Cineneh

Ich schreibe über Filme – unter anderem

Deep Sea, im Original Shen Hai, erzählt von einem kleinen Mädchen, das mit seiner Familie auf eine Urlaubsreise auf einem Kreuzfahrtschiff geht. So viele Menschen, so ein Gedränge, so ein Getöse, so viele Impulse. Shenxiu, so heißt das Kind, fühlt sich trotzdem allein. Es könnte alles so schön sein, wenn sie nur mal etwas lächeln würde. Und hat sie nicht an diesem Tag Geburtstag?

Shenxiu ist nicht glücklich. Ihr kleiner Bruder ist der Mittelpunkt der Familie, ihre Stiefmutter und ihr Vater sind mit sich selbst beschäftigt. Shenxiu sehnt sich nach ihrer Mutter. Warum hat ihre Mutter sie verlassen?

Man sollte nicht zu viel im Vorfeld über die Geschichte erzählen. Die offensichtliche Handlung ist eine Abenteuerreise, nachdem sich das Kind plötzlich auf einem Tiefseeschiff à la Jules Verne befindet, auf dem ein quirliger Koch der Kapitän ist und allerlei Tierwesen ein Restaurant für zahlende Gäste am Laufen halten.

So bunt die Bilder sind, so vorsichtig wagt sich der chinesische Regisseur Tian Xiaopeng (sein Monkey King: Hero is Back mauserte sich einst vom Geheimtipp zum Boxoffice-Hit) an eine dunklere Deutung heran, die sich erst nach und nach offenbart. Je nach eigenen Erfahrungswerten erklärt sich vieles früher oder später. Doch einfach ist die Geschichte keineswegs. Shenxiu möchte ihre Mutter finden und immer und immer wieder entgleitet ihr der Kontakt. Da legen sich auch mehrere Erinnerungsebenen übereinander, sodass sich ihre Wahrnehmung variierend im Kontakt mit den Wesen des “Tiefsee-Restaurants” manifestiert.

Die Generation-Sektion der Berlinale, dieses Jahr das erste Mal unter der Leitung von Sebastian Markt, hat es sich noch nie leicht gemacht. Kinder und Jugendliche werden ernst genommen und mitunter kommt man ihnen mit ernsten Filmen, die äußerst herausfordernd sind. Mit Deep Sea wählte man ein schweres Thema, das vielleicht für die Kleinsten unter den Kindern überfordernd wirken könnte.

In China kam der Film bereits zum chinesischen Neujahrsfest in die Kinos. Bei uns testete der Animationsfilm, der sieben nicht einfache Jahre an Produktionsgeschichte hinter sich hat, das Wasser auf den internationalen Filmfestspielen. Bereits der an Ideen überbordende Animationsstil ist visuell eine Herausforderung. Ich empfehle, und das ist untypisch für mich, in der Tat die Synchronisation, die gelungen ist. Mit Untertiteln kann man dem visuellen Geschehen kaum folgen. Wenn man nicht gerade Mandarin beherrscht, könnten die Feinheiten in den Dialogen auch verloren gehen. Das Sujet ist auf jeden Fall sehr speziell. Auch nach der Vorführung für die Presse bildete sich sogleich eine Gruppe, die über das Thema sprechen wollte. Kinder, und nicht nur Kinder, sollte man hier nicht alleine lassen.

Visuell ist Deep Sea wunderschön. Unglaublich, was die Animation inzwischen alles kann. Tian Xiaopeng mischt Farben und Texturen, die ihre Vorbilder in der Malerei, dem Pop-Art und der chinesischen Kunst haben. Hier ist jeder Tropfen wahrnehmbar. Mal verfließen bunte Tuscheströme ineinander, mal geben winzige Perlen dem Bild Textur. Die einzelnen Bilder, wenn man sie vollständig wahrnehmen könnte, sind so detailreich, wie herzlich.

Deep Sea ist ein geradezu psychedelischer Filmtrip. Das Unterbewusste, das Ursprüngliche soll mit Reizen geflutet werden, um die innere, zerrissene Welt eines kleinen Menschen erfahrbar zu machen. Das Bunt auf Bunt, was hier durchaus auch als ermüdend und sogar repetitiv wahrgenommen werden kann, spiegelt aber gerade die Wahrnehmung, was ein Zuviel an Reizen auslösen kann und wie sich die innere Traurigkeit im Meer des scheinbar glücklichen Umfelds anfühlt. Hier wird vielleicht deutlich, was nicht für alle deutlich sein könnte. Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass der deutsche Verleih entschieden hat, den Film nur in einer 2D-Fassung in die Kinos zu bringen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Shen Hai Regie: Tian Xiaopeng Drehbuch: Tian Xiaopeng Kamera: Cheng Mazhiyuan Animation: Tian Xiaopeng Montage: Lin Aner Musik: Dou Peng Mit Tingwen Wang, Su Xin, Kuixing Teng, Yang Ting, Jing Ji, Haoran Guo, Xiaopeng Tian, Yi Dong, Taochen Fang Volksrepublik China 2022 113 Minuten Kinostart: 10. August 2023 Verleih: Leonine Festivals: Berlinale 2023 / Annecy 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Animationsfilm #Leonine #Berlinale2023

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J. Robert Oppenheimer gilt als Vater der Atombombe. Auch wenn man filmbegeistert ins Kino drängt, um Christopher Nolans neues Werk auf der größtmöglichen Leinwand zu sehen, um im Dunkel eines Saales die Explosion von Trinity, so nannte man die erste Bombe, die in Los Alamos erfolgreich als Test gezündet worden war, “heller als tausend Sonnen” das Bild ins helle Nichts ausbrechen zu sehen, ein paar Brocken Geschichtswissen sollte man mitbringen. Nolan ist für die einen der Erzähler im Rückwärtsgang (Memento), für andere der Ergründer der tiefsten Dunkelheiten im Genre der Superhelden (Batman Begins, The Dark Knight) und natürlich der Zauberer der verschachtelten Erzählstränge (Inception, Tenet).

Mit Oppenheimer bricht auch für Nolan ein neuer Abschnitt an. Als während der Pandemie die Kinos, wie so ziemlich alles, geschlossen wurden, wollten die Studios, im Fall von Tenet war das Warner Bros., auf Streaming Portale ausweichen. Nolan, ein Verfechter der Filmrezeption im Kinosaal überwarf sich mit Warner und so sind es jetzt die Universal Studios, die Oppenheimer ins Kino bringen. Die Zeiten, in denen die Studios Streaming parallel denken, ist eigentlich auch schon wieder vorbei und man könnte diesen Wechsel der Studiobeheimatung fast vergessen, wenn die amerikanischen Warner Bros. Pictures nicht bewußt ihr Zugpferd Barbie zum gleichen Starttermin angesetzt hätten. Was immer der Auslöser für dieses Kopf an Kopf-Rennen war, Filmenthusiasten nahmen die Herausforderung an. Kinos terminierten Doppelvorführungen, Fans konzipierten Filmplakate, die diese im Prinzip gegenteiligen Filmgenres derart verschmolzen, dass Barbenheimer in aller Munde ist.

Ein klein bißchen Beleidigtsein spielt auch in Oppenheimer eine entscheidende Rolle. Aber ich will der Handlung in dem Biopic nicht vorgreifen. Auch Nolan konnte sicherlich nicht ahnen, dass ein Film über die Erweiterung des Waffenarsenals, um eine Machtstellung im Weltgefüge zu demonstrieren und zu halten, derart an Aktualität gewinnt, wie es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr der Fall war. Nolan bedient sich einem Monsterwerk an Biographie. Über 20 Jahre arbeiteten der Historiker Martin J Sherwin und der Publizist Kai Bird an American Prometheus: The Trial and Tragedy of J. Robert Oppenheimer. Auf diesem Werk baut nun Christopher Nolan seine Erzählung auf und stellt damit auch die Frage nach der Verantwortung. Ohne aber hier das letzte Wort zu sprechen. Oppenheimer, der aktuelle Film, ist nur das aktuelle Kapitel in der Reihe von Filmen über die historische Figur, über die damaligen Ereignisse, über die Atombombe, das Manhattan-Projekt, über den Abwurf von Little Boy und Fat Man über Japan und über deren Folgen.

Dabei spielt Nolan wieder einmal mit mehreren Zeitebenen. Zu einem Drittel erzählt er den Werdegang von Oppenheimer, der hier von Cilian Murphy gespielt wird. Von der Langeweile im Labor führt ihn sein Weg bis nach Deutschland, wo er Heisenberg begegnet, und zurück. Oppenheimer ist dabei kein Film über die Quantenphysik oder über Wissenschaft, auch wenn hier so viele Wissenschaftler (und leider keine Wissenschaftlerin) auftauchen, dass man nur wenige von ihnen wirklich einordnen kann. Vielleicht bleibt neben Heisenberg gerade noch Albert Einstein (Tom Conti) im Gedächtnis. Heisenberg weil Matthias Schweighöfer ihn darstellt. Einstein weil die Dramaturgie hier bewußt einen Bogen wirft. Und ferner der spätere Kontrahent Ed Teller, ihn spielt der Schauspieler und Regisseur Benny Safdie, der auf die Entwicklung der Wasserstoffbombe setzt. Er gilt als “Vater der Wasserstoffbombe”, die Oppenheimer vehement ablehnte.

Nolan setzt zu einem weiteren Drittel auf den Aufbau des Manhatten-Projektes, dessen Projektleitung in militärischer Hand lag. General Leslie Groves Jr., gespielt von Matt Damon, ist zwar ein misstrauischer Hund, aber ohne die Wissenschaftler geht es halt nicht und somit kommt Oppenheimer als Leiter der Forschung zum Einsatz. Nolan spielt mehr auf das Zusammenspiel der unzähligen Akteure, die rasante Entwicklung wird gerade mal mit dem Blick auf eine Glasschale getaktet, die sich mehr und mehr mit Murmeln füllt. Die Frage, ob der Krieg nun wirklich nur mit dem Eintritt in ein nukleares Waffenzeitalter zu beenden war, ob die Mittel, die ins Manhatten-Projekt gesteckt wurden, nicht anders besser angelegt gewesen wären, als das kommt hier nicht zur Sprache. Das macht Oppenheimer quasi zum Militärfilm und eben nicht zum Wissenschaftsfilm und nur bedingt zum Politik- beziehungsweise Geschichtsfilm.

Ja, die Politik. Schon recht früh führt Nolan den dritten Handlungsstrang ein, der Oppenheimer im Verhör zeigt, weil man in ihm, auf Grund seiner Kontakte zur kommunistischen Partei, einen russischen Spion vermuten wollte. Robert Downey Jr. spielt den Politiker Lewis Strauss und drückt damit Murphy fast an die Wand. Strauss, Mitglied und später Vorsitzender der United States Atomic Energy Commission, war die maßgebliche Triebfeder, Oppenheimers Sicherheitsberechtigung zu entziehen. Als Referenz sollte man mal kurz die Suchmaschine anwerfen und nach der deutschen Fernsehproduktion In der Sache J. Robert Oppenheimer von 1964 suchen, die diese Verhöre anhand von den damaligen Protokollen, so authentisch wie nur möglich, in Szene setzte.

Ist denn nun Christopher Nolans Oppenheimer großes Kino? Unbedingt. Allerdings ist es nicht der ultimative Film im Werk des Regisseurs. Es liegt gar nicht mal an dem Zuviel an Akteuren, oder dass man auch mit guten englischen Sprachkenntnissen nicht immer alles akustisch versteht. (Was vielleicht in der deutschen Synchronisation ausgebügelt werden kann.). Nolan setzt auf 70mm Film, sogar auf Imax (wenn man denn ein Imax-Kino in der Nähe hat). Visuell ist das phänomenal, was sein Director of Photography Hoyte Van Hoytema für die Leinwand entwirft. Man möchte den Film gerne noch einmal sehen, einfach um all die hervorragenden Darsteller wirklich wahrzunehmen. Da ist es vielleicht ein Wermutstropfen, dass Nolan nun wahrlich nicht für komplexe Frauenrollen bekannt ist. Es mag Jammern auf hohem Niveau sein, doch es fällt auf, dass weibliche Errungenschaften im Feld der Kernspaltung nicht einmal Erwähnung finden. Es gibt im Umfeld Oppenheimers gerade mal zwei prominente Frauenrollen und beide verblassen hier zu Klischees. Emily Blunt spielt Oppenheimers Frau Kitty und Florence Pugh die Geliebte Jean Tatlock, die vielleicht interessant wäre, würde sie hier nicht nur als Objekt des Frauenheldes gezeichnet werden. Dieses Bild eines Frauenheldes, der zumindest für eine Einstellung mit einem noch gewaltigeren Moment, als die Explosion von Trinity, in Gedächtnis bleiben wird, fügt der gebrochenen Figur eines Wissenschaftlers, der an den Folgen seiner Forschung arbeiten muss oder sollte, nichts hinzu, sondern lenkt ab. Die Frage nach der Verantwortung, die beantwortet Nolan nicht.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oppenheimer Regie: Christopher Nolan Drehbuch: Christopher Nolan Kamera: Hoyte Van Hoytema Montage: Jennifer Lame Musik: Ludwig Göransson Mit Cillian Murphy, Emily Blunt, Robert Downey Jr., Alden Ehrenreich, Scott Grimes, Jason Clarke, Kurt Koehler, Tony Goldwyn, John Gowans, Macon Blair, James D'Arcy, Kenneth Branagh, Harry Groener, Gregory Jbara, Ted King, Tim DeKay, Steven Houska, Tom Conti, David Krumholtz, Petrie Willink, Matthias Schweighöfer, Josh Hartnett, Alex Wolff, Josh Zuckerman, Rory Keane, Florence Pugh, Sadie Stratton, Jefferson Hall, Britt Kyle, Guy Burnet, Tom Jenkins, Matthew Modine, Louise Lombard, Matt Damon, Dane DeHaan, Jack Quaid, Brett DelBuono, Benny Safdie, Gustaf Skarsgård, James Urbaniak, Rami Malek, Olivia Thirlby, Casey Affleck, James Remar, Gary Oldman USA / Großbritannien 2023 178 Minuten Verleih: Universal Kinostart: 20. Juli 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

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Denkt man in Berlin an Uwe Johnson (1934 – 1984)... Präziser ausgedrückt, denkt man in Friedenau an Uwe Johnson, dann kommt oft direkt die Referenz an seinen berühmten Nachbar Günter Grass. Wobei: Uwe Johnson zieht im Herbst 1959 in die Niedstraße in Berlin-Friedenau. Günter Grass wiederum bezieht 1964 eine Wohnung im Nachbarhaus. Eventuell kommt dann in Gesprächen sogleich die Erinnerung an die Kommune 1 zur Sprache, die sich bei Johnson breit gemacht hatte, während Johnson in den Staaten lebte, und dass er dann Grass eine Vollmacht geschrieben hatte, damit er die Gäste, die über Gebühr sich breit gemacht hatten, hinauswerfen lasse. Das möge jetzt eine Randnotiz bleiben. In Volker Koepps Dokumentarfilm geht es zwar auch um eine Verortung, es geht sogar ganz konkret um Heimat und ein Heimatgefühl.

Aber Koepp, der aus Pommern stammt, spürt dem deutschen Schriftsteller in seiner Geburtsheimat nach. Es geht ihm um ein Gehen und um das Bleiben. Beides. Denn, es gibt einen Ort zu dem man sich, auch wenn man woanders eine Adresse hat, zugehörig fühlt. Im Fall Uwe Johnson ist das Mecklenburg. Zitat: “Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel.”

Johnsons wohl bekanntestes Werk ist der Zyklus Jahrestage, in dem er einen Bogen von der deutschen Geschichte von der Weimarer Republik bis zum Prager Frühling spannte, während die Hauptfigur Gesine Cresspahl auch im New York der 60er Jahre lebte. Johnson stammte aus Mecklenburg. Seine Eltern lebten in Anklam, nach Kriegsende zog die Familie vor der Roten Armee ausweichend in die Nähe von Güstrow, einer Kreisstadt im Landkreis Rostock. Später, als der Vater in russischer Kriegsgefangenschaft starb, wurde Güstrow der Lebensmittelpunkt. Den Studienort Rostock verlegte Johnson nach Leipzig und er ging dann nach Berlin. Mitte der 60er Jahre lebte er in New York. Viel zu früh starb er in Sheerness on Sea, in England, wo er die letzten 10 Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Volker Koepp, kam auf Uwe Johnson, als er nach einer Premiere seines Filmes Seestück, ein Buch über Geschichten von der Ostsee geschenkt bekommen hatte. Darin war auch ein Textauszug aus Jahrestage, genauer gesagt, eine Beschreibung von dem Untergang der Cap Arcona in der Lübecker Bucht 1945, an Bord Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme. Johnsons Texte, die sich gegen ein Vergessen richteten, klangen für Koepp aktueller denn je, denn eine Geschichtsvergessenheit unserer Gesellschaft lässt sich kaum mehr leugnen. Genau wie Johnson, sieht auch Koepp die Spuren eines Krieges, vieler Kriege, in dem Land der Heimat. Der Krieg, er warf einen Schatten auf die Biographie des Autors und der warf diesen Schatten nicht ab. Und so klammert Koepp in seinen Begegnungen mit dem Land und den Leuten, gedreht hatte er diese zwischen 2020 und 2022, den aktuellen Krieg in der Ukraine nicht aus. Der vollständige Filmtitel lautet darum auch Gehen und Bleiben. Uwe Johnson. Folgen des Krieges..

Koepp begegnet Menschen, die schreiben, photographieren, Filme drehen oder nichts dergleichen, die ihre eigenen Geschichten erzählen, die auch vom Gehen und vom Bleiben handeln. Sie lesen aus den Texten Uwe Johnsons vor, oder erzählen vom Ort oder der Nachbarschaft. Von Freundschaft und Verbundenheit. Vom Wegziehen und vom Zurückkehren. Koepp ist ein guter Zuhörer. Er gibt den Begegnungen auch hier keinen Rahmen, sondern einen Raum, der eigene, spannende und unvorhersehbare Akzente setzt. In diesen Begegnungen erkennt man auch Überschneidungen mit der Biographie von Johnson, der wahrnahm, was andere nicht sehen wollten, der nicht immer und oft nicht, verstanden wurde.

Damit ist Gehen und Bleiben eher ein Essay, dessen tatsächliche Lauflänge von knapp 3 Stunden, kein bißchen Länge aufweist. Das möchte ich nur betonen, falls sich jemand abgeschreckt fühlt. In Gehen und Bleiben taucht man ein wie in eine Meditation, in der die Zeit zusammenschrumpft und die innerliche Reise sich gleichzeitig ausweitet. All die kleinen Details, die Koepp einfängt, vertiefen das Gefühl der Zugehörigkeit mit einer Landschaft und den Leuten, die man aus seinem Filmwerk (z.B. Pommerland, Memelland, In Sarmatien, Landstück, Seestück) bereits zu kennen glaubt. Das Gefühl für eine Zeitgeschichte mag sich auch einstellen und ähnlich wie bei Johnson wird das Umfassende spürbar und stimmt, angesichts der Aktualität, des Krieges vor unserer Nase, nachdenklich.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Gehen und Bleiben Regie: Volker Koepp Buch: Barbara Frankenstein Kamera: Uwe Mann Montage: Christoph Krüger Mitwirkende: Stuart Roberts, Judith Zander, Erhard Siewert, Peter Kurth, Hans Jürgen Syberberg, Helga Elisabeth Syberberg, Aukje Dijkstra, Undine Spillner, Fritz Rost, Heinz Lehmbäcker, Hanna Lehmbäcker, Dietrich Sagert, Kristian Wegscheider, Christian Höser, Thomas Irmer, Uta Löber, Erdmut Wizisla, Karin Bosinski, Hartmut Bosinski Deutschland 2023 168 Minuten Verleih: Salzgeber Kinostart: 20. Juli 2023 Festivals: Berlinale 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Salzgeber #Berlinale2023

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Biografien über Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Musiker und Musikerinnen, Fotografen und sehr selten Fotografinnen, bildende Künstler und selten Künstlerinnen sind ein beliebtes Genre. Da spielt vielleicht die Neugierde eine Rolle, wer denn der Mensch hinter einem Kunstwerk ist. Oft erklären uns diese Dokumentarfilme und Dokumentationen einfach auch die Werke, ganz kompakt, so dass der Mensch vor der Leinwand nicht allzuviel mit ins Kino bringen muss, außer etwas Neugierde und Interesse.

Thomas Schütte ist Bildender Künstler, Bilderhauer, Skulpteur, Zeichner und es gibt von ihm auch Architekturmodelle. Er arbeitet mit Ton, mit Bronze und mit Glas. Der Dokumentarfilm, der auch gerade erst auf dem Dok.Fest München gezeigt worden ist, trägt, wie so oft, den Namen im Titel. Doch das Konzept wurde variiert. Entscheidend ist hier der Zusatztitel “Ich bin nicht allein”. Die Regisseurin Corinna Belz zeigt den Künstler bei seiner Arbeit. Nicht die Biografie steht im Mittelpunkt, sondern das Entstehen eines Werkes, sowohl der kreative als auch der technische Prozess. Entscheidend ist, dass hier die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den spezialisierten Werkstätten, auf die der Künstler angewiesen ist, gleichberechtigt eingebunden wurden.

Die vertrauten Mithelfenden geben durchaus Impulse und es sind die Dialoge, die Momente des Austausches, die dem Publikum einen ganz neuen Blick auf den Schaffensprozess vermitteln. Da findet sich irgendwo in den Regalen einer Werkstatt ein älteres Stück Bronze, ein Nebenprodukt, das einst nicht weg geworfen wurde. Die Werkstatt, es handelt sich um die Gießerei Kayser, kontaktiert den Künstler, man habe da was beim Aufräumen gefunden. Das kleine Modell einer zurückgelehnten Figur steht nun Modell für etwas Neues, natürlich etwas Großes. Die kleine Figur wird zu Die Nixe. Corinna Belz begleitete Schütte über einen längeren Zeitraum und so wird die Nixe zu einem roten Faden.

Corinna Belz, ihr letzter Film machte einen Abstecher In die Uffizien, hat ein feines Gespür für das Künstlerische. Sie kommt von der Philosophie und Kunstgeschichte und hat darüber hinaus auch Germanistik und Medienwissenschaft studiert. Bereits 2007, in ihrem ersten Film hatte sie sich einem Werk, dem Kölner Domfenster, von Gerhard Richter gewidmet. Ihr Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting (2011) gilt als der Film über Richter. Der Sprung von Richter zu Schütte ist so groß nicht. Immerhin war Schütte Meisterschüler von, unter anderem, Richter. Belz nimmt Schütte quasi auf einen Spaziergang durch sein Werk mit. Allerlei Anekdoten gibt es dabei als Dreingabe. Schütte, der doch als Alleingänger gilt, wirkt hier aufgeschlossen und humorvoll. Er lässt sich auch auf die neuen digitalen Hilfsmittel ein, und wenn mal etwas schief geht, nutzt er den Zufall als Chance.

Thomas Schütte – Ich bin nicht allein zeigt den Schaffensprozess aus neuen Blickwinkeln. Nicht alles wird erklärt, Belz ist für ihre Neugierde bekannte und weiß diese auch zu vermitteln. Sie zeigt Kunst und künstlerisches Wirken als etwas, und auch dafür hat Schütte eine Anekdote, zu dem wir alle Zugang finden können.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Thomas Schütte – Ich bin nicht allein Regie: Corinna Belz Konzept: Corinna Belz Kamera: David Wesemann, Julia Katinka Cramer Montage: Rudi Heinen Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas Mitwirkende: Thomas Schütte, Peter Freeman, Lluïsa Sàrries Zgonc, Paulina Pobocha, Rolf Kayser, Robert Fischer, Rupert Huber, Niels Dietrich, Heide Jansen, Bernd Kastner, Pietro Sparta, Dieter Schwarz, Antonio Berengo, Nicola Causin, Andrea Salvagno, Sergej Natokin, Gazmend Lipa, Wilson Amer Mati, Sascha Ruf, Sergej Tichanow Deutschland 2022 94 Minuten Verleih: Real Fiction Kinostart: 29. Juni 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #RealFiction #DokFestMünchen2023

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Der Titel bezieht sich auf eine Hausnummer. Ein Haus, ein Zuhause. Was gehört zu einem Zuhause? Familie, Kinder, Liebe. Die Regisseurin A.V. Rockwell, die 2018 mit ihrem Kurzfilm “Feathers” auf sich aufmerksam machte, erzählt in ihrem Langspielfilmdebüt von einer Mutter und ihrem Sohn. Dabei umspannt sie eine Zeit der Umbrüche.

New York City ist hier nicht nur Handlungsort, sondern Hauptdarsteller oder auch Gegenspieler. Die Entwicklung der Stadt läuft nebenher. Aus den Nachrichten erfahren wir, woran sich ein älteres Publikum vielleicht nur noch dunkel erinnert und was hier wahrhaftig an die Oberfläche drängt. Rudy Giuliani, Bürgermeister von New York City von 1994 bis 2001, war ein Verfechter der Law-and-Order-Politik, er räumte sozusagen auf. Die Kriminalität sollte mit Nulltoleranzmaßnahmen gedrückt werden. Während sich Teile der Bevölkerung sicherlich sicherer fühlten ob der Maßnahmen, waren andere Bevölkerungsgruppen, besonders auch in Harlem, wo Rockwell ihre Geschichte verortet, verstärkt Polizeigewalt ausgesetzt. Verschärft wurde die systematische Gewalt besonders gegen die Gruppen der Afroamerikaner und Latinos unter Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg.

“A Thousand and One” begleitet Inez, gespielt von der Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin Teyana Taylor, aus dem Knast in ein Leben der Chancenlosigkeit. Zu viele Details sollen hier gar nicht aufgeschlüsselt werden.

Rockwell stellte ihren Film dieses Jahr in Sundance als Weltpremiere vor und gewann prompt den Grand Jury Prize, den Hauptpreis in der Dramatic Sektion. Nicht nur wählte sie eine relevante Geschichte, sondern sie legte den Finger in eine alte Wunde, ohne gleichzeitig den Zeigefinger zu heben. Sie entwickelte ein Porträt, dass während viele Filme idealisierte Figuren und Situationen verhandeln, ohne falsche Töne von wahrhaftigen Figuren erzählt, deren Probleme wirklich Probleme sind. Dabei hält sie sich mit Wertungen zurück und entwickelt die Figuren aus sich heraus. Ihr Debüt ist ein Zeitporträt einer Stadt und ihren abgedrängten Bewohnern, die sich durch alltägliche Schikanen und Gentrifizierung ihres Zuhauses nie sicher sein konnten.

Inez steht vor dem Nichts. Aus diesem Nichts baut ihre Figur etwas auf. Obwohl das Leben ihr Steine in den Weg legt, obwohl Giulianis Stadtpläne mehr und mehr Menschen wie sie ins Abseits drängt.

Zuerst ist Inez auf der Suche nach Terry (Aaron Kingsley Adetola, später Aven Courtney und Josiah Cross), ihrem sechsjährigen Jungen, der in einer Pflegefamilie untergebracht ist, die ihm keine Familie sein will und kann. Als der Junge nach einem Unfall im Krankenhaus landet, entführt sie ihn von der Station und damit beginnt die eigentliche Handlung dieses Familienporträts. Die Entführung selbst ist ganz klar eine Straftat. Niemand interessiert sich aber für den Verbleib eines schwarzen Jungen. Allerdings sind die Konsequenzen einer Biographie unter dem Radar enorm. Was das Kind nicht abschätzen kann, ist Inez durchaus bewusst. Sie stellt jedoch die Fürsorge für das Kind ihren Bedürfnissen voran, bis ihr Wille, es gut zu machen, alles wieder in Frage stellt.

Einfach ist es nicht für sie. Natürlich nicht. Sie hatte selbst nie eine Familie. Die Fürsorge muss sie erst lernen. Umso resoluter kämpft sie für das Heranwachsen eines Kindes, dem sie die bestmögliche Bildung zukommen lassen möchte, als auch für ihr persönliches Glück und ihre Vorstellung von Familie, welches sie vielleicht bei Lucky (William Catlett) findet, der bei ihr einzieht und auch bereit ist, zu einer Vaterfigur zu wachsen. Rockwell findet einen fast dokumentarischen Blick auf die Stadt. Mit jedem Zeitsprung, mit dem sie ihre Figuren zuerst Mitte der 90er Jahre bis in die 2000er immer wieder einfängt, hat sich auch die Stadt weiterentwickelt. Rockwell stellt ihre Figuren geradezu in Opposition mit dieser Entwicklung. Das Leben dieser Figuren ist ein Leben trotz der Entwicklung, im täglichen Kampf gegen den systematischen Rassismus und einer Politik, die ihresgleichen aus der Stadt und der Stadtplanung eliminieren will. Gleichzeitig ist “A Thousand and One” trotzdem eine Liebeserklärung an New York City, eben nur ohne eine falsche Glorifizierung.

Die Erzählung von Inez, Lucky und Terry ist eine von 1001er Geschichten, die um ihre Existenz und um ihre Würde kämpfen. “A Thousand and One” ist ein großartiges, facettenreiches Debüt, A.V. Rockwell eine Entdeckung.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: A Thousand and One Regie: A.V. Rockwell Drehbuch: A.V. Rockwell Kamera: Eric K. Yue Schnitt: Sabine Hoffman, Kristan Sprague Musik: Gary Gunn Mit Teyana Taylor, Aaron Kingsley Adetola, Aven Courtney, Josiah Cross, William Catlett, Terri Abney, Delissa Reynolds, Amelia Workman, Adriane Lenox, Gavin Schlosser, Jolly Swag, Azza El, Alicia Pilgrim, Jennean Farmer, Kal-El White, Jamier Williams, Naya Desir-Johnson, Mychelle Dangerfield, John Maria Gutierrez, Artrece Johnson, Mark Gessner, Tara Pacheco USA 2022 117 Minuten Verleih: Universal Kinostart: 18. Mai 2023 Festivals: Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Universal

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Die Brautentführung, unter diesem Titel lief El secuestro de la novia auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Perspektive Deutsches Kino. Es ist die Geschichte von einem jungen, glücklichen Paar, das unter die Räder der “Traditionen” kommt. Sie, Luisa (Rai Todoroff), ist Argentinierin. Er, Fred (David Bruning), ist Deutscher. Ich präzisiere: Er stammt aus Brandenburg. Hier in Brandenburg leben die Beiden auch. Beide sind sehr aufgeschlossen. Ihre Beziehung begreifen sie auch als Spiel. Selbst Gendertausch ist für sie ein Weg, sich und einander näherzukommen. Sie haben da keine Berührungsängste. Wenn es da nicht die Angehörigen und die kulturellen Unterschiede geben würde.

Sophia Mocorrea, die Regisseurin, ist Deutsch-Argentinierin. El secuestro de la novia ist ihr Abschlußfilm an der Filmuniversität Babelsberg. Die Berlinale war gar nicht der Uraufführungsort. Ihr mittellanger Film wurde vom Festival in Sundance, das kurz vor der Berlinale stattfindet, eingeladen und gewann dort prompt in der Sektion internationaler Kurzfilm den Hauptpreis. 30 Minuten ist der Film lang. Die Länge ist kein Kriterium. Es gehört einiges dazu, zu wissen, wann ein Stoff rund und auserzählt ist.

Luisa und Fred feiern also Hochzeit. In Brandenburg. Ihre Eltern reisen an, seine Eltern haben die Oberhand. Und gute Ratschläge, die sie mit nicht sehr subtilen Druck an das Paar geben. Der Gipfel der Übergriffigkeit ist jedoch die Titel gebende Brautentführung. “Tradition”, da “müsse sie schon mitspielen”. Mitten in der Hochzeitsfeier wird sie also von der Provinzpolizei verhaftet und aufs Revier zum Verhör gebracht. Die Anklage lautet auf Erregung öffentlichen Ärgernisses. Kein Schenkelklopfen, eher Sprachlosigkeit sollte beim Publikum einsetzen. Jeder Satz sitzt. Die Dialoge entlarven den xenophoben Provinzialismus. Die Frauenfeindlichkeit ist evident. Während Luisa zuerst irritiert ist, dann gute Miene zum strunzdummen Spiel macht, breitet sich die toxische Stimmung immer mehr aus.

El secuestro de la novia ist eine Komödie. Nicht ohne Humor führt Sophia Mocorrea überkommende Rollenbilder und gestrige Sitten vor und zeigt, dass auf vergifteten Boden keine gleichberechtigte Liebe gedeihen kann.

Eneh

Mittellanger Spielfilm Originaltitel: El secuestro de la novia Regie: Sophia Mocorrea Drehbuch: Sophia Mocorrea Kamera: Jacob Sauermilch Schnitt: Jannik Eckenstaler, Sofia Angelina Machado Musik: Luca de Michieli, Linus Rogsch Mit Rai Todoroff, David Bruning, Anne Kulbatzki, Tatiana Saphir, Patricia Pilgrim, Daniel Wendler, Leon Dima Villanueva, Aroha Almagro Davies, Andreas Rogsch, Michaela Winterstein, Niels Bormann, Jeannette Urzendowsky, Alina Renk, Sigrun Gietzke, Julian Müller, Richard Kretschmar Deutschland 2022 30 Minuten Festivals: Sundance 2023, Berlinale 2023, Achtung Berlin 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Kurzfilm #Studentenfilm #Berlinale2023

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Das Leben ist manchmal eine Abfolge von miesen Entscheidungen. Es gehen einem die Spielzüge aus. Egal, wohin man seine Figur zieht, man landet in einer Ecke. Man kann nur noch reagieren, aber man ist nicht mehr frei in seinen Entscheidungen.

Irina, gespielt von Vita Smačeljuk, ist in Victim eine Spielfigur, die in einer Gesellschaft, die von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit und Korruption bestimmt wird, das Richtige tun will. Die Geschichte, die der Regisseur Michal Blaško erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. Sein erster Langspielfilm debütierte in Venedig, wurde auf Festivals sowohl in Hamburg als auch in Cottbus aufgeführt und schließlich schickte die Slowakei den Film ins Oscarrennen um den besten internationalen Titel.

Irina, alleinerziehende Mutter, ist mit ihrem Sohn aus der Ukraine in eine tschechische Kleinstadt gezogen. Wir erinnern uns, bereits vor 2022 gab es in der Ukraine Krieg. Sie versucht nun für sich und Igor (Gleb Kuchuk) eine Existenz aufzubauen. Auf den ersten Blick wirkt ihr Leben in dieser Fremde trist und prekär. Blaško beschönigt hier nichts. Er zeigt eine Welt, in der Armut auch wirklich Armut meint. In der halb verrottete Panelwohnungen genau das sind. Wo an den Rändern der Stadt die Zurückgelassenen, die Ausländer und die Roma leben.

“Victim” heißt “Opfer”, aber der Begriff kann für vielerlei stehen. Irina ist bereits in der ersten Szene in einer unverschuldet schwierigen Lage. Sie war in die alte Heimat gereist, um Unterlagen für die Behörden zu holen. Nun blieb ihr Bus an der Grenze hängen, weil ein anderer Bus liegen geblieben ist. So etwas kann Stunden dauern, die hat sie nicht. Scheinbar ist Igor, der Sohn, 13 Jahre alt und auf dem Weg ein Spitzensportler zu werden, Opfer eines Überfalls geworden. Er wurde übelst verletzt und liegt nun auf einer Intensivstation. Irina will also so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Bereits hier wird deutlich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten sind und wie äußere Umstände eine Figur behindern.

Igor liegt erst einmal im Koma. Die Ermittlungen laufen. Bevor die Polizei Informationen mit der geschockten Mutter teilt, soll sie ihren Aufenthaltsstatus belegen. Was sie wissen ist, dass Nachbarn bemerkt haben wollen, wie jemand weg gelaufen ist. Igor, als er aufwacht, benennt drei Roma-Jungen als Täter. Für die Polizei steht fest, dass diese aus der Nachbarschaft kommen. Die Nachbarn reagieren feindlich. Hier ist eine Randgruppe der anderen nicht wohl gesonnen. Irina spürt, dass die Hilfe und Solidarität, die sie auf einen Schlag erfährt, sich explizit gegen die Roma richtet.

Wer den Film ohne jede Kenntnis der Handlung und Entwicklung sehen möchte, sollte hier mit dem Lesen abbrechen. Der Regisseur behandelt jedoch keinen Kriminalfall, sondern eine moralische Parabel. Er weiht das Publikum in das, was wirklich geschehen ist, ein. Er macht das Publikum jedoch nicht zum Verbündeten, sondern schickt es durch eine Zwangslage nach der anderen. Irina ist die Figur, dessen Integrität zur Disposition steht und es gibt keinen Ausweg. Darum teilt die Handlung Igors Geheimnis mit der Mutter und dem Publikum. Seine Verletzungen sind so gravierend wie echt, aber er hat sie sich selbst zuzuschreiben. Es gab keine Täter. Als Irena dies erfährt, hat sich bereits eine Handlungskette in Gang gesetzt, in der ein Zurückziehen der Anzeige gegen unbekannt, keine Option mehr ist.

Nicht nur ihre Staatsbürgerschaftsprüfung steht auf der Kippe. Die Politik war sogleich bei Fuß und witterte die Möglichkeit zum Stimmenfang. Die Bürgermeisterin versprach ihr eine Neubauwohnung und die Sportkameraden des Jungen wollen sogleich eine Demonstration organisieren, um auf Missstände hinzuweisen. Irina weiß und das Publikum weiß, dass sowohl die eine als auch die andere Seite kein sauberes Spiel spielt. Irina muss jedem Versuch der Manipulation ausweichen und kann es doch nicht. Egal, was sie tut, und wenn es das vermutlich Richtige ist, ist eine Entscheidung unter dem Druck von außen.

Die erstarkende Rechte wittert ihre Chance, die Roma für alles verantwortlich zu machen. Die korrupte Politik will sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Die Beschuldigten stecken in einer sie unterdrückenden Justiz fest, die Ergebnisse feiern will, unabhängig davon, dass es keine Ermittlungsergebnisse gibt. Michal Blaško, der das Drehbuch zusammen mit Jakub Medvecký schrieb, arbeitet mit subtilen Hinweisen und knüpft ein realistisches Bild von den komplexen Strukturen unter denen die Mutter nicht nur für ein Leben ohne Lügen kämpft, sondern auch noch für ihren Sohn eine Zukunft sichern will.

Der Verleih Rapid Eye Movies hat “Victim” passend zum Internationalen Roma-Tag am 8. April, der auf deren Verfolgung und Diskriminierung aufmerksam machen will, in dieser Woche ins Kino gebracht. Die gesellschaftlichen und politischen Missstände, die “Victim” behandelt, könnten nicht aktueller sein.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Oběť Regie: Michal Blaško Drehbuch: Michal Blaško, Jakub Medvecký Kamera: Adam Mach Montage: Petr Hasalík Mit Vita Smachelyuk, Gleb Kuchuk, Igor Chmela, Viktor Zavadil, Inna Zhulina, Alena Mihulová Slowakei / Tschechien / Deutschland 2022 91 Minuten Verleih: Rapid Eye Movies Kinostart: 6. April 2023 Festivals: Venedig 2022 / Hamburg 2022 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #RapidEyeMovies

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Die Farbe des Gewandes, der Duft der Mandarinen, das Dunkel der Werkstatt der Dampf im Waschhaus, die Melodie der Straße. Das Blau des Kaftans der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani spricht unsere Sinne an, wir trinken von dem Blau, wir riechen das Orange, wir hören das Leben und all das zusammen berührt unser Herz.

Etwas aus der Zeit gefallen ist die kleine Schneiderei in einer der vielen Gassen Casablancas. Halim (Saleh Bakri) hat sein Handwerk noch von seinem Vater gelernt. Vielleicht war die Entscheidung, die Werkstatt zu übernehmen, nicht sein Herzenswunsch. Seinem Herzenswunsch kann er sowieso nicht immer folgen. Zusammen mit seiner Frau Mina (Lubna Azabal), die beiden sind kinderlos geblieben, versucht er nun einen Nachfolger für ein Gewerk zu finden, das scheinbar niemand mehr braucht. Bei ihm wird noch mit der Hand genäht und gestickt. Stolz spielt damit hinein, vielmehr hat man nicht. Schon so mancher Lehrling hat bei Halim und Mina schnell das Weite gesucht. Nicht so Youssef (Ayoub Missioui), er begreift die Sinnlichkeit, die in der Bewegung der Hände liegt.

Der blaue Kaftan, ein besonders edles und teures Stück, ist der rote Faden, der uns durch die Handlung führt, eine Lebensschnur. Geduldig arbeitet der Meister an dem Stück. Für eine reiche, schnippische Kundin, die den Preis nur zu zahlen bereit ist, weil das gute Stück ein Statussymbol sein soll. Die fordernde, vermeintlich fortschrittliche Kundschaft steht für das Morgen, das jedoch an den Regeln der rückständigen Gesellschaft und deren Ächtungen festhält. Halim lebt ein Doppelleben. Nicht aus freien Stücken. Was sein Herz begehrt, gilt faktisch als kriminell. Für diese Gesellschaft wäre er ein Ausgestoßener. Er liebt seine Frau und zeigt ihr das auch mit kleinen Gesten. Um sie nicht zu verletzen, nimmt er Rücksicht, versagt sich die kleinste Regung, wenn es den jungen Lehrling betrifft.

Maryam Touzani, die mit ihrem Debüt Adam, in der eine Bäckerin eine schwangere Frau aufnimmt, bereits ihren Stil gefunden hat, in dem sie die Entwicklung der Figuren sensorisch vermittelt und das Bild nach und nach öffnet, erzählt dieses Mal nicht von der Mutterschaft, sondern von der Liebe in all ihren Schattierungen.

Das Blau des Kaftans brachte sie, wie bereits Adam, nach Cannes, nach Karlovy Vary, nach Hamburg und Zürich, bis nach Toronto und Rotterdam. Ihr Blick ist dabei ein zurückhaltender, sie zeigt nicht alles. Sie gibt den Figuren Würde und Dauer. Die Liebe ist dabei das Hauptthema. Liebe ist Hingabe und Aufopferung, Liebe ist fest in sich ruhen und los lassen können. Mina, nicht frei von Eifersucht, kennt ihren Mann gut. Das Leben entgleitet ihr zunehmend und sie muss die Zeit nutzen, die in den sorgfältigen Stichen der nähenden Hand schier im Stillstand zu verharren scheint. Und er, der sich hin und her gezogen fühlt, die Arbeit gibt ihm Sinn und Halt, muss sie, die geliebte Lebensgefährtin ebenso los lassen. Die Liebe zu der Arbeit, mit geduldig feinen Stichen etwas zum Leben zu erwecken, ist dabei die Liebe, die Halim offen ausleben kann, die die drei Figuren und ihre Beziehung zu einander bindet und formt.

Das Blau des Kaftans, übrigens Marokkos Einreichung für den internationalen Oscar, ist keine Romanze. Romanzen sind wild und stürmisch. Ein Gefühl der ersten Begegnung und mit all der Unvernunft, die damit einher geht. Dieses Drama spielt sich still und leise im Verborgenen ab. Die wenigen Kunden, die die kleine Näherei noch hat, sind ungeduldig und oberflächlich. Touzani spricht die an, die geduldig auf die Sprache der Herzen reagieren und wahrnehmen, für was ein blauer Stoff steht und wie der Duft der Mandarinen die Welt bedeuten kann. Wie die Musik aus der Nachbarschaft für die Freude steht. Das Leben, das Halim trotzig in seiner Trauer feiert. Als Antwort auf das alles, was ihm und auch den anderen Figuren versagt wird. Das Blau des Kaftans ist zart. Der Stillstand, in dem sich Halim befindet, mag eine Herausforderung sein. Dabei ist das Titel gebende Stück Bild der Beständigkeit und eine Bestätigung, für alles, was sein kann.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Le bleu du caftan Regie: Maryam Touzani Drehbuch: Maryam Touzani, Nabil Ayouch Kamera: Virginie Surdej Montage: Nicolas Rumpl Musik: Kristian Eidnes Andersen Mit Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui, Mounia Lamkimel, Abdelhamid Zoughi, Zakaria Atifi, Fatima Hilal, Mariam Lalouaz, Kholoud El Ouehabi, Amira Tiouli, Hanaa Laidi, Aymane El Oarrari, Ilyass El Ouahdani, Fouzia Ejjawi, Mohamed Naimane, Mohamed Tahri Joutey Hassani Frankreich / Marokko / Belgien / Dänemark 2022 124 Minuten Kinostart: 16. März 2023 Verleih: Arsenal Film Festivals: Cannes 2022 / Karlovy Vary 2022 / Toronto 2022 / Hamburg 2022 / Rotterdam 2023 TMDB

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19 Filme konkurrierten um den goldenen Bären. Im Wettbewerb gab es 18 Spielfilme und einen Dokumentarfilm. “Sur l'Adamant” wurde relativ spät im Festivalverlauf angesetzt. Viele hatten da bereits ein, zwei oder sogar drei Favoriten in der eigenen Auswahl. Die sanfte und durchweg positiv gestimmte Beobachtung über die Arbeit in einer psychiatrischen Tagesklinik in Paris hatte wohl kaum jemand als Frontrunner betrachtet. Konnte sich die internationale Jury auf keinen der Spielfilme einigen?

Das Leben schreibt bekanntlich die besten Geschichten. Das wahre Leben, noch dazu mit prägnanten und spannenden Figuren, der Ansatz einen Blick auf das unverstellte Echte zu blicken, ist in unserer schwierigen Zeit scheinbar relevanter als eine künstlerische Umsetzung einer Interpretation derselben. Doch blickt Nicolas Philiberts Kamera nur scheinbar auf das, was ist. “Sur l'Adament” ist ein rundum wohlfühlender Film auf etwas, was eher nicht wohlfühlend ist und somit leider voller blinder Flecke.

Nicolas Philiberts vielleicht bekanntester Film ist von 2001. In “Sein und Haben” betrachtete er eine kleine Dorfschule, in der die Kinder aller Altersgruppen in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet werden. Damals konnte dieser den Europäischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm gewinnen. Auf der Berlinale trat Philibert zuletzt 2013 mit “La Maison de la Radio”, einer Betrachtung des Senders Radio France an. Nun also ein von der Gesellschaft ausgegrenztes Thema.

Die L'Adamant ist ein fest angelegtes Boot auf der Seine in Paris. Architektonisch wirkt die Klinik durch die Verwendung von Holz warm und einladend und von den rundum aufklappenden Fensterblöcken ist ein freier, durchlässiger Blick nach außen möglich. Psychiatrie stellt man sich gewöhnlich anders vor. Allerdings ist die Tagesklinik, die erst 2019 vom Büro Seine Design auch unter Einbindung seiner Nutzer konzipiert wurde, Teil der Paris Central Psychiatric Group. Die Tagesklinik richtet sich auch nur an Patienten und Patientinnen aus den ersten vier, also den umliegenden 4 Arrondissements. Keineswegs an Besucher aus den entfernteren und wohlmöglich ärmeren Bezirken.

Aber um Architektur geht es hier ja nicht und auch nicht um eine gesellschaftliche Einordnung. Um die Probleme in der Psychiatrie und ihren Methoden der Behandlungsfindung geht es aber auch nicht. Aus den Erzählungen der Mitwirkenden, kann man durchaus einen priveligierten Hintergrund herauslesen. Ein Vergleich mit anderen Kliniken bleibt jedoch auch aus.

Die L'Adamant ermöglicht vorrangig Workshops, in denen sich die Patienten und Patientinnen malerisch und musikalisch und überhaupt künstlerisch ausprobieren können. Dass sie dazu bereits die Voraussetzungen mitbringen, merkt man recht bald und schon in der ersten Szene, als ein Patient (leider blendet das Presseheft die Namen der Mitwirkenden aus, als würden sie eine anonyme Gruppe bilden) den Song “La bombe humaine” der französischen Rockformation »Téléphone« schmettert. In einem deutschen Film hätte man vielleicht einen Song von der Band »Ton Steine Scherben« genommen. Das wäre vergleichbar. Eindruck macht auch, dass gleich mal ein Filmfest geplant wird, denn es gibt einen festen Filmclub.

Wer darf nun eigentlich hier täglich oder regelmäßig dabei sein? Wer wird abgewiesen? “Sur l'Adamant” blendet sowohl den Alltag, als auch Probleme aus. Nur einmal kommt es zu einem Riss in der schönen Fassade, als eine Patientin einen Tanzkurs vorschlägt und, weil sie Tänzerin war, den Kurs auch gleich selbst halten möchte. Das wiederum ist nicht vorgesehen. Sanft wird dieser Vorschlag erst einmal geparkt. Ob nun die Anwesenheit der Kamera Einfluss hatte oder ob es grundsätzlich keine Reibungen gibt, wer weiß das schon. Die Arbeit auf der L'Adamant ist durchaus eine erfolgreiche, könnte man meinen. Aber man fragt sich schon, wie mit Kranken verfahren wird, die im Sinne der Gruppe nicht hineinpassen. Man fragt sich, wie Medikamentenpläne erstellt und kontrolliert werden. Von dieser Seite der Arbeit zeigt Philibert nichts.

Dabei hat Philibert bereits Mitte der 90er mit “La Moindre des choses” einen Film über eine psychiatrische Klinik, der La Borde Clinic, gedreht. Eine gewisse Furcht, die Mitwirkenden bloßzustellen, hatte er offensichtlich schon. Zumindest konnte er im kleinen Team arbeiten.

Philibert führte auch die Kamera, ab und an hatte er aber noch jemanden an seiner Seite. Die Mitwirkenden kannten seine Filme, auch das war ein Pluspunkt. Sie redeten offen mit ihm, Gespräche gibt es zuhauf. Sie erzählen von ihrer Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung der Außenwelt und der Diskrepanz.

Doch die Kamera kann die Aufgabe, psychische Krankheiten für ein Publikum erfahrbarer machen, nicht einlösen. Die Mitwirkenden bleiben auf Distanz. Zu fragmentarisch erleben wir ihren Alltag. Die Szenen konzentrieren sich immer wieder auf die Workshops und auf die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die dann zum Teil doch gebremst werden.

Ein Limit an Möglichkeiten für diesen Tagesalltag wird deutlich, wenn man genau hinschaut. Hinterfragt werden diese Grenzen nicht. Hinterfragt und eingeordnet wird hier gar nichts. Die ruhige, respektvolle Umsetzung ist dann doch sich selbst im Weg und liefert letztendlich ein mittelprächtiges Feel-Good-Movie, dass kein bisschen innovativ ist. Von einem goldenen Bären erwartet man eigentlich neue Akzente und man fragt sich, ob man diesem Dokumentarfilm mit der Auszeichnung nicht einen Bärendienst erwiesen hat.

Eneh

Originaltitel: Sur l'Adament Dokumentarfilm Regie: Nicolas Philibert Mitwirkende: Mamadi Barri, Walid Benziane, Sabine Berlière, Romain Bernardin, Jean-Paul Hazan, Pauline Hertz, Frédéric Prieur, Muriel Thourond, Sébastien Tournayre Frankreich / Japan 2022 109 Minuten Verleih: Grandfilm Kinostart: 14. September 2023 zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

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Eine Liebesgeschichte, die keine sein darf, das ist der nigerianische Spielfilm “All the Colours of the World are Between Black and White”. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es alle Farben der Welt. Nigeria ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land auf dem afrikanischen Kontinent, es hat auch eine bedeutende Filmproduktion. Nicht annähernd so viele Filme aus Nollywood schaffen es in europäische Kinos wie beispielsweise aus Bollywood.

Babatunde Apalowo, der Regisseur dieser ruhig erzählten Geschichte, drehte zwar in seiner Heimat Lagos, lebt aber inzwischen in Großbritannien. “All the Colours” ist ein gelungenes Regiedebüt, der in Zwischentönen all die komplizierten Gefühlszustände seiner Protagonisten zu vermitteln weiß.

Dabei sollte es eigentlich eine Liebesgeschichte an seine Heimatstadt Lagos werden. Apalowo wollte eine Geschichte von einem Kurier erzählen, der unterwegs Fotos von seiner Stadt schießt. Der Regisseur wurde jedoch Zeuge einer Gewalttat. Gewalt ist in Lagos und in Nigeria Teil des Alltags, jedoch sah er, wie ein Kommilitone aufgrund seiner Sexualität von einem Mob gelyncht wurde. Queerness ist in Nigeria nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern wird mit langen Haftstrafen geahndet. So wurde aus einer Geschichte über eine Stadt auch eine Geschichte von ihren Bewohnern. Allerdings ist Apalowo, und da macht der Regisseur gar keinen Hehl draus, straight. Er versuchte trotzdem eine Liebesgeschichte zu erzählen, die zwischen zwei Männern verläuft. Das Gefühl des Liebens und der Zurückweisung, der Unsicherheit der eigenen Gefühle und der Selbstkenntnis und all dem dazwischen sind das Rückrad der Handlung.

Tope Tedela, der nicht nur in seiner Heimat ein renominierter Schauspieler ist, spielt Bambino. Bambino ist ein angesehener Nachbar in seinem Viertel. Er hilft aus, wo er kann, und auch finanziell reicht es zum Leben. Er lebt als Single und denkt gar nicht weiter darüber nach. Doch dann trifft auf Bawo, gespielt von Riyo David, der ihn fotografiert und mit dem er dann in der Stadt herumfährt, um gemeinsam für ein Fotoprojekt Aufnahmen zu machen. Die Kamera von Bawo bringt Bambino nicht nur dem Publikum näher. Doch in der rigiden gesellschaftlichen Haltung gegenüber gleichgeschlechtliche Avancen, braucht es einen Grund, damit sich zwei Männer berühren können, die sich bis dahin mit Blicken taxierten. Als Bambino einen Unfall hat, ist es Bawa, der ihn pflegt und damit Bambinos Selbstbild ordentlich ins Wanken bringt. Es geht in erster Linie um das Gefühl der Zuneigung und Anziehung und Apalowo bringt eine Nachbarin (Martha Ehinome Orhiere) ins Spiel, die sich zu Bambino hingezogen fühlt und dieses auch vermittelt. Nur kann Bambino dieses Gefühl nicht erwidern.

Apalowo vermeidet Klischees und setzt auf Stimmungen. Die Kamera unterstützt in Statik und Bewegung die Grundzüge der Charaktere der Figuren. Lagos als Stadt spielt immer noch eine der Hauptrollen in der Erzählung, wobei Apalowo und sein Partner an der Kamera, David Wyte (“Gbomo Gbomo Express”), einen möglichst realistischen Look anstrebten, auch um das Gefühl der Authentizität zu unterstreichen. Authentizität ist auch in der Handlung wichtig. Bambino kann sich den Zwängen nicht auf Kommando entledigen und er tut es auch nicht. Es tut weh, den beiden, das heißt eigentlich den drei Figuren zuzuschauen. “All the Colours” vermittelt die Stimmungen subtil, aber fühlbar.

Der Teddy ging in diesem Jahr, der reich an queeren Stoffen war, nicht nur in der Sektion Panorama, an diesen nigerianischen Film und ich hoffe, dass der Film auch einen weltweiten Einsatz bekommt. Das, was er zeigt, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen in Nigeria tabuisiert und strafrechtlich verfolgt werden, ist mit Abstrichen zum Glück nur noch auf eine kleine Anzahl von Ländern beschränkt. Die Gefühle, die die Figuren durchlaufen, kennen viele. Lieben und zurück geliebt werden, darum dreht es sich doch. Apalowos Film ist ein Aufruf, und durchaus auch politisch gemeint, diese Liebe, in welcher Farbe auch immer, zuzulassen und Empathie zu entwickeln.

Eneh

Originaltitel: All the Colours of the World are Between Black and White Regie: Babatunde Apalowo Mit Tope Tedela, Riyo David, Martha Ehinome Orhiere, Uchechika Elumelu, Floyd Anekwe, Ciroma Chukwuma Adekunle, Yusuf Olalekan, Bolaji Gelax, Emmanuel Adex, Oni Mercy, Emmanuel Oteikwu-Adah, Nurudeen Obi, Wilson Joseph Nigeria 2023 92 Minuten Auszeichnungen: Teddy für den besten Spielfilm auf der Berlinale 2023 Verleih: bisher kein deutscher Kinostart Coccinelle Film zuerst veröffentlicht der Link führt zum BAF-Blog

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© Eneh