Der Mensch ist in der Lage, sich von dem zu lösen, was ihn bindet, und damit Handlungsspielraum zu eröffnen. Bei den Kynikern ist dieser Raum radikal, fast trotzig; bei Arendt hingegen entsteht er im Zwischenraum, im gemeinsamen Handeln, aber auch im inneren Mut, sich neu zur Welt zu stellen.
Für meinen heutigen Zweck bleibt die kynische Perspektive eine scharfe Linie: Sie erinnert daran, dass Neubeginn nicht nur introspektiv sein kann. Manchmal bedeutet er, äussere Erwartungen abzuschütteln und dem eigenen Urteil mehr Gewicht zu geben als allen Konventionen. Damit bleibt die kynische Haltung ein Gegenpunkt, der Arendts Begriff nicht widerlegt, sondern erweitert.
Und heute?
Wenn ich diese drei Linien zusammenführe, entsteht ein erstaunlich zeitgenössisches Bild: Der Neubeginn ist keine dramatische Lebenswende, kein Wechsel der Biografie, sondern ein inneres Tätigwerden. Ein stiller Prozess, der sich oft erst im Rückblick erkennen lässt.
Es ist ein Gedankenraum, in dem Arendt und die Hellenisten miteinander sprechen könnten:
- Epikur erinnert daran, dass wir anfangen können, weil Furcht nicht endgültig ist.
- Die Stoa betont, dass wir anfangen können, weil Urteile wandelbar sind.
- Die Kyniker zeigen, dass wir anfangen können, indem wir Lasten abwerfen.
Gemeinsam ergibt sich daraus ein existenzielles Verständnis von Freiheit: Sie ist nicht das ungebundene Wollen, nicht das Spektakuläre, sondern die Fähigkeit, das Verhältnis zur Welt neu auszurichten. Manchmal genügt ein kleiner innerer Schritt, damit eine bisher feste Struktur sich lockert.
Was aber bedeutet diese Freiheit in einer Zeit, die oft lähmend wirkt? Die politischen Verhältnisse scheinen erstarrt, die Krisen häufen sich, und der Einzelne steht oft ohnmächtig daneben. Gerade dann wird die Frage nach dem inneren Neubeginn existenziell. Nicht als Rückzug ins Private, sondern als Behauptung eines Freiraums, der sich nicht vollständig determinieren lässt. Vielleicht ist es genau diese Beharrlichkeit, die Arendts Natalitätsbegriff heute wieder dringlich macht: die Einsicht, dass das Innere eines Menschen nicht einfach den äusseren Verhältnissen folgen muss. Dass dort, wo wir urteilen, bewerten und beginnen, ein Spielraum bleibt. Kein heroischer, kein grosser – aber einer, der ausreicht, um nicht vollständig festzustehen.
Ich merke beim Schreiben, dass dieser Gedanke zugleich schlicht und schwer ist. Schlicht, weil jeder ihn versteht: Menschen können neu anfangen. Schwer, weil nicht jeder diesen Anfang erkennt, wenn er sich anbietet. Wir erwarten von Neubeginn oft Signale, die gross genug sind, um uns zu überzeugen. Doch die #Philosophie – von Arendt bis Epikur – würde eher sagen: Der Anfang zeigt sich nicht in der Geste, sondern im Blick. Eine leichte Verschiebung, ein anderes Denken oder ein nicht mehr ganz so festes Urteil.
Vom Erinnern zum Beginnen
Ein Todestag ist ein Moment der Rückschau. Doch Arendts Begriff der Natalität verschiebt diesen Blick – weg vom Erinnern, hin zum Beginnen. Nicht das Ende betrachten, sondern das, was offen bleibt.
Ich halte mich an diesen Gedanken, weil er keine Forderung stellt. Er öffnet bloss eine Möglichkeit. Und vielleicht genügt das: zu wissen, dass ein Anfang nicht nur im Beginn eines Lebens liegt, sondern immer dort, wo wir das Denken nicht aufgeben.
Der Gedanke, den Renz herausstellt, wirkt damit wie ein täglicher Begleiter. Menschen können neu anfangen. Nicht nur politisch, nicht nur gesellschaftlich, sondern im leisen Inneren, das sich manchmal vorsichtig verschiebt – ohne Gewissheit, aber nicht ohne Hoffnung.
Bildquelle
Jean-Baptiste Carpeaux (1827–1875): Scène d'accouchement, Musée des Beaux-Arts de la ville de Paris, Public Domain.
Disclaimer
Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.
Topic
#Selbstbetrachtungen