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Biografien über Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Musiker und Musikerinnen, Fotografen und sehr selten Fotografinnen, bildende Künstler und selten Künstlerinnen sind ein beliebtes Genre. Da spielt vielleicht die Neugierde eine Rolle, wer denn der Mensch hinter einem Kunstwerk ist. Oft erklären uns diese Dokumentarfilme und Dokumentationen einfach auch die Werke, ganz kompakt, so dass der Mensch vor der Leinwand nicht allzuviel mit ins Kino bringen muss, außer etwas Neugierde und Interesse.

Thomas Schütte ist Bildender Künstler, Bilderhauer, Skulpteur, Zeichner und es gibt von ihm auch Architekturmodelle. Er arbeitet mit Ton, mit Bronze und mit Glas. Der Dokumentarfilm, der auch gerade erst auf dem Dok.Fest München gezeigt worden ist, trägt, wie so oft, den Namen im Titel. Doch das Konzept wurde variiert. Entscheidend ist hier der Zusatztitel “Ich bin nicht allein”. Die Regisseurin Corinna Belz zeigt den Künstler bei seiner Arbeit. Nicht die Biografie steht im Mittelpunkt, sondern das Entstehen eines Werkes, sowohl der kreative als auch der technische Prozess. Entscheidend ist, dass hier die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den spezialisierten Werkstätten, auf die der Künstler angewiesen ist, gleichberechtigt eingebunden wurden.

Die vertrauten Mithelfenden geben durchaus Impulse und es sind die Dialoge, die Momente des Austausches, die dem Publikum einen ganz neuen Blick auf den Schaffensprozess vermitteln. Da findet sich irgendwo in den Regalen einer Werkstatt ein älteres Stück Bronze, ein Nebenprodukt, das einst nicht weg geworfen wurde. Die Werkstatt, es handelt sich um die Gießerei Kayser, kontaktiert den Künstler, man habe da was beim Aufräumen gefunden. Das kleine Modell einer zurückgelehnten Figur steht nun Modell für etwas Neues, natürlich etwas Großes. Die kleine Figur wird zu Die Nixe. Corinna Belz begleitete Schütte über einen längeren Zeitraum und so wird die Nixe zu einem roten Faden.

Corinna Belz, ihr letzter Film machte einen Abstecher In die Uffizien, hat ein feines Gespür für das Künstlerische. Sie kommt von der Philosophie und Kunstgeschichte und hat darüber hinaus auch Germanistik und Medienwissenschaft studiert. Bereits 2007, in ihrem ersten Film hatte sie sich einem Werk, dem Kölner Domfenster, von Gerhard Richter gewidmet. Ihr Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting (2011) gilt als der Film über Richter. Der Sprung von Richter zu Schütte ist so groß nicht. Immerhin war Schütte Meisterschüler von, unter anderem, Richter. Belz nimmt Schütte quasi auf einen Spaziergang durch sein Werk mit. Allerlei Anekdoten gibt es dabei als Dreingabe. Schütte, der doch als Alleingänger gilt, wirkt hier aufgeschlossen und humorvoll. Er lässt sich auch auf die neuen digitalen Hilfsmittel ein, und wenn mal etwas schief geht, nutzt er den Zufall als Chance.

Thomas Schütte – Ich bin nicht allein zeigt den Schaffensprozess aus neuen Blickwinkeln. Nicht alles wird erklärt, Belz ist für ihre Neugierde bekannte und weiß diese auch zu vermitteln. Sie zeigt Kunst und künstlerisches Wirken als etwas, und auch dafür hat Schütte eine Anekdote, zu dem wir alle Zugang finden können.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Thomas Schütte – Ich bin nicht allein Regie: Corinna Belz Konzept: Corinna Belz Kamera: David Wesemann, Julia Katinka Cramer Montage: Rudi Heinen Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas Mitwirkende: Thomas Schütte, Peter Freeman, Lluïsa Sàrries Zgonc, Paulina Pobocha, Rolf Kayser, Robert Fischer, Rupert Huber, Niels Dietrich, Heide Jansen, Bernd Kastner, Pietro Sparta, Dieter Schwarz, Antonio Berengo, Nicola Causin, Andrea Salvagno, Sergej Natokin, Gazmend Lipa, Wilson Amer Mati, Sascha Ruf, Sergej Tichanow Deutschland 2022 94 Minuten Verleih: Real Fiction Kinostart: 29. Juni 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction #DokFestMünchen2023

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Der Titel bezieht sich auf eine Hausnummer. Ein Haus, ein Zuhause. Was gehört zu einem Zuhause? Familie, Kinder, Liebe. Die Regisseurin A.V. Rockwell, die 2018 mit ihrem Kurzfilm “Feathers” auf sich aufmerksam machte, erzählt in ihrem Langspielfilmdebüt von einer Mutter und ihrem Sohn. Dabei umspannt sie eine Zeit der Umbrüche.

New York City ist hier nicht nur Handlungsort, sondern Hauptdarsteller oder auch Gegenspieler. Die Entwicklung der Stadt läuft nebenher. Aus den Nachrichten erfahren wir, woran sich ein älteres Publikum vielleicht nur noch dunkel erinnert und was hier wahrhaftig an die Oberfläche drängt. Rudy Giuliani, Bürgermeister von New York City von 1994 bis 2001, war ein Verfechter der Law-and-Order-Politik, er räumte sozusagen auf. Die Kriminalität sollte mit Nulltoleranzmaßnahmen gedrückt werden. Während sich Teile der Bevölkerung sicherlich sicherer fühlten ob der Maßnahmen, waren andere Bevölkerungsgruppen, besonders auch in Harlem, wo Rockwell ihre Geschichte verortet, verstärkt Polizeigewalt ausgesetzt. Verschärft wurde die systematische Gewalt besonders gegen die Gruppen der Afroamerikaner und Latinos unter Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg.

“A Thousand and One” begleitet Inez, gespielt von der Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin Teyana Taylor, aus dem Knast in ein Leben der Chancenlosigkeit. Zu viele Details sollen hier gar nicht aufgeschlüsselt werden.

Rockwell stellte ihren Film dieses Jahr in Sundance als Weltpremiere vor und gewann prompt den Grand Jury Prize, den Hauptpreis in der Dramatic Sektion. Nicht nur wählte sie eine relevante Geschichte, sondern sie legte den Finger in eine alte Wunde, ohne gleichzeitig den Zeigefinger zu heben. Sie entwickelte ein Porträt, dass während viele Filme idealisierte Figuren und Situationen verhandeln, ohne falsche Töne von wahrhaftigen Figuren erzählt, deren Probleme wirklich Probleme sind. Dabei hält sie sich mit Wertungen zurück und entwickelt die Figuren aus sich heraus. Ihr Debüt ist ein Zeitporträt einer Stadt und ihren abgedrängten Bewohnern, die sich durch alltägliche Schikanen und Gentrifizierung ihres Zuhauses nie sicher sein konnten.

Inez steht vor dem Nichts. Aus diesem Nichts baut ihre Figur etwas auf. Obwohl das Leben ihr Steine in den Weg legt, obwohl Giulianis Stadtpläne mehr und mehr Menschen wie sie ins Abseits drängt.

Zuerst ist Inez auf der Suche nach Terry (Aaron Kingsley Adetola, später Aven Courtney und Josiah Cross), ihrem sechsjährigen Jungen, der in einer Pflegefamilie untergebracht ist, die ihm keine Familie sein will und kann. Als der Junge nach einem Unfall im Krankenhaus landet, entführt sie ihn von der Station und damit beginnt die eigentliche Handlung dieses Familienporträts. Die Entführung selbst ist ganz klar eine Straftat. Niemand interessiert sich aber für den Verbleib eines schwarzen Jungen. Allerdings sind die Konsequenzen einer Biographie unter dem Radar enorm. Was das Kind nicht abschätzen kann, ist Inez durchaus bewusst. Sie stellt jedoch die Fürsorge für das Kind ihren Bedürfnissen voran, bis ihr Wille, es gut zu machen, alles wieder in Frage stellt.

Einfach ist es nicht für sie. Natürlich nicht. Sie hatte selbst nie eine Familie. Die Fürsorge muss sie erst lernen. Umso resoluter kämpft sie für das Heranwachsen eines Kindes, dem sie die bestmögliche Bildung zukommen lassen möchte, als auch für ihr persönliches Glück und ihre Vorstellung von Familie, welches sie vielleicht bei Lucky (William Catlett) findet, der bei ihr einzieht und auch bereit ist, zu einer Vaterfigur zu wachsen. Rockwell findet einen fast dokumentarischen Blick auf die Stadt. Mit jedem Zeitsprung, mit dem sie ihre Figuren zuerst Mitte der 90er Jahre bis in die 2000er immer wieder einfängt, hat sich auch die Stadt weiterentwickelt. Rockwell stellt ihre Figuren geradezu in Opposition mit dieser Entwicklung. Das Leben dieser Figuren ist ein Leben trotz der Entwicklung, im täglichen Kampf gegen den systematischen Rassismus und einer Politik, die ihresgleichen aus der Stadt und der Stadtplanung eliminieren will. Gleichzeitig ist “A Thousand and One” trotzdem eine Liebeserklärung an New York City, eben nur ohne eine falsche Glorifizierung.

Die Erzählung von Inez, Lucky und Terry ist eine von 1001er Geschichten, die um ihre Existenz und um ihre Würde kämpfen. “A Thousand and One” ist ein großartiges, facettenreiches Debüt, A.V. Rockwell eine Entdeckung.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: A Thousand and One Regie: A.V. Rockwell Drehbuch: A.V. Rockwell Kamera: Eric K. Yue Schnitt: Sabine Hoffman, Kristan Sprague Musik: Gary Gunn Mit Teyana Taylor, Aaron Kingsley Adetola, Aven Courtney, Josiah Cross, William Catlett, Terri Abney, Delissa Reynolds, Amelia Workman, Adriane Lenox, Gavin Schlosser, Jolly Swag, Azza El, Alicia Pilgrim, Jennean Farmer, Kal-El White, Jamier Williams, Naya Desir-Johnson, Mychelle Dangerfield, John Maria Gutierrez, Artrece Johnson, Mark Gessner, Tara Pacheco USA 2022 117 Minuten Verleih: Universal Kinostart: 18. Mai 2023 Festivals: Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

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Die Brautentführung, unter diesem Titel lief El secuestro de la novia auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Perspektive Deutsches Kino. Es ist die Geschichte von einem jungen, glücklichen Paar, das unter die Räder der “Traditionen” kommt. Sie, Luisa (Rai Todoroff), ist Argentinierin. Er, Fred (David Bruning), ist Deutscher. Ich präzisiere: Er stammt aus Brandenburg. Hier in Brandenburg leben die Beiden auch. Beide sind sehr aufgeschlossen. Ihre Beziehung begreifen sie auch als Spiel. Selbst Gendertausch ist für sie ein Weg, sich und einander näherzukommen. Sie haben da keine Berührungsängste. Wenn es da nicht die Angehörigen und die kulturellen Unterschiede geben würde.

Sophia Mocorrea, die Regisseurin, ist Deutsch-Argentinierin. El secuestro de la novia ist ihr Abschlußfilm an der Filmuniversität Babelsberg. Die Berlinale war gar nicht der Uraufführungsort. Ihr mittellanger Film wurde vom Festival in Sundance, das kurz vor der Berlinale stattfindet, eingeladen und gewann dort prompt in der Sektion internationaler Kurzfilm den Hauptpreis. 30 Minuten ist der Film lang. Die Länge ist kein Kriterium. Es gehört einiges dazu, zu wissen, wann ein Stoff rund und auserzählt ist.

Luisa und Fred feiern also Hochzeit. In Brandenburg. Ihre Eltern reisen an, seine Eltern haben die Oberhand. Und gute Ratschläge, die sie mit nicht sehr subtilen Druck an das Paar geben. Der Gipfel der Übergriffigkeit ist jedoch die Titel gebende Brautentführung. “Tradition”, da “müsse sie schon mitspielen”. Mitten in der Hochzeitsfeier wird sie also von der Provinzpolizei verhaftet und aufs Revier zum Verhör gebracht. Die Anklage lautet auf Erregung öffentlichen Ärgernisses. Kein Schenkelklopfen, eher Sprachlosigkeit sollte beim Publikum einsetzen. Jeder Satz sitzt. Die Dialoge entlarven den xenophoben Provinzialismus. Die Frauenfeindlichkeit ist evident. Während Luisa zuerst irritiert ist, dann gute Miene zum strunzdummen Spiel macht, breitet sich die toxische Stimmung immer mehr aus.

El secuestro de la novia ist eine Komödie. Nicht ohne Humor führt Sophia Mocorrea überkommende Rollenbilder und gestrige Sitten vor und zeigt, dass auf vergifteten Boden keine gleichberechtigte Liebe gedeihen kann.

Eneh

Mittellanger Spielfilm Originaltitel: El secuestro de la novia Regie: Sophia Mocorrea Drehbuch: Sophia Mocorrea Kamera: Jacob Sauermilch Schnitt: Jannik Eckenstaler, Sofia Angelina Machado Musik: Luca de Michieli, Linus Rogsch Mit Rai Todoroff, David Bruning, Anne Kulbatzki, Tatiana Saphir, Patricia Pilgrim, Daniel Wendler, Leon Dima Villanueva, Aroha Almagro Davies, Andreas Rogsch, Michaela Winterstein, Niels Bormann, Jeannette Urzendowsky, Alina Renk, Sigrun Gietzke, Julian Müller, Richard Kretschmar Deutschland 2022 30 Minuten Festivals: Sundance 2023, Berlinale 2023, Achtung Berlin 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Kurzfilm #Studentenfilm #Berlinale2023

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Das Leben ist manchmal eine Abfolge von miesen Entscheidungen. Es gehen einem die Spielzüge aus. Egal, wohin man seine Figur zieht, man landet in einer Ecke. Man kann nur noch reagieren, aber man ist nicht mehr frei in seinen Entscheidungen.

Irina, gespielt von Vita Smačeljuk, ist in Victim eine Spielfigur, die in einer Gesellschaft, die von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit und Korruption bestimmt wird, das Richtige tun will. Die Geschichte, die der Regisseur Michal Blaško erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. Sein erster Langspielfilm debütierte in Venedig, wurde auf Festivals sowohl in Hamburg als auch in Cottbus aufgeführt und schließlich schickte die Slowakei den Film ins Oscarrennen um den besten internationalen Titel.

Irina, alleinerziehende Mutter, ist mit ihrem Sohn aus der Ukraine in eine tschechische Kleinstadt gezogen. Wir erinnern uns, bereits vor 2022 gab es in der Ukraine Krieg. Sie versucht nun für sich und Igor (Gleb Kuchuk) eine Existenz aufzubauen. Auf den ersten Blick wirkt ihr Leben in dieser Fremde trist und prekär. Blaško beschönigt hier nichts. Er zeigt eine Welt, in der Armut auch wirklich Armut meint. In der halb verrottete Panelwohnungen genau das sind. Wo an den Rändern der Stadt die Zurückgelassenen, die Ausländer und die Roma leben.

“Victim” heißt “Opfer”, aber der Begriff kann für vielerlei stehen. Irina ist bereits in der ersten Szene in einer unverschuldet schwierigen Lage. Sie war in die alte Heimat gereist, um Unterlagen für die Behörden zu holen. Nun blieb ihr Bus an der Grenze hängen, weil ein anderer Bus liegen geblieben ist. So etwas kann Stunden dauern, die hat sie nicht. Scheinbar ist Igor, der Sohn, 13 Jahre alt und auf dem Weg ein Spitzensportler zu werden, Opfer eines Überfalls geworden. Er wurde übelst verletzt und liegt nun auf einer Intensivstation. Irina will also so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Bereits hier wird deutlich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten sind und wie äußere Umstände eine Figur behindern.

Igor liegt erst einmal im Koma. Die Ermittlungen laufen. Bevor die Polizei Informationen mit der geschockten Mutter teilt, soll sie ihren Aufenthaltsstatus belegen. Was sie wissen ist, dass Nachbarn bemerkt haben wollen, wie jemand weg gelaufen ist. Igor, als er aufwacht, benennt drei Roma-Jungen als Täter. Für die Polizei steht fest, dass diese aus der Nachbarschaft kommen. Die Nachbarn reagieren feindlich. Hier ist eine Randgruppe der anderen nicht wohl gesonnen. Irina spürt, dass die Hilfe und Solidarität, die sie auf einen Schlag erfährt, sich explizit gegen die Roma richtet.

Wer den Film ohne jede Kenntnis der Handlung und Entwicklung sehen möchte, sollte hier mit dem Lesen abbrechen. Der Regisseur behandelt jedoch keinen Kriminalfall, sondern eine moralische Parabel. Er weiht das Publikum in das, was wirklich geschehen ist, ein. Er macht das Publikum jedoch nicht zum Verbündeten, sondern schickt es durch eine Zwangslage nach der anderen. Irina ist die Figur, dessen Integrität zur Disposition steht und es gibt keinen Ausweg. Darum teilt die Handlung Igors Geheimnis mit der Mutter und dem Publikum. Seine Verletzungen sind so gravierend wie echt, aber er hat sie sich selbst zuzuschreiben. Es gab keine Täter. Als Irena dies erfährt, hat sich bereits eine Handlungskette in Gang gesetzt, in der ein Zurückziehen der Anzeige gegen unbekannt, keine Option mehr ist.

Nicht nur ihre Staatsbürgerschaftsprüfung steht auf der Kippe. Die Politik war sogleich bei Fuß und witterte die Möglichkeit zum Stimmenfang. Die Bürgermeisterin versprach ihr eine Neubauwohnung und die Sportkameraden des Jungen wollen sogleich eine Demonstration organisieren, um auf Missstände hinzuweisen. Irina weiß und das Publikum weiß, dass sowohl die eine als auch die andere Seite kein sauberes Spiel spielt. Irina muss jedem Versuch der Manipulation ausweichen und kann es doch nicht. Egal, was sie tut, und wenn es das vermutlich Richtige ist, ist eine Entscheidung unter dem Druck von außen.

Die erstarkende Rechte wittert ihre Chance, die Roma für alles verantwortlich zu machen. Die korrupte Politik will sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Die Beschuldigten stecken in einer sie unterdrückenden Justiz fest, die Ergebnisse feiern will, unabhängig davon, dass es keine Ermittlungsergebnisse gibt. Michal Blaško, der das Drehbuch zusammen mit Jakub Medvecký schrieb, arbeitet mit subtilen Hinweisen und knüpft ein realistisches Bild von den komplexen Strukturen unter denen die Mutter nicht nur für ein Leben ohne Lügen kämpft, sondern auch noch für ihren Sohn eine Zukunft sichern will.

Der Verleih Rapid Eye Movies hat “Victim” passend zum Internationalen Roma-Tag am 8. April, der auf deren Verfolgung und Diskriminierung aufmerksam machen will, in dieser Woche ins Kino gebracht. Die gesellschaftlichen und politischen Missstände, die “Victim” behandelt, könnten nicht aktueller sein.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oběť Regie: Michal Blaško Drehbuch: Michal Blaško, Jakub Medvecký Kamera: Adam Mach Montage: Petr Hasalík Mit Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil, Inna Zhulina, Alena Mihulová Slowakei / Tschechien / Deutschland 2022 91 Minuten Verleih: Rapid Eye Movies Kinostart: 6. April 2023 Festivals: Venedig 2022 / Hamburg 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #RapidEyeMovies

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Die Farbe des Gewandes, der Duft der Mandarinen, das Dunkel der Werkstatt der Dampf im Waschhaus, die Melodie der Straße. Das Blau des Kaftans der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani spricht unsere Sinne an, wir trinken von dem Blau, wir riechen das Orange, wir hören das Leben und all das zusammen berührt unser Herz.

Etwas aus der Zeit gefallen ist die kleine Schneiderei in einer der vielen Gassen Casablancas. Halim (Saleh Bakri) hat sein Handwerk noch von seinem Vater gelernt. Vielleicht war die Entscheidung, die Werkstatt zu übernehmen, nicht sein Herzenswunsch. Seinem Herzenswunsch kann er sowieso nicht immer folgen. Zusammen mit seiner Frau Mina (Lubna Azabal), die beiden sind kinderlos geblieben, versucht er nun einen Nachfolger für ein Gewerk zu finden, das scheinbar niemand mehr braucht. Bei ihm wird noch mit der Hand genäht und gestickt. Stolz spielt damit hinein, vielmehr hat man nicht. Schon so mancher Lehrling hat bei Halim und Mina schnell das Weite gesucht. Nicht so Youssef (Ayoub Missioui), er begreift die Sinnlichkeit, die in der Bewegung der Hände liegt.

Der blaue Kaftan, ein besonders edles und teures Stück, ist der rote Faden, der uns durch die Handlung führt, eine Lebensschnur. Geduldig arbeitet der Meister an dem Stück. Für eine reiche, schnippische Kundin, die den Preis nur zu zahlen bereit ist, weil das gute Stück ein Statussymbol sein soll. Die fordernde, vermeintlich fortschrittliche Kundschaft steht für das Morgen, das jedoch an den Regeln der rückständigen Gesellschaft und deren Ächtungen festhält. Halim lebt ein Doppelleben. Nicht aus freien Stücken. Was sein Herz begehrt, gilt faktisch als kriminell. Für diese Gesellschaft wäre er ein Ausgestoßener. Er liebt seine Frau und zeigt ihr das auch mit kleinen Gesten. Um sie nicht zu verletzen, nimmt er Rücksicht, versagt sich die kleinste Regung, wenn es den jungen Lehrling betrifft.

Maryam Touzani, die mit ihrem Debüt Adam, in der eine Bäckerin eine schwangere Frau aufnimmt, bereits ihren Stil gefunden hat, in dem sie die Entwicklung der Figuren sensorisch vermittelt und das Bild nach und nach öffnet, erzählt dieses Mal nicht von der Mutterschaft, sondern von der Liebe in all ihren Schattierungen.

Das Blau des Kaftans brachte sie, wie bereits Adam, nach Cannes, nach Karlovy Vary, nach Hamburg und Zürich, bis nach Toronto und Rotterdam. Ihr Blick ist dabei ein zurückhaltender, sie zeigt nicht alles. Sie gibt den Figuren Würde und Dauer. Die Liebe ist dabei das Hauptthema. Liebe ist Hingabe und Aufopferung, Liebe ist fest in sich ruhen und los lassen können. Mina, nicht frei von Eifersucht, kennt ihren Mann gut. Das Leben entgleitet ihr zunehmend und sie muss die Zeit nutzen, die in den sorgfältigen Stichen der nähenden Hand schier im Stillstand zu verharren scheint. Und er, der sich hin und her gezogen fühlt, die Arbeit gibt ihm Sinn und Halt, muss sie, die geliebte Lebensgefährtin ebenso los lassen. Die Liebe zu der Arbeit, mit geduldig feinen Stichen etwas zum Leben zu erwecken, ist dabei die Liebe, die Halim offen ausleben kann, die die drei Figuren und ihre Beziehung zu einander bindet und formt.

Das Blau des Kaftans, übrigens Marokkos Einreichung für den internationalen Oscar, ist keine Romanze. Romanzen sind wild und stürmisch. Ein Gefühl der ersten Begegnung und mit all der Unvernunft, die damit einher geht. Dieses Drama spielt sich still und leise im Verborgenen ab. Die wenigen Kunden, die die kleine Näherei noch hat, sind ungeduldig und oberflächlich. Touzani spricht die an, die geduldig auf die Sprache der Herzen reagieren und wahrnehmen, für was ein blauer Stoff steht und wie der Duft der Mandarinen die Welt bedeuten kann. Wie die Musik aus der Nachbarschaft für die Freude steht. Das Leben, das Halim trotzig in seiner Trauer feiert. Als Antwort auf das alles, was ihm und auch den anderen Figuren versagt wird. Das Blau des Kaftans ist zart. Der Stillstand, in dem sich Halim befindet, mag eine Herausforderung sein. Dabei ist das Titel gebende Stück Bild der Beständigkeit und eine Bestätigung, für alles, was sein kann.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Le bleu du caftan Regie: Maryam Touzani Drehbuch: Maryam Touzani, Nabil Ayouch Kamera: Virginie Surdej Montage: Nicolas Rumpl Musik: Kristian Eidnes Andersen Mit Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui, Mounia Lamkimel, Abdelhamid Zoughi, Zakaria Atifi, Fatima Hilal, Mariam Lalouaz, Kholoud El Ouehabi, Amira Tiouli, Hanaa Laidi, Aymane El Oarrari, Ilyass El Ouahdani, Fouzia Ejjawi, Mohamed Naimane, Mohamed Tahri Joutey Hassani Frankreich / Marokko / Belgien / Dänemark 2022 124 Minuten Kinostart: 16. März 2023 Verleih: Arsenal Film Festivals: Cannes 2022 / Karlovy Vary 2022 / Toronto 2022 / Hamburg 2022 / Rotterdam 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #ArsenalFilm #Cannes2022

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19 Filme konkurrierten um den goldenen Bären. Im Wettbewerb gab es 18 Spielfilme und einen Dokumentarfilm. “Sur l'Adamant” wurde relativ spät im Festivalverlauf angesetzt. Viele hatten da bereits ein, zwei oder sogar drei Favoriten in der eigenen Auswahl. Die sanfte und durchweg positiv gestimmte Beobachtung über die Arbeit in einer psychiatrischen Tagesklinik in Paris hatte wohl kaum jemand als Frontrunner betrachtet. Konnte sich die internationale Jury auf keinen der Spielfilme einigen?

Das Leben schreibt bekanntlich die besten Geschichten. Das wahre Leben, noch dazu mit prägnanten und spannenden Figuren, der Ansatz einen Blick auf das unverstellte Echte zu blicken, ist in unserer schwierigen Zeit scheinbar relevanter als eine künstlerische Umsetzung einer Interpretation derselben. Doch blickt Nicolas Philiberts Kamera nur scheinbar auf das, was ist. “Sur l'Adament” ist ein rundum wohlfühlender Film auf etwas, was eher nicht wohlfühlend ist und somit leider voller blinder Flecke.

Nicolas Philiberts vielleicht bekanntester Film ist von 2001. In “Sein und Haben” betrachtete er eine kleine Dorfschule, in der die Kinder aller Altersgruppen in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet werden. Damals konnte dieser den Europäischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm gewinnen. Auf der Berlinale trat Philibert zuletzt 2013 mit “La Maison de la Radio”, einer Betrachtung des Senders Radio France an. Nun also ein von der Gesellschaft ausgegrenztes Thema.

Die L'Adamant ist ein fest angelegtes Boot auf der Seine in Paris. Architektonisch wirkt die Klinik durch die Verwendung von Holz warm und einladend und von den rundum aufklappenden Fensterblöcken ist ein freier, durchlässiger Blick nach außen möglich. Psychiatrie stellt man sich gewöhnlich anders vor. Allerdings ist die Tagesklinik, die erst 2019 vom Büro Seine Design auch unter Einbindung seiner Nutzer konzipiert wurde, Teil der Paris Central Psychiatric Group. Die Tagesklinik richtet sich auch nur an Patienten und Patientinnen aus den ersten vier, also den umliegenden 4 Arrondissements. Keineswegs an Besucher aus den entfernteren und wohlmöglich ärmeren Bezirken.

Aber um Architektur geht es hier ja nicht und auch nicht um eine gesellschaftliche Einordnung. Um die Probleme in der Psychiatrie und ihren Methoden der Behandlungsfindung geht es aber auch nicht. Aus den Erzählungen der Mitwirkenden, kann man durchaus einen priveligierten Hintergrund herauslesen. Ein Vergleich mit anderen Kliniken bleibt jedoch auch aus.

Die L'Adamant ermöglicht vorrangig Workshops, in denen sich die Patienten und Patientinnen malerisch und musikalisch und überhaupt künstlerisch ausprobieren können. Dass sie dazu bereits die Voraussetzungen mitbringen, merkt man recht bald und schon in der ersten Szene, als ein Patient (leider blendet das Presseheft die Namen der Mitwirkenden aus, als würden sie eine anonyme Gruppe bilden) den Song “La bombe humaine” der französischen Rockformation »Téléphone« schmettert. In einem deutschen Film hätte man vielleicht einen Song von der Band »Ton Steine Scherben« genommen. Das wäre vergleichbar. Eindruck macht auch, dass gleich mal ein Filmfest geplant wird, denn es gibt einen festen Filmclub.

Wer darf nun eigentlich hier täglich oder regelmäßig dabei sein? Wer wird abgewiesen? “Sur l'Adamant” blendet sowohl den Alltag, als auch Probleme aus. Nur einmal kommt es zu einem Riss in der schönen Fassade, als eine Patientin einen Tanzkurs vorschlägt und, weil sie Tänzerin war, den Kurs auch gleich selbst halten möchte. Das wiederum ist nicht vorgesehen. Sanft wird dieser Vorschlag erst einmal geparkt. Ob nun die Anwesenheit der Kamera Einfluss hatte oder ob es grundsätzlich keine Reibungen gibt, wer weiß das schon. Die Arbeit auf der L'Adamant ist durchaus eine erfolgreiche, könnte man meinen. Aber man fragt sich schon, wie mit Kranken verfahren wird, die im Sinne der Gruppe nicht hineinpassen. Man fragt sich, wie Medikamentenpläne erstellt und kontrolliert werden. Von dieser Seite der Arbeit zeigt Philibert nichts.

Dabei hat Philibert bereits Mitte der 90er mit “La Moindre des choses” einen Film über eine psychiatrische Klinik, der La Borde Clinic, gedreht. Eine gewisse Furcht, die Mitwirkenden bloßzustellen, hatte er offensichtlich schon. Zumindest konnte er im kleinen Team arbeiten.

Philibert führte auch die Kamera, ab und an hatte er aber noch jemanden an seiner Seite. Die Mitwirkenden kannten seine Filme, auch das war ein Pluspunkt. Sie redeten offen mit ihm, Gespräche gibt es zuhauf. Sie erzählen von ihrer Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung der Außenwelt und der Diskrepanz.

Doch die Kamera kann die Aufgabe, psychische Krankheiten für ein Publikum erfahrbarer machen, nicht einlösen. Die Mitwirkenden bleiben auf Distanz. Zu fragmentarisch erleben wir ihren Alltag. Die Szenen konzentrieren sich immer wieder auf die Workshops und auf die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die dann zum Teil doch gebremst werden.

Ein Limit an Möglichkeiten für diesen Tagesalltag wird deutlich, wenn man genau hinschaut. Hinterfragt werden diese Grenzen nicht. Hinterfragt und eingeordnet wird hier gar nichts. Die ruhige, respektvolle Umsetzung ist dann doch sich selbst im Weg und liefert letztendlich ein mittelprächtiges Feel-Good-Movie, dass kein bisschen innovativ ist. Von einem goldenen Bären erwartet man eigentlich neue Akzente und man fragt sich, ob man diesem Dokumentarfilm mit der Auszeichnung nicht einen Bärendienst erwiesen hat.

Eneh

Originaltitel: Sur l'Adament Dokumentarfilm Regie: Nicolas Philibert Mitwirkende: Mamadi Barri, Walid Benziane, Sabine Berlière, Romain Bernardin, Jean-Paul Hazan, Pauline Hertz, Frédéric Prieur, Muriel Thourond, Sébastien Tournayre Frankreich / Japan 2022 109 Minuten Verleih: Grandfilm Kinostart: 14. September 2023 zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Grandfilm #Berlinale2023

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Eine Liebesgeschichte, die keine sein darf, das ist der nigerianische Spielfilm “All the Colours of the World are Between Black and White”. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es alle Farben der Welt. Nigeria ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land auf dem afrikanischen Kontinent, es hat auch eine bedeutende Filmproduktion. Nicht annähernd so viele Filme aus Nollywood schaffen es in europäische Kinos wie beispielsweise aus Bollywood.

Babatunde Apalowo, der Regisseur dieser ruhig erzählten Geschichte, drehte zwar in seiner Heimat Lagos, lebt aber inzwischen in Großbritannien. “All the Colours” ist ein gelungenes Regiedebüt, der in Zwischentönen all die komplizierten Gefühlszustände seiner Protagonisten zu vermitteln weiß.

Dabei sollte es eigentlich eine Liebesgeschichte an seine Heimatstadt Lagos werden. Apalowo wollte eine Geschichte von einem Kurier erzählen, der unterwegs Fotos von seiner Stadt schießt. Der Regisseur wurde jedoch Zeuge einer Gewalttat. Gewalt ist in Lagos und in Nigeria Teil des Alltags, jedoch sah er, wie ein Kommilitone aufgrund seiner Sexualität von einem Mob gelyncht wurde. Queerness ist in Nigeria nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern wird mit langen Haftstrafen geahndet. So wurde aus einer Geschichte über eine Stadt auch eine Geschichte von ihren Bewohnern. Allerdings ist Apalowo, und da macht der Regisseur gar keinen Hehl draus, straight. Er versuchte trotzdem eine Liebesgeschichte zu erzählen, die zwischen zwei Männern verläuft. Das Gefühl des Liebens und der Zurückweisung, der Unsicherheit der eigenen Gefühle und der Selbstkenntnis und all dem dazwischen sind das Rückrad der Handlung.

Tope Tedela, der nicht nur in seiner Heimat ein renominierter Schauspieler ist, spielt Bambino. Bambino ist ein angesehener Nachbar in seinem Viertel. Er hilft aus, wo er kann, und auch finanziell reicht es zum Leben. Er lebt als Single und denkt gar nicht weiter darüber nach. Doch dann trifft auf Bawo, gespielt von Riyo David, der ihn fotografiert und mit dem er dann in der Stadt herumfährt, um gemeinsam für ein Fotoprojekt Aufnahmen zu machen. Die Kamera von Bawo bringt Bambino nicht nur dem Publikum näher. Doch in der rigiden gesellschaftlichen Haltung gegenüber gleichgeschlechtliche Avancen, braucht es einen Grund, damit sich zwei Männer berühren können, die sich bis dahin mit Blicken taxierten. Als Bambino einen Unfall hat, ist es Bawa, der ihn pflegt und damit Bambinos Selbstbild ordentlich ins Wanken bringt. Es geht in erster Linie um das Gefühl der Zuneigung und Anziehung und Apalowo bringt eine Nachbarin (Martha Ehinome Orhiere) ins Spiel, die sich zu Bambino hingezogen fühlt und dieses auch vermittelt. Nur kann Bambino dieses Gefühl nicht erwidern.

Apalowo vermeidet Klischees und setzt auf Stimmungen. Die Kamera unterstützt in Statik und Bewegung die Grundzüge der Charaktere der Figuren. Lagos als Stadt spielt immer noch eine der Hauptrollen in der Erzählung, wobei Apalowo und sein Partner an der Kamera, David Wyte (“Gbomo Gbomo Express”), einen möglichst realistischen Look anstrebten, auch um das Gefühl der Authentizität zu unterstreichen. Authentizität ist auch in der Handlung wichtig. Bambino kann sich den Zwängen nicht auf Kommando entledigen und er tut es auch nicht. Es tut weh, den beiden, das heißt eigentlich den drei Figuren zuzuschauen. “All the Colours” vermittelt die Stimmungen subtil, aber fühlbar.

Der Teddy ging in diesem Jahr, der reich an queeren Stoffen war, nicht nur in der Sektion Panorama, an diesen nigerianischen Film und ich hoffe, dass der Film auch einen weltweiten Einsatz bekommt. Das, was er zeigt, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen in Nigeria tabuisiert und strafrechtlich verfolgt werden, ist mit Abstrichen zum Glück nur noch auf eine kleine Anzahl von Ländern beschränkt. Die Gefühle, die die Figuren durchlaufen, kennen viele. Lieben und zurück geliebt werden, darum dreht es sich doch. Apalowos Film ist ein Aufruf, und durchaus auch politisch gemeint, diese Liebe, in welcher Farbe auch immer, zuzulassen und Empathie zu entwickeln.

Eneh

Originaltitel: All the Colours of the World are Between Black and White Regie: Babatunde Apalowo Mit Tope Tedela, Riyo David, Martha Ehinome Orhiere, Uchechika Elumelu, Floyd Anekwe, Ciroma Chukwuma Adekunle, Yusuf Olalekan, Bolaji Gelax, Emmanuel Adex, Oni Mercy, Emmanuel Oteikwu-Adah, Nurudeen Obi, Wilson Joseph Nigeria 2023 92 Minuten Auszeichnungen: Teddy für den besten Spielfilm auf der Berlinale 2023 Verleih: bisher kein deutscher Kinostart Coccinelle Film zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

#Filmkritik #Berlinale2023 #Spielfilm #OhneKinostart

© Eneh

Pietro ist 11 Jahre alt, als er mit seinen Eltern den Sommer in den Bergen verbringt. Kinder leben dort gar keine mehr. Nur Bruno ist im gleichen Alter. Die Buben freunden sich an, nachdem Pietros Eltern die beiden zusammenbringen. Ihre Freundschaft wird ein Leben lang halten. Ihre Freundschaft ist eine, die auch lange Zeiten der Trennung überdauert.

Die Geschichte nach der Vorlage des gleichnamigen Romans von Paolo Cognetti erzählt von den Wendepunkten im Leben von zwei Kindern bis hinein in ihre Lebensmitte. Dabei verlaufen die Entwicklungen dieser Zwei teils parallel zu einander. Teils gehen beide Figuren ihren ganz eigenen, konträren Weg. Immer aber beeinflusst das Leben des einen das des anderen.

Pietro (Lupo Barbiero spielt das Kind, Andrea Palma den Jugendlichen und Luca Marinelli den Erwachsenen) ist ein Stadtkind. Auf den Wiesen und zwischen den Bergen blüht er auf. Die Natur sieht er als Gegenstück zur hektischen, luftverschmutzten Stadt an.

Bruno (Cristiano Sassella spielt den 11-jährigen, Francesco Palombelli den Heranwachsenden und Alessandro Borghi den Älteren) kennt nichts als die Berge. Schon von klein an muss er auf der Alm mit anpacken. Die Freundschaft der Beiden ist vollkommen und vollkommen unschuldig. Ein Riss tut sich auf, als sich die Eltern von Pietro darum bemühen, Bruno die gleichen Möglichkeiten zu geben, die ihr eigener Sohn hat. Sie würden ihn aufnehmen, mit in die Stadt holen, damit er dort zur Schule gehen kann. Pietro fühlt instinktiv, dass Bruno in der Stadt nicht mehr derselbe wäre. So als würde ihn die Stadt verderben. Dazu kommt es nicht. Das Verantwortungsgefühl der Eltern für den zweiten Jungen ist das eine. Aber ist es die richtige Entscheidung? Ist Pietro egoistisch, wenn er sich sträubt? Zumindest diese Entscheidung wird von jemand ganz anderem getroffen werden. Die Wege der Beiden trennt sich daraufhin auf viele Jahre.

Es ist Pietro, der diese Geschichte erzählt. Pietro, der seinen Platz im Leben nicht findet. Zu einem Zeitpunkt der Trauer begegnet er Bruno wieder und ihre Freundschaft ist jetzt eine andere. Gemeinsam bauen sie in den Bergen eine Hütte, die für viele Jahre ihr gemeinsamer Ort der Begegnung wird. Dieser Ort in den Bergen ist die Konstante des Spielfilmes von Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch. Van Groeningen hatte mit The Broken Circle seinen internationalen Durchbruch. Und auch Acht Berge hält Tragik und Melodram bereit. Während Pietro hinaus in die Welt zieht, immer auf der Suche, immerzu rastlos, bleibt Bruno an dem einen Ort, wo seine Kindheit ihn verankert hat. Er will weder irgendwo anders sein, noch sich auf neue Begebenheiten einlassen.

Was ist nun der bessere Lebensweg? Veränderung oder Verharren? Was verliert man, wenn man sich für das eine, was, wenn man sich für das andere entscheidet? Indem das Publikum beide Lebenswege parallel verfolgt, kann es beide Seelen erfühlen. Dass das Leben viel Schmerz bereit hält, versteht sich dabei von selbst.

Die Wendungen, die Eckpunkte sollen gar nicht verraten werden. Leicht könnte man Acht Berge auf die Beziehung der zwei Kinder bzw. Männer reduzieren. Das jährliche Zusammentreffen von zwei im Wesen so wortkargen Männern am immer selben Ort in der Wildnis weckt vielleicht auch Assoziationen zu anderen Filmen. Acht Berge lockt mit wunderschönen Naturaufnahmen und hält im Tempo immer wieder inne, verlangsamt sich, wartet und trottet dann weiter. Aber vielleicht will die Geschichte uns auch nur die Möglichkeit geben, darüber nachzudenken, wie sehr uns die, die uns nahe stehen auf unserem Weg beeinflussen und wie sehr wir ihre Geschichte mittragen auf unserem Lebensweg.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Le otto montagne Regie: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch Drehbuch: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch Vorlage: Paolo Cognetti Kamera: Ruben Impens Montage: Nico Leunen Musik: Daniel Norgren Mit Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Filippo Timi, Elena Lietti, Elisabetta Mazzullo, Cristiano Sassella, Lupo Barbiero, Andrea Palma, Francesco Palombelli, Surakshya Panta Italien / Belgien / Frankreich 2022 147 Minuten Kinostart: 12. Januar 2023 Verleih: DCM Festivals: Cannes 2022 / München 2022 / Around the World in 14 Films 2022 / Sundance 2023 TMDB

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© Eneh

Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine Geschichte über das abrupte Ende einer Freundschaft. Banshees sind mythologische Wesen, weibliche Geister aus der “Anderswelt”, einer Welt, die für Menschen nicht sichtbar ist. Sie klagen und wenn sie erscheinen, zumindest im irischen Volksglauben, kündigt sich ein Tod an. Wer das Klagen der Banshees vernimmt, gerät nahe des Wahnsinns.

Pádraic Súilleabháin, gespielt von Colin Farrell, ist ein einfacher Mann und sicherlich nicht der hellste. Ihm genügt sein Leben auf der abgelegenen, fiktiven Insel Inisherin, er hat keine Ambitionen. Er arbeitet selbstständig in der Landwirtschaft und verbringt seine freie Zeit in der Wirtschaft. In der Regel und bisher traf er dort immer auf seinen besten Freund Colm Doherty (Brendan Gleeson). Es ist der 1. April als ihm Colm zuerst wortlos die Freundschaft aufkündet. Kein Aprilscherz, es ist Colm bitterernst und Pádric befällt immer mehr der Wahnsinn, weil er diese Entscheidung nicht versteht und folglich auch nicht akzeptiert und schon gar nicht respektiert.

“The Banshees of Inisherin” von Martin McDonagh ist keine Fortsetzung von “In Bruges” (“Brügge sehen… und sterben?”), auch wenn der irische Regisseur und Drehbuchautor, der zuletzt in den Staaten mit “Three Billboards Outside Ebbing, Missouri” erfolgreich war, sich der beiden Hauptdarsteller der Krimikomödie von 2008, Colin Farrell und Brendan Gleeson, bedient.

Man könnte seinen neuen Film, der bereits für die OSCARS® hoch gehandelt wird und besonders Colin Farrells Nominierung in der Kategorie Schauspiel sollte als gesichert gelten, als Tragikomödie lesen. Das ist nicht falsch, doch ist dieser Film auch eine Parabel auf einen Bruderkrieg, auf den irischen Bürgerkrieg, auf den Krieg im allgemeinen.

Zeit der Handlung ist das Jahr 1923. Auf dem Festland in der Ferne herrscht Bürgerkrieg. Immer wieder verweist McDonagh auf das, was dort vor sich geht. Doch vielleicht lässt es sich dort besser leben. Immer mehr Einwohner der Insel verlassen diese. Die, die zurückbleiben, sollten doch in Eintracht leben können. Pádraic versteht die rigorose Ablehnung seines ehemaligen Freundes nicht und versucht die Freundschaft wieder ins Lot zu bringen. “The Banshees of Iisherin” handelt auch von der Vergeblichkeit dieser Bemühungen. Die gut gemeinten Anstrengungen von Pádraic lösen eine Kette von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Ereignissen aus.

Ursprünglich war die Vorlage ein Theaterstück. Martin McDonagh hatte bereits in den 90ern eine Theaterstück-Trilogie verfasst. “The Banshees of Inisherin”, als dritter Teil der “The Aran Islands Trilogy”, genügte seinen Vorstellungen nicht und so blieb das Stück in der Schublade. Wie wichtig die Zutaten für das Gelingen eines Stückes sind, beweist die Besetzung, die aus der Vorlage das Beste herausholt. Sturrheit, Verbissenheit, Verzweiflung, Unverständnis, Aufbegehren, Einsicht. All das liest man den Darstellern in der Mimik und Körperhaltung ab.

Brendan Gleeson spielt den Mann, der plötzlich Ambitionen hegt. Er möchte für seine Geige Musik komponieren und der Welt etwas hinterlassen. Man solle sich an ihn erinnern. Colin Farrell spielt den Mann, der keine Talente außer seiner Loyalität besitzt, der stets das Richtige tun möchte und das nicht immer schafft. Beiden Männern wohnt eine stille Wut inne, die ihnen keinen Ausweg bietet. Ganz anders reagiert Pádraics Schwester Siobhán, gespielt von Kerry Condon, die zuerst als Brücke zwischen den zwei Männern fungiert, die stets Harmonie und Geborgenheit ausstrahlt. Sie ist eine selbstbewusste Frau, die entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen. McDonagh flechtet in das Stück die Frage ein, ob ein Mensch der ist, der er ist, oder ob seine Taten ihn bestimmen. Und er stellt auch die Frage, ob die Charakterzüge eines Menschen oder seine Talente wichtiger sind. Oder ob diese Fragen uns überhaupt weiterbringen.

Auf den ersten Blick ist “The Banshees of Inisherin” eine düstere Komödie über zwei wortkarge Kontrahenten und ihrer Marotten. Man fühlt mit beiden Figuren und möchte doch nicht in ihrer Haut stecken. Die Handlung wird nicht von der Komik bestimmt, sondern zeichnet sich durch ihre Absurditäten aus. Die karge Landschaft zeugt von einer depressiven Grundstimmung, die Nährboden für die hier angerissene Verzweiflung ist. Die Sinnlosigkeit jedes Streites, die ihm zugrunde liegende Toxizität, die quasi unausweichliche Eskalation, die immer weiter von all dem abrückt, was man noch verstehen könnte, um zu einer Lösung zu gelangen, ist Gegenstand dieses sehr klugen und vielschichtigen Filmes mit historischen Bezügen. “The Banshees of Inisherin” ist großes Kino und vielleicht jetzt schon einer der schönsten Filme des jungen Jahres.

Eneh

Originaltitel: The Banshees of Inisherin Regie: Martin McDonagh Mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon, Barry Keoghan, Pat Shortt, Gary Lydon, David Pearse, Sheila Flitton, Bríd Ní Neachtain, Jon Kenny Großbritannien / Irland / USA 2022 114 Minuten Verleih: Walt Disney Studios Kinostart 5. Januar 2023 Festivals: Venedig / Toronto / Zürich / Hamburg

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© Eneh