Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Nicht Arbeit genug! Dass so ein Wahn in den Köpfen der Mehrzahl Platz greifen konnte, zeigt, wie verkehrt das ganze wirtschaftliche System der modernen Staaten ist. Nicht Arbeit genug? Das ist, als wenn ein Bär sagte, er habe nicht Haare genug. Es gibt in der Welt mehr Arbeit, als die Menschen tun können, und wenn sie noch so viele Maschinen erfinden, werden sie doch alle beschäftigt werden können, wenn sie nur die Freiheit haben, arbeiten zu dürfen, d. h. wenn man ihnen die Erde nicht verwehrt, auf der und aus der sie geboren sind. Sobald der Arbeiter keinen Tribut zu zahlen braucht für das Privilegium, arbeiten zu dürfen, wird die Klage über Arbeitsmangel verstummen.

(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 8.)

Anmerkung

Dieser kurze Kommentar ohne Angabe des Verfassers steht unmittelbar nach der Übernahme eines kurzen Textes aus der „Michigan Arbeiter-Zeitung“ und bezieht sich wohl auf diesen.

Steuern.

[H[err?]. C. Bechtold in der „Michigan Arbeiter-Zeitung.“]

Jedes bis jetzt bekannte Steuersystem ist ungerecht, weil es sich auf den Zwang gründet. Die zufällig Herrschenden haben es in ihrer Gewalt, jedes Individuum durch die Steuerschraube seines Eigentums zu berauben oder das ganze Eigentum des Volks zu konfiszieren, sei es zur Bezahlung von Staatsschulden, Gründung von Monopolen oder Bereicherung einzelner privilegierten Familien. Es gibt darum keinen einzigen Menschen, der die Zwangssteuer gern bezahlt. Jeder sucht die Bezahlung von Steuern zu umgehen, weil sie in allen Fällen ein Raub sind, wodurch ein Teil der Arbeit des Volks, wenn nicht die ganze, oder gar die Arbeit künftiger Geschlechter mit Beschlag belegt wird. Wo die Steuer nicht zu umgehen ist, wird sie stets von den Reichen auf die Unbemittelten, von den Starken auf die Schwachen abgewälzt. Nur freiwillige Besteuerung zu gemeinsamen Zwecken hat einen Sinn unter freien Menschen.

(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 8.)

Anmerkung

Zur „Michigan Arbeiter-Zeitung“ und deren Herausgeber C. Bechthold vgl. die Anmerkungen hier.

Eine Exkursion nach Plymouth Rock.

Wenige Städte haben eine schönere Umgebung als Boston und Boston selber ist nicht ohne grossen Reiz. Überall kommt die Natur dem Gemüt und der Fantasie des Menschen entgegen. Alles ladet zu heiterem Lebensgenuss ein. Was einzig dazu erforderlich ist, ist eine unbefangene und freie Auffassung der Natur und des Lebens. Nirgends könnten sich freie Menschen mehr des Daseins freuen, als hier. Aber gerade das fehlt: freie Menschen, das Vorherrschen einer unbefangenen und natürlichen Welt- und Lebensanschauung. Infolgedessen hat das Leben in Neu-England einen düsteren Anstrich. Der Einladung der Natur, an den Sonntagen hinaus ins Freie zu ziehen, Gram und Sorge und Armut an die Seite zu schieben, und bei Wein und Bier und freudvollem Tanz und Spiel mit den Frauen [Freunden?; Wort unleserlich] sich zu freuen, darf man hier nur auf die Gefahr hin zu folgen wagen, mit dem Polizeistock und dem Gerichtshof in Berührung zu kommen. Der freie, frohe Lebensgenuss ist gesetzlich untersagt. Der fromme Puritaner könnte sich beim Anblick fröhlicher Feste die Augen verrenken.

Aber die Menschen wissen sich zu helfen. Wie „Mein Onkel Benjamin“ bemerkt, verkehrt die Fröhlichkeit immer mit der Knechtschaft; „das Volk trug Ketten, aber es tanzte darin, und wenn sie rasselten, so klang es wie Kastagnetten.“ Wenn man auf dem Lande nicht seine Feste feiern und der Freude leben darf, so wehrt’s einem doch niemand auf der See. Zwar wurde s. Z. der Menschenhandel auf der See durch die Gesetze des Landes als Kapitalverbrechen behandelt, (während sie ihn auf dem Boden der Republik beinahe ein Jahrhundert lang als ein heiliges Recht beschützten), und ein heidnischer Lebensgenuss ist im Auge des christlichen Gesetzes kaum ein geringeres Verbrechen als der Menschenhandel. Daraus könnte man schliessen, dass heidnischer Lebensgenuss auch auf der See wie ein Verbrechen behandelt würde, zumal ihm auf dem Lande keine so liebevolle Fürsorge zuteilwird, wie einst dem Menschenhandel. Das ist aber nicht der Fall. Wenn das Gesetz auch auf dem Lande das Heidentum lieber gleich mit Stumpf und Stiel ausrotten möchte, so gibt es demselben doch auf dem Meere die Zölle frei. So recht eigentlich das Sinnbild der Freiheit, ladet die See zudem zu heiterem Lebensgenuss geradezu ein. Diesen Umstand machten sich die Bostoner Turner am letzten Sonntag zu Nutze, indem sie für die Gelegenheit ein Dampfboot mieteten und eine Exkursion nach Plymouth Rock veranstalteten.

Stark besetzt, und reichlich mit den Gaben des Bacchus und Gambrinus versehen, verliess das Boot „Nantasket“ präzis zehn Uhr Vormittags unter den erhebenden Klängen der Musik das [sic!] Werft. Alles strahlte von Freude. Und immer lustiger wurde es, je weiter wir uns von den Marken des Gesetzes entfernten und mutig hinausstiessen auf das freie, herrenlose Gebiet des wild dahin wogenden Meeres. Der Anblick des ungebundenen und doch massvollen Verkehrs der Menschen an Bord des [sic!] „Nantasket“ liess eine Ahnung des Lebens aufsteigen, wie es sich einst unter der Freiheit gestalten wird. Hier wurde allerdings nur der freie Sonntag und die Freiheit Gambrins gefeiert. Es war das keine segelnde Republik, wie sie Garibaldi vorgeschwebt hatte, immer bereit, da zu landen, wo es für die Freiheit zu kämpfen gelten würde. Die Betrachtung, dass sich die Turner, wie überhaupt das freisinnige Deutschtum, nicht für die ganze und allseitige Freiheit zu begeistern vermögen, wirkt ernüchternd. Auch wir Anarchisten sind willens, für den freien Sonntag und für die Freiheit Gambrinus zu Felde zu ziehen, aber unsere Freiheitsliebe findet nicht hier ihre Grenze. Wir erheben die ganze und allseitige Freiheit auf unseren Schild. Ich habe Männer kennengelernt, die bereit gewesen waren, für die Trinkfreiheit ihr Leben einzusetzen, die sich aber allen darüber hinaus zielenden Freiheitsbestrebungen gegenüber entschieden feindlich verhielten. Die Münchener machen Revolution, wenn eine neue Steuer vom Bier erhoben werden soll, aber ich habe noch nicht gehört, dass sie für die Befreiung der Arbeit von der erdrückenden Last gesetzlicher Privilegien auch nur den kleinen Finger gerührt haben. Bei derartigen Betrachtungen kommt mir immer das Wort Heinzens in den Sinn: „Nieder mit dem Bier, solange es nicht heisst, hoch die Idee!“

Nach einer nahezu vierstündigen Fahrt langten wir in Plymouth Rock an. Die Stunde, die uns zum Aufenthalte daselbst gewährt war, wurde zur Aufsuchung der reichlich vorhandenen geschichtlichen Denkmäler benutzt. Hier landeten bekanntlich im Winter des Jahres 1620 jene Pilgrime, die auf der „Mayflower“ ein Reich suchten, das nicht von dieser Welt war, das Reich der Gedanken- und Gewissensfreiheit. Ihrer Gesinnungen wegen im alten Vaterlande verketzert und verfolgt, unterzogen sie sich selbstvertrauend und hoffnungsvoll den Entbehrungen und Mühseligkeiten, welche die Gründung eines freien Gemeinwesens in dem neuen Weltteil damals mit sich brachte. Anders als die Abenteurer, die sich auf die Jagd nach Gold begaben, waren diese Menschen ausgezogen, um einen Fleck Erde zu suchen, auf dem sie frei und sorglos ihrem besseren Selbste leben konnten. Leider vergassen sie später, als sie die Freiheit für sich errungen hatten, die Segnungen derselben auch den ihrem engeren Kreise fernstehenden Menschen zuteilwerden zu lassen. Ja, aus Verfolgten wurden sie selber zu Verfolgern. Das gilt namentlich von den Puritanern, welche bald nach der Niederlassung der Pilgrime auf Plymouth Rock von England herüberkamen und neue Ansiedlungen gründeten. Indem ich aber im Geiste durch die Zeiten zu ihnen hinüberschweifte, entdeckte ich immerhin manche Berührungspunkte und vieles, das mich sympathisch ansprach; wenn nicht die Gesamtheit, so doch bemerkenswerte Einzelheiten, welche auf das wahrhaft Grosse hinwiesen. Auch konnte ich, der ich mit meinen Gesinnungsgenossen selber in eine neue Welt gezogen bin, in die Welt des Anarchismus, mir einigermassen das harte und beschwerliche Leben mit seinen unendlichen Kämpfen und Sorgen vergegenwärtigen und würdigen, welches hier das Los der Pilgrime und Puritaner wurde. Haben wir doch ähnliche Pioniersarbeiten zu verrichten. Und obgleich der Felsen von Plymouth, wie ein deutsch-amerikanischer Dichter singt, noch keine goldnen Früchte getragen hat, so fand ich es doch schön und passend, dass ein „dankbares Volk“ auf einem auf einer Anhöhe errichteten, noch unvollendeten Monument im Namen „der religiösen und bürgerlichen Freiheit“ das Gedächtnis dieser Pioniere feiert, aber es erschien mir als eine traurige Illustration zu dieser Freiheit, „Pilgrim Hall“ mit ihren Sehenswürdigkeiten am Sonntage geschlossen zu finden. Mit grossem Interesse las ich auf einem Steine den Wortlaut des Vertrags, wonach die Passagiere an Bord der „Mayflower“ sich vereinbarten, auf dem neuen Grund und Boden ein freies, auf „gleichen und gerechten Gesetzen“ beruhendes Gemeinwesen zu gründen; es erweckte aber eine tiefe Wehmut in meiner Brust, als ich weiter las, dass dieser Vertrag am 11. November 1620 ausgefertigt und unterzeichnet wurde und sich mir die Betrachtung aufdrängte, dass die hier geborene Freiheit an einem anderen 11. November in Chicago erwürgt und zu Grabe getragen wurde.

Weitere Betrachtungen überlasse ich dem Leser. Hier nur noch die Frage: werden die Menschen ewig um die Freiheit kämpfen, nur um sie nach errungenem Sieg wieder zu zertreten? Heinzen verglich einmal die Freiheit mit dem Meer. Aller Unrat und aller Schmutz der Welt wird dem Meere zugeführt, aber mit selbstreinigender Kraft erhält es sich ewig frisch und klar und rein. Wird die Erkenntnis niemals tagen, dass auch die Freiheit ihrem innersten Wesen gemäss mit selbstreinigender Kraft alle schmutzigen, unsittlichen und feindlichen Elemente der Gesellschaft unerbittlich ausscheidet und nur das Reine, Gesunde und Starke duldet? Nur an diese Erkenntnis knüpfe ich meine Hoffnungen für die Freiheit.

G.S.

(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 5.)

Anmerkungen

  • Plymouth Rock ist heute noch ein beliebtes Ausflugsziel.
  • Der Name des Boots, „Nantasket“ bezieht sich auf einen Strand in der Umgebung Bostons.
  • Mein Onkel Benjamin (Mon oncle Benjamin) ist ein humoristisch-satirischer Roman des Franzosen Claude Tillier (1801–1844) aus dem Jahre 1843. Eine Übersetzung ins Amerikanische fertigte Benjamin Tucker an.
  • Zum Publizisten Karl Heinzen s. die Anmerkungen hier.

Die freie Konkurrenz.

Das zweite Wort der Staatssozialisten ist stets ein Verdammungsurteil über die freie Konkurrenz. Der schrankenlosen, freien Konkurrenz, wie sie das Ding auch nennen, wird ohne weiteres Forschen die Schuld für die herrschende Misere in die Schuhe geschoben. Für alle die sozialen Übelstände, über welche gerechter- und erfreulicherweise immer lautere Beschwerde geführt wird, machen die Anhänger des Staatssozialismus die freie Konkurrenz verantwortlich. Es fällt ihnen nicht ein, einmal zu untersuchen, ob es auch wirklich auf dem Gebiet der Industrie im wahren Sinne des Worts eine freie Konkurrenz gebe. Vergebens verweist man sie auf die Tatsache, dass die Konkurrenz nicht eigentlich eine freie ist, dass also die gegen sie erhobenen Anklagen nicht die freie Konkurrenz treffen, und dass es vielmehr eine unfreie Konkurrenz ist, aus welcher die heutigen sozialen Übelstände entspringen. Vergebens hält man ihnen vor, dass Bodenrente, Kapitalzins und Profit, diese Hauptformen des an der Arbeit verübten Raubs, gerade auf die gesetzliche Beschränkung und Unterdrückung der freien Konkurrenz zurückzuführen sind, und dass unter dem Walten wahrhaft freier Konkurrenz diese Ausbeutungsformen sich nicht erhalten könnten und die Arbeit in den Besitz ihres vollen Ertrags gelangen würde. Es nutzt alles nichts, die Staatssozialisten halten eigensinnig an der einmal angenommenen Ansicht fest. Vielleicht kann ich den Staatssozialisten gegenüber die Ansicht, welche die freie Konkurrenz mit der Herausbildung und dem Fortbestand der heutigen misslichen Eigentumsverhältnisse belastet, auf keine wirksamere Weise widerlegen als durch das nachfolgende Zitat aus einer Rede Lassalles:

Rodbertus hat Sie darauf hingewiesen; wie sind die jetzigen Besitzverhältnisse entstanden? Haben dieselben unter der Herrschaft der freien Konkurrenz begonnen? Sind die Grundsätze der heutigen Vermögensverhältnisse durch die freie industrielle Arbeit gelegt? Sie sind vielmehr das Produkt einer Vergangenheit von zwei Jahrtausenden. Diese haben die Grundlage gelegt für die heutigen Verhältnisse des Besitzes. In diesen zweitausend Jahren war erst Sklaverei, dann Leibeigenschaft, dann Hörigkeit und daneben Zunftzwang. Das sind alles Staatsinstitutionen gewesen, ganz positive Staatseinrichtungen. Unter diesen Einrichtungen und durch diese gezwungen haben Sie, resp. Ihre Vorfahren, als Sklaven, als Leibeigene, als zünftige Lehrlinge und Gesellen für die jetzigen besitzenden Klassen das Vermögen produziert, das sie nun haben. Kam endlich die Französische Revolution und proklamierte die Rechtsfreiheit und die freie Konkurrenz, aber natürlich behielten die Besitzenden das Vermögen, die Waffen, die Sie ihnen geschmiedet, und erlauben Ihnen nun, unbewaffnet, mit Ihren Nägeln und Zähnen in den Wettkampf, in die freie Konkurrenz mit eben den Kapitalien und Maschinen einzutreten, die Sie durch so viele Jahrhunderte hindurch für jene erarbeitet haben.

Aus diesem Zitat geht deutlich hervor, dass Lassalle nicht die freie Konkurrenz für die herrschenden ungleichen und ungerechten Eigentumsverhältnisse verantwortlich machte, sondern den Staat mit seinen gewaltsamen Eingriffen in das Erwerbsleben der Menschen. Daraus ergibt sich für den logischen Geist von selber die Forderung nach der Elimination des Staats aus dem Industrieleben des Volks und der Herstellung wirklich freier Konkurrenz.

Aber weil es nach der Meinung der Staatssozialisten nichts Gutes mit der freien Konkurrenz auf sich hat, weil sie nach ihrer Behauptung die Gütererzeugung und Verteilung nicht in Gemässheit mit dem Begriff der Gerechtigkeit zu regeln vermag, weisen sie die Aufgabe dieser Regulierung dem Staate zu. Als ob der Staat dies vermochte! Der durch diese Forderung bekundete sozialistische Staatsbegriff entspricht genau dem Gottesbegriff des religiösen Glaubens. Ohne einen Gott kann sich der religiöse Mensch das Weltall gar nicht vorstellen. Ähnlich ergeht es dem Staatssozialisten im Hinblick auf die Volkswirtschaft. Ohne den Staat würde sich nach seiner Behauptung der industrielle Verkehr des Volks in die hellste Unordnung auflösen.

Nun, wir haben ja den Staat, und man sieht’s täglich, wie es um die Ordnung bestellt ist.

Nein, wir brauchen keinen Staat, um auf dem Gebiet des Erwerbslebens Ordnung herzustellen und zu erhalten. Was wir brauchen, ist mehr Freiheit, wirkliche, durchgreifende freie Konkurrenz. Eine ideale Ordnung wird es nie geben, aber ich hege die feste Überzeugung, dass sich die grösstmögliche Annäherung an dieselbe aus dem freien Walten der natürlichen, durch keine staatlichen Zwangsmassregeln behinderten Gesetze des menschlichen Zusammenlebens und Verkehrs herausbilden wird. Die herrschende schreiende Unordnung ist nicht die Folge der freien Konkurrenz, noch wird sie durch dieselbe aufrechterhalten; diese Unordnung ist vielmehr eine Schöpfung des Monopols, des Staats.

Nieder mit dem Monopol! Es lebe die Konkurrenz, aber die freie Konkurrenz!

G. S.

(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 5.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Ferdinand Lassalle (1825–1864) war Schriftsteller, sozialistischer Politiker im Deutschen Bund und einer der Wortführer der frühen deutschen Arbeiterbewegung. Als Hauptinitiator und Präsident der ersten sozialdemokratischen Parteiorganisation im deutschen Sprachraum, des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), zählt er zu den Gründervätern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die 26 Jahre nach seinem Tod aus der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) hervorging.
  • Das Zitat Lassalles konnte bis zum jetzige Zeitpunkt noch nicht festgemacht werden; es kann vermutet werden, dass Schumm hier aus einem Briefwechsel zitiert.
  • Johann Karl Rodbertus (1805–1875) war ein deutscher Nationalökonom. Rodbertus gilt als Begründer des Staatssozialismus, verstanden als Verstaatlichung der Produktionsmittel und des politischen Monopols.

Herr Louis Prang von Boston bricht in einem wohldurchdachten Artikel im „American Lithographer and Printer“ eine Lanze für Freihandel. Sehr richtig finde ich es, dass er Protektion im Sinne des Staatssozialismus auffasst und verwirft. Aber wie Protektion auf den Staatssozialismus hinausläuft, so führt der konsequent durchgeführte Freihandel zum Anarchismus. Herr Prang sagt das nicht, aber ich vermute, dass er es versteht. Die meisten Freihändler verstehen es aber nicht.

(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 4.)

Anmerkungen

  • Es darf vermutet werden, dass der Verfasser dieser kurzen Notiz Tucker selbst war.
  • Der „American Lithographer and Printer“ war eine seit 1883 wöchentlich in New York erscheinende Branchen-Zeitung, herausgegeben von Fred. Buehring (Quelle).
  • Louis Prang (1824–1909) war ebenfalls ein aus Deutschland über die Schweiz in die USA emigrierter 1848er. Er war Drucker, Lithograf und Verleger und wurde bekannt als „Vater der amerikanischen Weihnachtskarte“.
  • Zum Thema Staatssozialismus, Freihandel und Anarchismus vgl. Tuckers Staatssozialismus und Anarchismus.

Theorie und Praxis.

Es ist die alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Ein Freund schreibt uns:

Ich lese Libertas regelmässig, muss aber gestehen, dass ich weiter davon entfernt bin, als je, ein Bekehrungskandidat zu sein. Ich glaube nicht, dass was in der Theorie wahr, in der Praxis anwendbar ist. Die aufs feinste ausgeführten Berechnungen in der Mathematik sind an und für sich richtig genug, – versuche sie praktisch anzuwenden, und die Feinheit geht verloren.

Nun, und was dann? Was ist der Schluss, den die Logik nicht nur unseres Freundes, sondern seiner unzähligen Glaubensgenossen aus dieser, der obigen Illustration entsprechenden Tatsache zu ziehen scheint? Dass wir der Mathematik den Rücken kehren und ihren Gesetzen zuwider unsere Vermessungen vornehmen, unsere Brücken bauen und unsere Maschinen konstruieren sollen; dass wir, weil es in der Praxis nicht möglich ist, zwei absolut parallele Linien zu ziehen, alle unsere Linien sich lieber gleich kreuzen lassen sollen; dass wir das Justieren und Polieren ganz unterlassen sollen, da das perpetuum mobile doch nicht dabei herauskommt? Nicht doch, es hat sich noch immer durch die Erfahrung erwiesen, dass in der angewandten Mathematik die grösste wissenschaftliche Genauigkeit die besten Erfolge erzielt, und dass ohne Richtscheit und Winkelmass selbst der einfachste Schuppen nicht hergestellt werden kann.

Aber die Menschen, die Menschen sind kein berechenbares Material. Es lässt sich einfach keine Theorie aufstellen, mit der Erwartung, dass die korrupten, schlechten, dummen und eigensinnigen Menschen derselben auch nur annähernd nahekommen. So wenden mir der unbekehrbare Leser von Libertas und seine Genossen ein. Und nun stehe ich vor dem geflügelten Wort, das wie ein Kaltwasserguss das Feuer einer jeden idealen Bestrebung abzukühlen sucht: „Was in der Theorie wahr ist, ist nicht immer in der Praxis ausführbar.“ Doch ich will mich von dieser Fledermaus – ein Vogel ist es doch nicht –, die mir bei jedem Schritt, den ich aus meiner Klause wage, gegen den Kopf anprallt, nicht so leicht verblüffen lassen, und will erst einmal untersuchen, wie weit diese viel gepriesenen Flügel sie zu tragen imstande sind.

Also wahr, richtig muss die Theorie doch sein, wenn sie überhaupt in Betracht kommen soll. Was aber macht die Wahrheit oder Richtigkeit einer Theorie aus? Doch nur die wissenschaftlich zu begründende Tatsache, auf der sie ruht.

Wenn der Grundsatz, dass der mit fünf gesunden Sinnen begabte Mensch nur in der Freiheit sich vollkommen entwickeln und glücklich fühlen kann – das ist die ganze dem Anarchismus zu Grunde liegende Theorie – richtig ist, so ist es auch wahr, dass nichts als die Freiheit imstande ist, den Menschen zum Glücke zu führen, ebenso sehr, wie es wahr ist, dass nichts als die Befolgung der Gesetze unserer physischen Natur unser körperliches Wohlbefinden sichern kann. Wir mögen diese Gesetze noch nicht genau kennen, und diejenigen, die wir kennen, mögen wir unter Umständen nicht imstande sein, zu befolgen, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass wir uns weder vollkommener Gesundheit noch vollkommener Kraft erfreuen können, solange wir in dieser Beziehung unwissend und unvermögend bleiben. Deshalb forschen auch Ärzte und Männer der Wissenschaft unermüdlich nach diesen Gesetzen und es fällt ihnen nicht ein, ihre Forschungen einzustellen, weil wir doch wahrscheinlich diese Gesetze, wenn sie aufgefunden sind, nicht ganz genau werden befolgen können, und den Laien fällt es nicht ein, ihre Bemühungen als nutzlos oder gar lächerlich und tollhäuslerisch hinzustellen.

Kommt es aber darauf an, die Gesetze der sozialen, geistigen und ethischen Gesundheit zu untersuchen, da wird es demselben Laien gleich angst und bange. Er fühlt, dass es ihm jetzt an seinen alten Schlendrian geht, dass er nicht mehr Gott einen guten Mann sein lassen kann, ohne vorher seinen Charakter einer Untersuchung unterworfen zu haben, dass er an alles einen neuen Massstab anlegen muss, an sein eigenes Gewissen, an sein Familien- und Geschäftsleben, an Staat und Gesellschaft, dass er, falls er die neue Lehre annimmt, sich gleich der ganzen denkfaulen, gewohnheitsduseligen Welt feindlich gegenüber stellen muss. Ich spreche jetzt nicht von dem Gegner, der sich aus wohldurchdachter Überzeugung oder aus Dummheit voll und ganz auf den Standpunkt stellt, dass unser Prinzip falsch ist, sondern von dem, der den Berg von Hindernissen und mühseliger geistiger Arbeit, die sich ihm bei dieser Frage in den Weg stellen, durch die bequeme Ausrede zu umgehen sucht: in der Theorie ist das Ding ganz richtig, aber praktisch unausführbar. Ist das Unehrlichkeit oder Dummheit?

Es ist entweder das Eine oder das Andere. Kein wahrhaft intelligenter Mensch kann der Konsequenz entgehen, dass was im Prinzip wirklich richtig, das heisst, kein blosses Hirngespinst oder phantastischer Traum ist, auch praktische Berücksichtigung finden muss, und in demselben Grade, in dem es vernachlässigt und vergewaltigt wird, Schaden und Leiden, Verlust und Unglück nach sich ziehen wird. Ein richtiges Prinzip ist sozusagen ein Naturgesetz und unerbittlich wie ein Naturgesetz. Es verlangt Gehorsam gleich einem Naturgesetz und bestraft jede Übertretung, wie die Natur sie bestraft. Pflanze die Eichel in eine Vase, die Vase zerspringt und die Pflanze verdirbt; pflanze sie in einen grossen Kübel, und das kleine Bäumchen ist ein elendes Exemplar im Vergleich mit dem Riesen auf der Wiese, der manches Menschenalter hindurch Wind und Wetter trotzt. Stecke das junge Mädchen in ein Kloster und mache eine Nonne aus ihr, du erzielst ein verkümmertes Dasein, das nie zur vollen Blüte gelangt. Die Menschen, wie sie sind, unedel, unzuverlässig, unschön an Leib und Seele, „nicht wert, dass man sich für sie opfert“, im Kampf uns Dasein entweder zu Blutsaugern oder zu elenden, ausgesaugten Krüppeln geworden, sind ein sprechendes Beispiel des Ungehorsams gegen ein richtiges Prinzip. Wir mögen geistig unfähig sein, dies zu verstehen, wir mögen die grossen Miseren der Welt nicht kennen, oder sie andern Ursachen zuschreiben, was soll aber dann das alberne Geschwätz von der Richtigkeit einer Theorie, die man nicht einmal als richtig anerkennt? Ist das nicht dumm und unehrlich zugleich?

Wer aber vorgibt, zu verstehen, um was es sich handelt, und demzufolge die Richtigkeit aber Unausführbarkeit der Theorie postuliert, der versteht entweder doch nicht, wovon er spricht, und sein unlogischer Geist zwingt uns keine Achtung ab, oder aber er versteht es und fürchtet sich vor den Konsequenzen, vor den etwaigen persönlichen Gefahren und Unbequemlichkeiten, die ihm aus einem offenen Bekenntnis erwachsen möchten. Er ist unehrlich, feige und verächtlich.

E.H.S.

(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 4.)

Anmerkung

Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.

Die Ofenhocker.

Die vorletzte Ausgabe des „Workmen’s Advocate“ veröffentlicht folgende Zuschrift aus Denver:

An den Workmen’s Adrocate:

O, welches Gefühl des Entzückens durchrieselte mich, als ich in der letzten Nummer von Liberty das Zwiegespräch zwischen Tucker und Fenno zu lesen begann. (Ego Tucker bedarf keiner Einführung, Fenno ist der Böse, der die Steuer zu kollektieren kam.) Meine Gedanken schweiften zurück in ein anderes Zeitalter und ein fernes Land. Ich gedachte John Hampdens, wie er sich weigerte, das Schiffsgeld zu zahlen. Ich hatte mich oft gefragt, wer wird der Führer sein im Kampfe des vierten Standes? „Wo ist der Mann mit dem Mut, sich der Unterdrückung zu widersetzen?“ Ich glaubte, die Antwort gefunden zu haben. Hier, hier war der Mann, der für die Freiheit alles aufs Spiel setzen wollte. Und ob sie ihn auch tötete, doch wollte er ihr vertrauen!

Aber sachte; wie ich weiter lese, nimmt er einen grossen eisernen Dollar aus seiner Tasche und gibt ihn dem Söldling.

O, der Schmach! Statt die Zahlung zu verweigern, erlaubt er sich, ein wenig zu schimpfen, – eine beliebte Kurzweil bei ihm. Er zahlt, und alles ist vorbei. Unser Götze ist von Ton, und wir müssen uns nach einem andern Führer umsehen. Ist das, was die Ego Anarchisten „passiven Widerstand“ nennen? Wenn so, ist er gewiss passiv.

H. J. FRENCH.

Als ich jenes Zwiegespräch mit dem Steuerkollektor veröffentlichte, sah ich voraus, dass es meine sozialistischen Kritiker zu derartigem Blech verleiten würde. Die Tatsache, dass ein zeitiger Rückzug oft vor einer Niederlage bewahrt, bewahrt den fliehenden Soldaten selten vor den Schmähungen der Ofenhocker. Gerade diejenigen, die immer hübsch zu Hause bleiben, sind grosse Ruhmeshelden, sie lassen es aber immer gern geschehen, dass Andre ihn erringen. In den Augen des Friedensmannes ist der Mann, der Fersengeld gibt, niemals ein Held, obgleich er dem wahren Soldaten als der Mutigste der Mutigen erscheinen mag. Nach dem man eine Kritik, wie die des Herrn French gelesen hat, kann man wohl mit Wilfrid Scawen Blunt ausrufen: „Was die Menschen Mut nennen, ist das am wenigsten Edle, dessen sie sich rühmen.“ Nach meiner Ansicht gibt es keine erbaulichere Feigheit, als diejenige des Mannes, der es nicht wagt, davonzulaufen. Denn er hat nicht den wahren Mut, dem Spuk der öffentlichen Meinung gegenüber, die zu verachten sein Geist sich noch nicht hinreichend emanzipiert hat, seinem eigenen Urteil zu folgen. In einer Lage, wo es aus der Wahl zwischen zwei Dilemmen hervorgehen muss, dass entweder die Narren einen Mann für einen Feigling oder die Weisen ihn für einen Narren halten werden, kann ich mir keinen möglichen Grund zur Unschlüssigkeit denken. Ich kenne meine Verhältnisse besser, als Herr French dieselben kennen kann, und ich erlaube ihm nicht, sich zu meinem Richter aufzuwerfen. Wenn es mir nach Ruhm verlangt, so weiss ich, wie ich denselben erlangen kann. Aber ich arbeite nicht um Ruhm. Gleich dem Ballspieler, der seine eigenen Nummern dem Erfolge seines Klubs opfert, „spiele ich für mein Gespann“, – das heisst, ich arbeite für meine Sache. Und ich weiss, dass es im Ganzen [Wort unleserlich] besser für meine Sache war, dass ich meine Steuer dieses Jahr zahlte, als wenn ich mich verweigert hätte, es zu tun. Ist das passiver Widerstand, fragt Herr French. Nein; es ist einfach ein Prosatext [?] zum Zwecke der Propaganda. Die Anhänger des passiven Widerstands haben nicht weniger, als die Anhänger des aktiven Widerstands das Recht, den Moment des Widerstands selber zu wählen.

Ich bin weit davon entfernt, die Verdienste der Hampdens und der von der Menschheit verehrten Märtyrer zu unterschätzen. Es gibt Zeiten, wo das von diesen Männern eingeschlagene Verfahren das denkbar beste ist, und dann gehören sie zu den Edelsten. Aber es gibt auch Zeiten, wo ein solches Verfahren der reinste Blödsinn wäre, und dann könnten vernünftige Menschen demselben keine Bewunderung zollen. Hat Herr French jemals von dem Angriff der „leichten Brigade“ zu Balaklava gehört? Und erinnert er sich der Bemerkung des Kriegsmannes, der ein Zeuge dieser denkwürdigen, dieser glänzenden, dieser wahnsinnigen Tat war, die nichts Anderes bezweckte, als die Niedermetzelung eines halben Tausend Menschen: „Es ist brillant, aber es ist nicht Kriegsführung.“ Der Redakteur von Libertas führt Krieg.

(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 4.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Leider sind die frei verfügbaren Scans der letzten beiden Ausgaben der Libertas von schlechter Qualität, sodass trotz Nachbearbeitung einige Stellen schlicht unleserlich bleiben.
  • Der „Workmen’s Advocate“ erschien 1883–1891 in New Haven, Conn., und wurde vom National Executive Committee of the Socialist Labor Party herausgegeben. Im März 1891 ersetzte die Socialistic Labor Party den „Workmen’s Advocate“ durch eine neue und grössere Wochenzeitung mit dem Titel „The People“ mit Sitz in New York.
  • John Hampden (um 1594–1643) war ein englischer Politiker. Im Jahre 1636 weigerte er sich, dem königlichen Steuereintreiber das „Schiffsgeld“ zu zahlen – eine Steuer, die vom Unterhaus nicht bestätigt worden war. Der darauffolgende Prozess vor dem obersten Gerichtshof, in dem er verurteilt wurde, trug ihm grosse Popularität ein und führte zum Anwachsen der bürgerlichen Opposition gegen den Absolutismus.
  • Wilfrid Scawen Blunt (1840–1922) war ein britischer Poet. Er war Gegner des britischen Imperialismus. 1888 wurde er wegen einer angeblichen homosexuellen Affäre mit seinem Cousin inhaftiert, als Verhaftungsgrund wurde jedoch vom obersten Richter offiziell seine politische Gesinnung angegeben, sodass für Blunt nicht die Möglichkeit bestand, sich angemessen zu verteidigen.
  • Der vorliegende Text lässt sich eindeutig Tucker zuordnen, auch wenn er nicht namentlich gezeichnet ist.

„Die Frauenfrage.“

Möglicherweise auf Kosten meines Rufs als ein Radikaler, sicherlich aber zur Unterhaltung und Anregung der Leser von Libertas, gedenke ich in diesem Artikel einige konservative Gedanken in Bezug auf die sogenannte Frauenfrage auszusprechen. Ich unterziehe mich dieser Arbeit nicht so sehr, um meine eigenen Ansichten darzulegen, als vielmehr, um auf diese Weise eine gründliche Formulierung und Klarstellung der Ansichten Andersdenkender zu provozieren. Die Diskussion (wenn es so bezeichnet werden kann) der Frauenfrage beschränkte sich bisher auf Allgemeinheiten und Trivialitäten, während man es als ein absolutes Erfordernis eines fortschrittlichen und freisinnigen Denkers betrachtete, dass er sich zu dem Dogma von der Gleichheit der Geschlechter bekannte und sich mit billigem Geschwätz über die ökonomische Emanzipation, gleiche Rechte, etc., des „schwächeren Geschlechts“ abgab. Indem ich es ablehne, dieses Gerede papageienartig nachzuplappern, verlange eine solide Begründung des Standpunkts, den ich bei allem guten Willen zurzeit nicht als wohlbegründet erachten kann.

Aber man erlaube mir, zum voraus zu erklären, dass ich nicht ein Wort gegen die Forderung – welche, leider! nicht sehr laut und bestimmt ist seitens der Frauen einzuwenden habe, die sich in den Worten gibt, „Ein freies Feld und keine Vorrechte.“ Ich bekenne mich bedingungslos zur Freiheit für Mann, Weib und Kind. Soweit ich Proudhons Ansicht in Bezug auf die Aufgabe und Sphäre der Frau kenne, verwerfe ich sie gänzlich, während ich es als willkürlich, unlogisch und mit seiner ganzen Philosophie im Widerspruch stehend betrachte, dass er die Regelung der Familienverhältnisse aus dem Gebiet des freien Übereinkommens entfernt. Noch bin ich anderseits eifersüchtig auf die von der Bourgeoisie den Frauen erteilten Privilegien und erwiesenen Huldigungen, und teile nicht im Entferntesten die Meinung von E. Belfort Bax, welcher sich gegen eine angebliche von den Frauen über die Männer ausgeübte Tyrannei ereifert. Ohne die Existenz einer solchen „Tyrannei“ zu leugnen, behaupte ich, dass Herr Bax deren wabre Natur gänzlich verkennt. Männliche Herablassung betrachtet er als Unterwerfung; und die Merkzeichen weiblicher Degradation und Sklaverei verwandeln sich unter seinem schiefen Blick in Eigenschaften der Selbstherrlichkeit. Tchernychewsky bekundet die richtige Auffassung dieses Gegenstandes, wenn er Véra Pavlovna sagen lässt: „Männer sollten nicht die Hände der Frauen küssen, indem darin für Frauen eine Beleidigung liegt, denn es bedeutet, dass die Männer sie nicht als menschliche Wesen betrachten wie sich selbst, sondern der Ansicht huldigen, dass sie sich vor einer Frau in keiner Weise ihrer Würde begeben können, so tief unter ihnen steht sie, und dass keinerlei der Frau erzeigte affektierte Achtung ihre eigene Superiorität vermindern könne.“ Was Herrn Bax auf Seite der Männer als Servilität erscheint, ist eigentlich nur dem Schaden noch hinzugefügter Spott.

Indem ich also die Tatsache des Schadens und Spottes, über welche sich die Frau beklagt, anerkenne, sympathisiere ich mit ihrem Streben zur Erlangung des Rechts der Selbstbestimmung wie der Freiheit und Gelegenheit für ihre Entwicklung. Und wenn der Wunsch, ihres eigenen Glückes Schmied zu sein, den ganzen Inhalt und das ganze Wesen der Frauenfrage ausmachte, dann wäre letztere für mich eine überwundene Frage gewesen.

Fürs Erste sind die Frauen Sklaven des Kapitals. Soweit ist ihre Sache die Sache auch der Männer, obwohl das Joch des Kapitalismus mit erdrückenderer Wucht auf ihnen lastet. Diese Sklaverei würde Staat und Gesetz nicht einen einzigen Tag überdauern, denn ihr Fortbestand zieht seine Nahrung aus keiner andern Wurzel.

Ausser dieser Last der ökonomischen Abhängigkeit, sind die Frauen noch dem Elend unterworfen, das Eigentum, die Werkzeuge und die Spielpuppen der Männer zu sein, ohne die Macht, gegen den Gebrauch ihrer Person, ohne ein Mittel, gegen den Missbrauch derselben seitens ihrer männlichen Beherrscher zu protestieren und sich zu wehren. Diese Sklaverei ist durch Sitte, Vorurteil, Überlieferung und die herrschenden Anschauungen über Moral und Reinheit geheiligt. Intelligenz ist das Heilmittel dafür. Männliche Rohheit und Grausamkeit werden in demselben Grabe verschwinden, in welchem aller Aberglauben und alle fixe Ideen der Männer wie Frauen für ewig bei Seite gelegt werden.

Normale ökonomische Verhältnisse wie vermehrte Gelegenheiten für intellektuelle Entwicklung sind in diesem Falle, wie in allen andren auf das soziale Problem bezüglichen Fällen, die unerlässlichen Bedingungen des Fortschritts. Es wäre müssig, die Möglichkeit irgendeiner Veränderung unter den heutigen industriellen und politischen Einrichtungen zu besprechen. Die Frau muss sich heutzutage damit begnügen, die ihrem Herzen zunächst liegende Sache indirekt zu fördern. Sie muss einfach ihre Macht – und selbst der Selbstsüchtigste unter uns wird ihr mehr Macht wünschen – mit derjenigen des Mannes vereinigen zu dem Versuch, zwischen Kapital und Arbeit die gerechten Beziehungen zu schaffen. Und erst nachdem die materielle Grundlage der neuen sozialen Ordnung erfolgreich gelegt sein wird, wird die eigentliche Frauenfrage hervortreten und die Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nehmen.

Lassen Sie uns hier den Versuch machen, das Problem, das Heilmittel, sowie den Gedankengang, aus welchem sich erstere ergeben, kurz zusammenzufassen, soweit wir den Standpunkt der fortgeschrittensten Radikalen in unseren Reihen verstehen.

„Die Frau muss im Genuss gleicher Rechte und gleicher Freiheit und mit dem Manne in jeder Hinsicht auf gleichem Fusse stehen. Sie müssen ihre Verträge auf der Basis absolut gleicher Bedingungen abschliessen.“ Wie ist dieses Verhältnis herzustellen und aufrechtzuerhalten?

„Für Frauen, welche frei sein und bleiben wollen, ist die ökonomische Unabhängigkeit die erste und wichtigste Erwägung. Wenn die Frau aufhört, für sich selber zu sorgen und sich für ihren Lebensunterhalt an den Mann zu wenden beginnt, entäussert sie sich ihrer Unabhängigkeit, ihrer Würde und der Gewalt, sich Achtung zu verschaffen. Volle Kontrolle über ihre eigene Person wie über ihre Sprösslinge ist das nächste wesentliche Erfordernis. Sie muss sich niemals des Rechts begeben, über ihre Reize frei zu verfügen, und an niemand muss sie aus Privilegium abtreten, die Bedingungen zu bestimmen, unter welchen sie den Beruf der Mutterschaft übnehmen soll. Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit.“

„Da der Kommunismus das Grab der Individualität ist, muss sich die Frau davor hüten, je ihr eigenes Privatheim aufzugeben, über welches sie selbstherrlich waltet, um auf das Gebiet des Mannes überzugehen. Jemand muss in der Familie herrschen und die Chancen sind entschieden dagegen, dass die Oberherrlichkeit in ihre Hände gerate, selbst wenn dies der andern Alternative vorzuziehen sein sollte.“

„Das Ideal ist folglich: unabhängige Männer und Frauen, in unabhängigen Häuslichkeiten ein getrenntes und unabhängiges Leben führend, mit der vollen Freiheit, Verhältnisse einzugehen und zu lösen, wie mit vollkommen gleichen Gelegenheiten und Rechten an Glückseligkeit, Entwicklung und Liebe.“

Schön wie dieses Ideal einigen Leuten erscheinen mag, muss ich gestehen, dass es mich nicht mit Begeisterung erfüllt. Im Gegenteil erscheint es mir als unnatürlich, unmöglich und gänzlich utopisch. Indem ich die Freiheit bewillkommne, sehe ich keine solchen Resultate voraus.

Möge kein Leser voreilig meinen Mangel an nüchternem Denken verurteilen und mich für einen Sentimentalisten und Träumer erklären. Ich bin die Prosa und Nüchternheit selber. Der „moralische Sinn“ geht mir gänzlich ab. Das Verbrechen erweckt keine Indignation in meiner Brust, das Laster erfüllt mich nicht mit Abscheu. Die „Tugend“ besitzt in mir einen sehr kleinmütigen Verfechter. Zum Beispiel, das Gezeter und Geschrei gegen die Prostitution bewegt mich nie zu einem starken Gefühlsausbruch. Ich kann nicht anders, als es für durchaus passend und natürlich zu betrachten, dass eine Frau für den geschlechtlichen Verkehr mit Männern pekuniäre Vergütung akzeptiere, gerade wie sie eine solche Vergütung akzeptiert für andere Dienstleistungen, welche die Verausgabung von Zeit und Arbeitskraft bedingen. Die Idee der Heiligkeit des Geschlechts erscheint mir als ein Überbleibsel und Resultat des altertümlichen Kultus der Geschlechtsorgane, welchen die christliche Theologie unbewusster Weise assimilierte und ihren eignen mystischen Lehren einverleibte. Und, obgleich die Mysterien der Liebe noch unerklärt sind, so darf man doch a priori die Behauptung wagen, dass ein gut Teil dessen, was darüber geschrieben worden ist, Unsinn und pure Einbildung ist. Daraus mag man ersehen, dass, was ich über diesen Gegenstand zu sagen habe, nicht aus dem Gemüt stammt, sondern das Resultat ruhigen Denkens und reifer Überlegung ist.

„Das Recht“ ist ein wohlklingendes Synonym für „die Macht“, eine melodische und milde Bezeichnung, welche den religiösen Bunthornes das harsche „Macht“ ersetzt. Das „Recht“ an eine Sache bedeutet das Vermögen, dieselbe vorteilhaft zu sichern. Die Rechte eines Individuums sind durch seine körperlichen und geistigen Eigenschaften bestimmt. Dasselbe hat ein Recht, alles anzueignen und zu geniessen, was in seiner Macht liegt. Wenn alle Menschen intelligent und geistig frei wären, dann gäbe es keine Veranlassung für theoretische Aufklärung und die Propaganda des Prinzips der Rechtsgleichheit. Jeder verbliebe selbstverständlich im vollen Besitze seines Eigentums. Aber in Ermangelung dieser Intelligenz herrscht das Chaos. Einige bringen es fertig, Anteile zu erlangen, welche ihr individuelles Vermögen nach dieser Richtung weit übersteigen, und andere lassen es unwissender- und stupiderweise zu, dass pfiffige Leute sie mir nichts, dir nichts in ihren Dienst stellen und missbrauchen. Folglich ist es geboten, ihnen die Augen über die Tatsache zu öffnen, dass ihre Resultate ausser allem Verhältnis zu ihrer Verausgabung von Energie stehen, sowie sie über ihre vollkommene Fähigkeit zu belehren, sich den ganzen Ertrag zu verschaffen und zu behalten ohne irgendwelche äussere Unterstützung. Anstatt aber zu sagen, „Ihr könnt es nehmen“, sind wir genötigt, von ihrem „Recht“, es zu nehmen, zu sprechen, so haben Gaukler und listige Gauner ihre Ideen bezüglich der wahren und wirklichen Eigentumstitel verwirrt. Aber es ist klar, dass sich niemand über das Recht, etwas zu tun, das nicht getan werden kann, herumstreiten würde.

Was wird von diesem Standpunkt aus aus der Forderung gleicher Rechte und Gelegenheiten in den Beziehungen der Geschlechter? „Worte, Worte, Worte“, ohne Sinn und Bedeutung. Was nützen der Frau alle Protestationen und Forderungen nach Gleichstellung mit dem Manne, da die Natur sie doch mit so entschiedenen Nachteilen auf den Lebenspfad gesetzt hat? Um einen ihrer stärksten natürlichen Triebe zu befriedigen, muss sie sich mit dem Manne in ein Verhältnis einlassen, dessen bürdevolle und schmerzliche Folgen sie allein zu tragen hat. Während die Beteiligung des Mannes dabei durchgängig eine angenehme ist, erkauft sich die Frau ihr Vergnügen zu einem enormen Preis. Und der Verlust der Frau ist hier des Mannes reiner Gewinn. Bis zu dem Augenblick, wo sich die Frau mit dem Manne zum Zwecke der Fortpflanzung verbindet, mag sie als dem Manne ebenbürtig betrachtet werden, – abgesehen von physischer Stärke, Gewicht und Qualität des Gehirns, etc., was hier weder besprochen werden kann noch muss. Unter gerechten und normalen Verhältnissen würde ein junges Mädchen in Bezug auf die Versorgung ihrer materiellen und geistigen Bedürfnisse dieselben gleichen Rechte geniessen, wie der junge Mann. Ökonomische Unabhängigkeit, Erziehung, Bildung und Veredlung, – alles dieses wäre innerhalb ihres individuellen Bereichs. Aber sobald sie mit dem Manne ein Liebesverhältnis eingeht und elterliche Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten übernimmt, ist alles plötzlich anders. Sie ist nicht länger die Ebenbürtige ihres männlichen Genossen. Einige Zeit vor und lange Zeit nach der Geburt ihres Kindes ist sie nicht imstande, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und sich selber zu versorgen. Sie bedarf fremder Pflege, Hilfe und Dienste. Sie ist auf den Mann angewiesen, den sie zum Vater ihres Kindes gemacht hat, und dem aus dem neuen Verhältnis keine Unannehmlichkeiten erwachsen sind. Mit der Gleichheit der Bedingungen für die eigene Versorgung verschwindet jede andere Gleichheit – eine Tatsache, welche die Befürworter der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht allein gut genug kennen, sondern die sie auch fortwährend als ein ausgezeichnetes Argument zu Gunsten der ökonomischen Unabhängigkeit der Frauen vorbringen. Sicherlich sollten sie also auch nicht die grausame, Illusion-zersetzende Tatsache der natürlichen Ungleichheit der Geschlechter vernachlässigen, welche aus der grossen Verschiedenheit der Folgen entsteht, welche der die Fortpflanzung bezweckende geschlechtliche Verkehr für die dabei Beteiligten nach sich zieht. Die Frauen müssen entweder von ihren männlichen Genossen die Deckung des bei dieser Gelegenheit für sie entstehenden Defizits erwarten, – und damit würde der Grund gelegt für den Despotismus auf der einen und die Unterwerfung auf der andern Seite, – oder aber sich den Lebensunterhalt sichern durch übermässige Arbeitsleistung oder ökonomische Haushaltung während den von den angeführten Bürden und Beschwerden freien Zwischenräumen, – und damit würde das Dasein für sie erschwert wie die Gelegenheit für Bildung und Lebensgenuss vermindert. In beiden Fällen – Ungleichheit.

„Geringe Kinderzahl“, so lautet zweifellos eine als Lösung dieser Schwierigkeit vorgeschlagene Antwort. Aber ist das zu wünschen und ist es im Einklang mit unserer Auffassung eines künftigen glücklichen Zustandes? Kinder sind eine Freude und ein Segen für Eltern, welche die Armut oder die Furcht vor der Armut nicht in unnatürliche, misstrauische, brutale und ewig unzufriedene Wesen verwandelt. Ich teile nicht gerade Herrn Lloyd’s Zweifel hinsichtlich der Vorzüglichkeit des Mottos, „Mehr und bessere Kinder“, im Vergleich mit dem Motto, „Weniger und bessere Kinder“; denn, obgleich kein Malthusianer, bin ich doch der Ansicht, dass einige Gesellschaftsklassen ihre Tätigkeit in Sachen der Fortpflanzung sehr wohl mässigen könnten. Aber ich glaube nicht, dass menschliches Glück etwas dabei gewänne, wenn die Einschränkung zum Extrem geführt würde. Ausserdem kann diese Kontrolle über die Natur einzig auf dem Wege künstlicher Schutzmittel oder durch Beobachtung der Enthaltsamkeit erfolgreich durchgeführt werden, – Methoden, die niemand empfehlen wird, es sei denn als notwendige Übel, zu welchen man aber nie greifen soll ohne triftige Gründe.

Allerdings, wenn – wie es ziemlich festgestellt zu sein scheint – geistige Betätigung, Zutritt zu andern Vergnügungen und im Allgemeinen eine komfortable Lebensstellung in der Tat eine Mässigung der Fruchtbarkeit und eine Verringerung der Geburten bewirken, dann wird dies letztere Problem unter den neuen Lebensbedingungen in sehr glücklicher Weise gelöst sein. Aber diese Aussicht, während sie die Herzen der Befürworter kleiner Familien erfreuen mag, schafft kaum eine Erleichterung für diejenigen, mit derer Lage wir hier hauptsächlich beschäftigt sind.

Voraussetzend, dass der Geschlechtstrieb bei den Frauen nicht stärker ist als bei den Männern (einige halten dafür, dass er viel stärker sei), wird sich bei diesem natürlichen Antagonismus stets ein Vorherrschen von Mächten und Einflüssen zu Gunsten des Mannes geltend machen. Der Mann hat kein Motiv, sich die Befriedigung des Geschlechtstriebs zu versagen ausser insofern, als er abgeneigt sein mag, Schmerz und Leiden zu verschulden oder auch nur seine Lieben dasselbe ertragen zu sehen, während die Frau, wie wir gesehen haben, ihre höchsten Interessen aufs Spiel setzt, wenn sie ihren natürlichen Trieben folgt.

Indem ich es den Befürwortern des unabhängigen Heims überlasse, diese Schwierigkeiten für mich zu lösen, möchte ich hier die Frage aufwerfen, worin das Übel oder die Gefahr des Familienlebens bestehen würde, wenn es, nachdem unter einem rationelleren industriellen System die ökonomische Notwendigkeit desselben, soweit die Frau in Betracht kommt, beseitigt wäre, zur Förderung der höheren Zwecke und auf freien Wunsch beider Teile des Vertrags erhalten werden sollte? Warum sollten die Liebesverhältnisse nicht so ziemlich wie heute bleiben? Würde sich nicht nach Abschaffung der Tyrannei wie der impertinenten Einmischung von Staat und Kirche das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau stets als ein Verhältnis zwischen wahrhaft Liebenden erweisen? Zwischen wahrhaft Liebenden, die sich wirklich ergeben sind, ist das Verhältnis ein ideales. Aber die gesetzliche Ehe ist das Grab der Liebe; materielle Bedingungen wie die herkömmlichen Begriffe von Tugend und Moral zerstören die Individualität der verheirateten Frau, und sie wird zum Eigentum ihres Ehemannes. Man beseitige diese, und das Zusammenleben hört auf, ein Übel zu sein. Die Familienverhältnisse in jenem Zustand werden sich als vollkommen erweisen, solange sie überhaupt bestehen werden.

Die Leser von „Was tun?“ wissen, wie Tchernychewskys Heroen ihr eheliches Leben einrichteten. Dagegen wie gegen ähnliche Pläne gibt es keinen Einwand. Es hängt ab von Temperament und Geschmack der einzelnen Personen. Aber warum ein Mann für die Frau, die er liebt, kein „Heim gründen” soll, kann ich nicht einsehen. Während er den Lebensunterhalt besorgt, erzieht sie die Kinder und umgibt ihn mit Komfort. Wenn sie nicht mehr glücklich zusammen leben können, gehen sie auseinander. Und wie in der Welt des Handels die Furcht vor wahrscheinlicher Konkurrenz genügt, um ein monopolistisches Unrecht zu verhüten, ohne die Konkurrenz wirklich hervorzurufen, so wird auch in dem auf der Freiheit beruhenden Familienleben die Wahrscheinlichkeit oder vielmehr Gewissheit der Empörung seitens der Frau auf die geringste despotische Kundgebung hin den Mann zur Vorsicht in seinem Betragen ermahnen, und folglich zu Frieden und Achtung zwischen ihnen führen.

Ich verschliesse mich nicht gegen die Tatsache, dass mein Ideal das Element des Kommunismus enthält, und auch für die gegebene Zeit die Vereinigung der Liebe auf eine Person des entgegengesetzten Geschlechts bedingt. Aber solange dies eine spontane Folge der Freiheit ist, ist es theoretisch nicht mehr zu beklagen als besonders anzuempfehlen. Persönlich halte ich aber dafür, dass zwischen Liebenden der Kommunismus in einer Form unvermeidlich ist, und dass die „Varietät“ in der Liebe nur ein temporäres Bedürfnis einer gewissen Periode ist. Ein gewisses Mass von Erfahrung ist in Sachen der Liebe ebenso geboten, wie in irgendeinem andern Zweige menschlicher Angelegenheiten. Varietät mag ebenso gut die Mutter der Einheit (oder besser, der Zweiheit) sein, wie Freiheit die Mutter der Ordnung ist. Die Unbeständigkeit junger Leute ist sprichwörtlich. Aber die Freiheit, zu experimentieren und Studien in der Liebe zu machen, könnte dahin führen, dass jeder Apollo schliesslich seine Venus findet und sich mit ihr in ein harmonisches und idyllisches Leben zurückzieht.

Über die letzten beiden Phasen dieser Frage könnte noch viel mehr gesagt werden. Ich werde bei einer späteren Gelegenheit auf sie zurückkommen.

Meine Auslassungen sind weit davon entfernt, systematisch oder klar zu sein, aber es ist nicht meine Absicht, irgendetwas Positives und Endgültiges vorzubringen. Ich wünsche einfach, eine Diskussion anzuregen und von denjenigen Lesern von Liberty, welche, im Gegensatz zum Schreiber dieses, eine mehr oder weniger vollständige Lösung der „Frauenfrage“ im Geiste tragen, eine bestimmte und gründliche Erörterung derselben zu fordern.

VICTOR.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 6–7.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Der Verfasser dieses aus der englischen Liberty übernommenen Textes bleibt unbekannt. Wahrscheinlich handelt es sich nicht um Victor Yarros.
  • Ernest Belfort Bax (1854–1926) war ein britischer Journalist und gilt als einer der führenden Philosophen des britischen Marxismus in der spätviktorianischen Ära. Er war erklärter Antifeminist.
  • Beim erwähnten Tchernychewsky handelt es sich um den russischen Schriftsteller, Publizist, Literaturkritiker und Revolutionär Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828–1889). Tschernyschewskis Roman Was tun? (Что делать?) hatte grossen Einfluss auf die russische Intelligenzija und trug zur Entfaltung einer revolutionären Dynamik bei.
  • Beim angesprochenen Herrn Lloyd, dessen Zweifel der Verfasse nicht teilt, handelt es sich wohl um den ebenfalls für die Libertas und die Liberty schreibenden John W. Lloyd (s. die Anmerkungen hier).

Die „Galveston News“ behauptet, dass nicht Kenntnisse und Weisheit genug in allen Regierungen der ganzen Welt vorhanden seien, um beim besten Willen den Bedarf an Vegetabilien und Obst einer einzigen Stadt so gut zu regulieren, wie dies auf einer freien Wagenstrasse durch die Farmer, Gärtner und Käufer selbst geschieht. Die Produzenten vermehren die Erzeugnisse, um die grössere Nachfrage zu befriedigen, und die Käufer nehmen den Überfluss, wenn der Preis sinkt, weil sie wissen, dass das Angebot nachlassen wird. Die Regierungen sind ungefähr die „dümmsten Jungen“, die es gibt, wo es sich um Angelegenheiten der Individuen handelt, und sind im Durchschnitt auch nicht viel wert zur Erfüllung ihrer eigentlichen Pflichten – Erhaltung des Friedens und Ausübung voller Gerechtigkeit gegen alle Klassen. Überliesse man die Menschen ganz sich selbst, so würden sie nicht so viele Torheiten begehen, als unter der Vormundschaft unserer erbärmlichen Regierungen und Gesetzgeber.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 7.)

Anmerkung

Die erwähnte Tageszeitung wurde 1842 als „Daily News“ in Galveston, Texas gegründet und existiert nach einigen Änderungen des Namens immer noch als „The Daily News“. Es handelt sich um die älteste Tageszeitung in Texas.

Macht ist Recht.

Es gibt zwei Sorten von Menschen, welche den Staat als Inhaber der Macht verehren, und ihm als solchem auch die Kompetenz zuerkennen, über die Begriffe von Recht und Unrecht zu entscheiden. Die eine dieser beiden Sorten wird gebildet von den extremen Monarchisten, für welche der Staat sich in dem Monarchen konzentriert, welch Letzterer die zur Bestimmung des wahren Rechtes erforderliche Weisheit direkt von Gott bezieht. Die andere der beiden erwähnten Menschensorten sind unsere strenggläubigen Republikaner, für welche das Menschengeschlecht mit den Pilgervätern, die Weltgeschichte mit Washington beginnt, und welche Niemanden als Mensch anerkennen, ohne dass er sich durch die vorschriftsmässige Feier des Sabbats und durch die richtige Begeisterung für den vierten Juli legitimiert.

Die Formel des Rechtes für die erstere der beiden Menschensorten heisst: „Der König will’s“, für die letztere: „Die Mehrheit regiert.“ Der Unterschied in diesen beiden Rechtsformeln mag auf den ersten Blick gross erscheinen, ist in Wirklichkeit aber ganz unwesentlich. In beiden ist Gott die Quelle der Rechtsbegriffe, Gott erleuchtet den Verstand des Königs, dass er nur das Rechte befiehlt, und Gott regiert die Majorität, dass sie nur den richtigen Stimmzettel in den Kasten werfen kann.

Nun gibt es heutzutage noch eine dritte Menschensorte, welche weder die Unfehlbarkeit des Königs, noch die der Majorität als selbstverständlich betrachtet. Die Zahl dieser Zweifler ist allem Anschein nach schon grösser, als die der Strenggläubigen. Mit dem Zweifel regt sich die Kritik, und diese bringt immer mehr Tatsachen zum Vorschein, welche sowohl den Willen des Königs, als auch das Votum der Majorität als die ungeeignetsten Autoritäten zur Bestimmung des Rechtes hinstellen. In der Wissenschaft hat man diese Tatsachen längst erkannt und auch praktisch anerkannt, indem man die Entscheidung wissenschaftlicher Fragen weder der offiziellen Diktatur eines Einzelnen, noch einem Majoritätsvotum anvertraut: „Über wissenschaftliche Fragen darf nicht abgestimmt werden!“

Warum macht man es in der Politik nicht auch so? Diese Frage gilt natürlich nur der letzten von den drei aufgeführten Menschensorten; die beiden ersteren handeln nämlich ganz konsequent, wenn sie Gehorsam, entweder gegen den Willen des Gottgesalbten, oder gegen das Votum der Majorität, als das höchste Gebot des Rechtes, verlangen; diese letzte Menschensorte aber, wie kommt sie dazu, so hartnäckig auf die Notwendigkeit der Herrschaft (wenn auch nicht eines Fürsten) so doch einer Majorität, hinzuweisen? Sie schwärmt bei allem scheinbaren Enthusiasmus für die Majoritätsherrschaft doch fast immer für Freiheit, was man beim besten Willen nicht anders deuten kann, als das Verlangen nach Einschränkung der Herrschaft.

Soviel ich sehen kann, sind es zwei Gründe, mit welchen diese Menschen ihr sonderbares Verhalten rechtfertigen wollen: Erstens glauben sie, und zwar mit Recht, dass die Menschheit das, was man Zivilisation nennt, nur bei geordnetem Zusammenleben bewahren und vervollkommnen kann; zweitens sind sie überzeugt, dass die sündige menschliche Natur immer dahin strebt, dass der Stärkere über den Schwächeren sich die Herrschaft aneigne, und dass diese Herrschaft am erträglichsten sei und dem Rechte am nächsten komme, wenn sie von der Majorität ausgeübt werde. Auch das ist richtig, ja es darf sogar behauptet werden, dass die wirkliche Majorität ihren Willen auch durchführen kann, weil sie die Macht dazu hat, und dass die Ausrottung dieser Macht eine Unmöglichkeit ist.

„Wo bleibt denn da der Anarchist?“, wird mancher verwundert fragen; der hat ja ebenso wenig Lust, in den „Urzustand“ zurückzukehren, wie Herr Boppe, und für das Vergnügen, seinem Stammverwandten, dem Affen, wieder brüderlich die Hand zu reichen, kann er sich auch nicht begeistern, und trotz alledem glaubt er auch nicht an ein mögliches Avancement zum Engel, von welchem selbst Herr Boppe grosses Heil für den Anarchismus erwartet. Ja, dieser Anarchist wird noch Herrn Boppe dazu treiben, die individuelle Freiheit gegen ihn zu verteidigen; denn er bekennt sich zu dem Grundsatze: „Macht ist Recht.“ Aha! Jetzt haben wir’s; das ist Einer von den Dynamitanarchisten!

Diese Besorgnisse und Vermutungen sind alle falsch. Als Anarchist bekämpfe ich den Staat eben weil er es verhindert, dass Macht auch Recht sei. Die Ansicht ist eben falsch, dass der Staat, ob monarchisch oder republikanisch, der wirklichen Macht die Sorge für das Recht anvertraue, sondern beide fesseln die Macht in ihrer natürlichen Tendenz, das wirkliche Recht auszuführen.

Die wirkliche Macht ist die Summe der vereinten Kräfte der meisten Menschen in einer gesellschaftlichen Organisation. Das wirkliche Recht (insofern es nämlich praktische Bedeutung hat) ist die Summe der individuellen Wünsche dieser Majorität. Ein absolutes Recht lässt sich überhaupt nicht aufstellen. Die Begründung unserer Rechtsbegriffe ist in dem Sprichwort gegeben: „Was du nicht willst, das mau dir tu’, das füg’ auch keinem Andern zu.“ Hiernach müssen wir das, was wir für uns selber als Recht beanspruchen, auch Andern als solches zugestehen, und die Handlungen, welche wir als ein uns zugefügtes Unrecht betrachten würden, auch, wenn sie gegen Andere gerichtet sind, als solches ansehen. Macht jemand in dieser Beziehung einen Unterschied zwischen sich und Anderen, so gerät er mit sich selbst in Widerspruch, und mit dem Nachweis dieses Widerspruches überführt man ihn eines Unrechtes. Weiter aber kann unsere Definition von Recht und Unrecht nicht gehen. Wenn es z. B. ein chinesischer Mandarin für Recht hält, dass er sich selber auf Befehl seines Herren den Bauch aufschlitze, so kann man ihm auch nicht beweisen, dass es unrecht sei, wenn er willkürlich mit dem Leben seiner Untergebenen verfährt.

Hat denn nun die Macht, wie ich sie vorhin definiert habe, eine natürliche Tendenz, das soeben erklärte Recht auszuüben? Liegt in jedem Individuum von Natur die Neigung, keinen Unterschied in der Auffassung des eigenen Rechtes und des fremden zu machen? Es wäre eine starke Anmassung, diese Frage zu bejahen. Nein, auch bei dem besten Menschen wird noch ein Unterschied zu Gunsten des eigenen Ich gemacht. In einer Gesellschaft aber, wo jedes Ich den gleichen Spielraum hat, wird diesem Hang zur ungleichartigen Beurteilung des Rechtes eine natürliche Grenze gesetzt; das Streben des Einen nach Bevorzugung seines Ichs, wird durch das gleiche Streben des Anderen in Schranken gehalten, und der beständige Widerstand hemmt die Entwicklung der natürlichen bösen Neigung. Der Massstab des Rechtes wird jedem beständig vor Augen gehalten, und er lernt das Recht Anderer respektieren, weil er über sein eigenes beständig zu wachen hat. So bildet sich denn in der freien Gesellschaft aus der Summe der individuellen Kräfte die wirkliche Macht, welche die Summe der individuellen Wünsche als wirkliches Recht zur Ausführung bringt. Hier ist Macht auch Recht.

Das ist etwas wesentlich Anderes, als der heutige Staat. Dieser Staat ist eine künstliche Maschinerie, welche die wirkliche Macht in ein willenloses Werkzeug verwandelt; welche das lebendige Rechtsgefühl durch tote Formeln ersetzt, und dem Ohnmächtigsten Gelegenheit bietet, die Macht nach seinem Willen zu lenken.

Ich habe schon öfters die Äusserung gehört, dass die Deutschen selber Schuld daran wären, dass sie sich zu Kanonenfutter gebrauchen lassen; sie brauchten ja einfach nicht zu gehen, wenn sie zur Fahne gerufen und in den Krieg geschickt würden, was könnten ihnen dann ihre Herrscher anhaben? Ja, das ist es eben; diese gewaltigen Millionen sind eher imstande, wider ihren Willen, auf Befehl eines Einzelnen ganz Europa in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, als ihrem gemeinsamen sehnlichsten Wunsche gemäss, friedlich zu Hause zu bleiben. So aber ist es in anderen Staaten auch. Wer kann da noch behaupten, dass die Macht regiert?

Ist es in der Republik wesentlich anders? Viele meinen es, obwohl die Tatsachen das Gegenteil bezeugen. Ich entsinne mich, einst gelesen zu haben, dass in dem freien Massachusetts zweitausend bewaffnete Männer einen entlaufenen Sklaven wieder zurücktransportierten, obwohl sie das Sklavenjagdgesetz verabscheuten und, nur ihren Gefühlen folgend, den Sklaven lieber gegen seine Verfolger verteidigt hätten. Zeigt sich da die Macht nicht auch unter jenem geheimnisvollen Banne, welcher mehr vermag, als ihr eigener Wille? Herr Boppe stellte einst die kühne Frage, gegen wen denn das Volk in einer Republik Revolution machen sollte, ob etwa gegen sich selbst? Gleichzeitig behauptet aber derselbe Herr Boppe, dass in einer Monarchie die Revolution unvermeidlich sei. Ich möchte nun gern wissen, gegen wen das Volk dort revoltiert; etwa gegen den Fürsten und die paar Adligen, – die Millionen gegen wenige Hunderte? Lächerlich! Das Volk revoltiert immer gegen sich selber; denn ausser ihm gibt es keine Macht, auch in Russland nicht. Die Soldaten, die Polizei und die Henker kommen sämtlich aus dem Volke, und es gibt immer genug von der Sorte, die sich eher den Schädel einschlagen lassen, als dass sie sich von dem Banne befreien könnten, der ihre Handlungen der Kontrolle ihres eigenen Willens entzieht.

Instinktiv fühlen es die herrschenden Klassen wohl, dass ihre Herrschaft nicht auf ihrer Macht beruht, darum zittern sie beständig vor der Gefahr, dass die wirkliche Macht zum Selbstbewusstsein erwachen könnte; darum nähren sie so geflissentlich den Glauben, dass der Gehorsam eine so hohe Tugend, ein Selbstzweck wäre; darum endlich suchen sie durch wütende Verfolgung und Verketzerung alle Jene unschädlich zu machen, welche über die wirkliche Macht und das derselben entsprechende Recht Klarheit verbreiten.

Der trügerische Unterschied, welcher zwischen Monarchie und Republik gemacht wird, schrumpft erheblich zusammen, wenn man erkennt, dass die Macht in jedem Staate in der Majorität, nahezu der Totalität des Volkes ruht. Nur der Grad, in welchem diese Macht ihres eigenen Willens beraubt wird, ist das Wesentliche im Unterschiede. Die Macht wird stets von ihren eigenen Kreaturen tyrannisiert. Die Tyrannei ist um so drückender, je heiliger und unverletzlicher die Macht die von ihr selbst geschaffenen Herren ihres Willens hält. Die Heiligkeit und Unverletzlichkeit ist aber die vornehmste Stütze des Staates. Der Staat muss daher in demselben Masse weichen, in welchem die wirkliche Macht Besitz von ihrem Rechte ergreift.

PAUL BERWIG.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Zu C. Hermann Boppe siehe die Anmerkungen hier.