Cineneh

Ich schreibe über Filme – unter anderem

Der Dokumentarfilm Für Immer hat ein sehr schlichtes Plakat. Zwei Menschen sind darauf in Nahaufnahme zu sehen. Sie und er. Es zeigt sowohl, dass die Beiden sich stützen, als auch dass sich Beide eine Unabhängigkeit bewahrt haben. Vertrautheit liest man aus der Pose heraus, doch gleichzeitig wirkt es, als hätten beide etwas Eigenes dazu zu sagen. Vielleicht ist das auch nur eine Interpretation. Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Pia Lenz, für Alles gut – Ankommen in Deutschland bekam sie 2018 den Grimme-Preis, hat die Beiden, Eva und Dieter, eine ganze Wegstrecke lang begleitet.

Kennen gelernt hatte die Regisseurin die Beiden über eine Zeitungsanzeige. Die Idee zu einer filmischen Betrachtung einer Beziehung im Alter, die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Fürsorge und der Beschäftigung mit dem Abschied und dem Loslassen besteht, hatte sie aber schon, als sie ihre Großeltern betrachten konnte. Bei Eva und Dieter war eine gesunde Distanz vorhanden und gleichzeitig konnte sie sich, da sie mit nur minimaler Ausstattung zu arbeiten pflegt und folglich die Kamera weitgehend selbst führt und auch auf gesetztes Licht verzichtet, auf die kleinen Momente, auf Gesten, auf Zwischentöne konzentrieren.

Eva Simon, geborene Rose und Lehrerin von Beruf, führte seit früher Jugend Tagebuch, das zum Teil auch veröffentlicht worden ist. Den späteren Architekten Dieter Simon lernte sie 1952 kennen. Er war damals 18, sie war 16. Die Beiden wurden ein Paar. Sie heirateten ein paar Jahre später, sie bekamen Kinder. Es wurde nicht alles gut. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass eine Beziehung nur von der Liebe gehalten wird. Dabei mag man Schicksalsschläge und Umorientierungen kaum auf die Waage legen. Dass die Beiden zusammengeblieben sind, mag sogar erstaunen. Ihre Tagebücher gab Eva der Regisseurin erst im Laufe der Begegnung. Wahrscheinlich sahen Eva und Dieter auch die Chance sich vor einer Kamera zu öffnen, auf dass etwas von ihnen bleiben möge. Gerne wären sie den Weg bis zum Schluss gemeinsam gegangen. Leider hatte das Schicksal andere Pläne. Pia Lenz wählte sorgfältig aus, was und wie sie die Beiden je für sich und gemeinsam mit der Kamera aufnimmt. Ihr Ansatz ist dezent und gleichzeitig neugierig. Das Ehepaar begegnete ihr offen und ohne die unschönen Flecken in der Vergangenheit zu verdecken.

Das geschriebene Wort fiel Eva Simon wohl nicht schwer. Ein paar Jahre lang verfasste sie sogar Drehbücher für den deutschen Ableger der Sesamstraße, wie man auf ihrer Webseite, der unter ihrem Mädchennamen immer noch aufrufbar ist, erfährt. Manchmal fehlen jedoch die Worte. Dann greift Lenz auf die Tagebücher zurück, aus denen Nina Hoss aus dem Off Auszüge einspricht. Pia Lenz' Kamera zeigt derweil die Vertrautheit im Zusammenleben. Da braucht es auch keine Erzählung, sondern nur ihren aufmerksamen Blick.

Der Film ist eine Art des Abschiednehmens. Eva, die solange sie nur konnte, weiter Tagebuch führte, wurde schwächer. Die Besuche der Regisseurin wohl seltener. Auf das Drumherum, was das Altern mit sich bringt, insbesondere Pflegekräfte, verzichtet der Dokumentarfilm. Dass sie den fertigen Film nie zu dritt gemeinsam würden anschauen können, wussten alle drei, Eva und Dieter und Pia. Der Tod wird hier nicht ausgeklammert. Die Beschäftigung mit dem Leben, mit dem, was bleibt und dem was dann ist, nimmt die Regisseurin ernst und doch vermittelt sie es auf eine sehr berührende Weise.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Für immer Regie: Pia Lenz Konzept: Pia Lenz Kamera: Pia Lenz, Henning Wirtz Schnitt: Ulrike Tortora Musik: Alexis Taylor, Stella Sommer Mit Eva & Dieter Simon, Nina Hoss (Stimme) Deutschland 2023 87 Minuten Verleih: Weltkino Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Dok.Fest München 2023 / Hamburg 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #Weltkino #DokFestMünchen2023 #Hamburg2023

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Wer Museumsfilme mag, sollte sich Vermeer – Reise ins Licht nicht entgehen lassen. Wer es nicht in diese ultimative Vermeer-Ausstellung in Amsterdam dieses Jahr geschafft hat, sollte sich mit dieser Dokumentation trösten. Danach möchte man die einzelnen Häuser, die Bilder von Vermeer ihr Eigen nennen, zu gerne abklappern. Die Kuratoren der Ausstellung haben genau das gemacht. Die Planung war, einen möglichst umfassenden Katalog an Werken des Künstlers zusammenzubringen. Dafür musste das Team bei den anderen Museen anklopfen und dann verhandeln. Diplomatisches Geschick war gefragt, aber nicht immer gegeben. Suzanne Raes' Dokumentation ist quasi ein “Making-of” dieser Ausstellung.

Sie ermöglicht es dem Publikum einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Durchaus mit einem humorvollen Blick. Durchweg neugierig und mitunter richtig spannend. Mit ihrer Hilfe lernen wir die Arbeit der Kuratoren kennen. Wie wählt man Werke aus? Unter welchen Aspekten soll die Auswahl behandelt werden? Was macht man, wenn man einzelne Gemälde nicht bekommt? Bereits dieser Aspekt der Ausstellungsvorbereitung ist faszinierend. Bei Jan Vermeer van Delft (1632 – 1675) kommt nun erschwerend hinzu, dass man, obwohl nur etwa 37 Bilder bekannt sind, ihm nicht alle mit endgültiger Sicherheit zuschreibbar sind.

Darum machte man sich daran, die Werke auf ihre Echtheit hin auf den Prüfstand zu stellen. Die Fragestellung ist, unter anderem: was macht einen Vermeer zu einem Vermeer? Der Film will sich dem Künstler also über seine Kunst annähern. An biografischen Informationen gibt es ja nicht viel. Erkenntnisse über Faltenwürfe der Gewänder sind einfacher zu gewinnen. Dabei ist all das nur eine Perspektive, denn die Ausstellung soll nicht nur den Künstler erklären, sondern neue Aspekte finden und vermitteln. Denn letzten Endes ist eine gute Ausstellung eine, die das Publikum dazu bringt, mit neuen Augen zu sehen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Close to Vermeer Regie & Konzept: Suzanne Raes Kamera: Victor Horstink Montage: Noud Holtman Musik: Alex Simu Mitwirkende Jonathan Janson, Pieter Roelofs, Abbie Vandivere, Betsy Wieseman, Gregor J.M. Weber, Anna Krekeler, Xavier F. Salomon, Lisanne Wepler, Maud van Suylen, Otto Naumann, Thomas S. Kaplan, Annelies van Loon, Taco Dibbits, Adam Eaker, Silke Gatenbröcker, Alexandra Libby, Melanie Gifford Niederlande 2023 79 Minuten Kinostart: 9. November 2023 Verleih: Neue Visionen TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #NeueVisionen #DokFestMünchen2023

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Joyland erzählt von einer pakistanischen Großfamilie. Da gibt es den alten Patriarchen, der allerdings im Rollstuhl sitzt und auf Hilfe angewiesen ist. Dieser hat zwei Söhne. Der eine, Kaleem (Sohail Sameer), wird, als die Handlung einsetzt, zum vierten Mal Vater. Seine Frau Nucchi (Sarwat Gilani) bringt ein Mädchen zur Welt. Schon wieder ein Mädchen. Dabei braucht es doch einen männlichen Erben. Der jüngere Sohn, Haider (Ali Junejo), ist zwar mit Mumtaz (Rasti Farooq) verheiratet, aber er hat noch keine Kinder. Haider steht als Identifikationsfigur im Mittelpunkt der Handlung. Denn er ist verheiratet und doch verliebt er sich in eine andere. Als sich seine gesellschaftliche Rolle ändert, ändert sich ein ganzes Gefüge.

Der pakistanische Regisseur Saim Sadiq hat in seinem Langspielfilmdebüt, welches im letzten Jahr in Cannes Weltpremiere hatte, ein ganzes Ensemble vielschichtiger Figuren zusammengebracht. Indem er die Beziehung zwischen den Einzelnen aufschlüsselt und ihre Interaktionen behandelt, gibt er Einblick, wie groß die Bürde des Patriarchats auf den Akteuren lastet. Die tradierten Werte, die überkommenen Strukturen, machen hier allen zu schaffen. Sadiq zeichnet die Charaktere so authentisch und unmittelbar, dass selbst wenn uns in Mitteleuropa der Alltag in Lahore, wo der Film spielt, fremd ist, wir instinktiv die Nöte der Familienmitglieder begreifen, wir mit ihnen mitfühlen und von ihnen berührt werden.

Haider gilt sowohl in seiner Familie als auch in der Gemeinschaft als verweichlichter Mann. Er ist seit langem arbeitslos, während seine Frau erfolgreich als Make-Up-Artist den Unterhalt verdient. Haushaltspflichten liegen Mumtaz nicht, ihre Arbeit gibt ihr bisher Freiheiten. Doch Haider wird gedrängt, endlich einen Job anzunehmen. Als er tatsächlich Arbeit findet, spricht der Patriarch der Famile, Vater Aman (Salmaan Peerzada), ein Machtwort. Haider, der bis dahin den Haushalt geführt und sich um die Nichten und den Vater gekümmert hatte, gehe nun arbeiten. Mumtaz solle darum fortan im Haushalt ihre Erfüllung finden. Was keiner in der Familie weiß, ist, welche Art Arbeit Haider gefunden hat. Es ist jetzt kein Spoiler zu verraten, dass er in einem queeren Tanzclub im Background tanzen wird. Die Transfrau Biba (Alina Khan), in deren Ensemble er tanzen soll, unterstützt ihn, soweit ihr das möglich ist. Haider fühlt sich zu ihr, und das ist für ihn ein moralisches Dilemma, hingezogen.

Das Drehbuch von Sadig und Maggie Briggs gibt den Figuren einen kurzen Blick auf die Freiheiten, nach denen sich jede und jeder sehnt, und zeigt dann doch auf, wie sehr diese außer Reichweite liegen. Joyland ist somit eine kritische Parabel auf die Gesellschaft Pakistans. Darüber hinaus brennen sich, vor allem durch die wunderbare Kameraführung von Joe Saade und der Montage von Sadiq und Jasmin Tenucci, zahlreiche kleine Szenen in die Erinnerung ein. Der Film wirkt nach.

In Cannes wurde Joyland hoch gelobt. Das Debüt gewann in der Sektion Un certain regard den Jurypreis und darüber hinaus die Queer Palm. Nach der Premiere wanderte der Film von Festival zu Festival. Das US-Branchenmagazin Variety erkor seinen jungen Regisseur, Saim Sadiq, der sein Filmstudium an der Columbia University, NYC, abgeschlossen hat, zu einem der “10 Directors to Watch” für 2023. Pakistan wählte Joyland, nachdem man den Film zuerst als Angriff auf nationale Werte verboten hatte, sogar als seinen Beitrag für den internationalen Oscar, wo er es bis auf die Shortlist schaffte. In der pakistanischen Provinz Punjab, dessen historische Hauptstadt Lahore ist, darf der Film allerdings weiterhin nicht gezeigt werden.

Für Sadiq spricht, dass er es bereits in den ersten Szenen schafft, das Publikum in ein kompliziertes Familiengefüge hineinzuversetzen. Er wertet seine Figuren nicht, er überlässt es den Zuschauenden, die Fallstricke zu erkennen. Er arbeitet subtil die Restriktionen der pakistanischen Gesellschaft heraus und die ablehnende Rezeption seines Heimatlandes zeigt nur, wie sehr diese nottut. Man erkennt tatsächlich, welche Werte die Figuren einengen, welche Freiheiten sie sich erkämpfen müssen und wie schwer das mitunter ist.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Joyland Regie: Saim Sadiq Drehbuch: Saim Sadiq, Maggie Briggs Kamera: Joe Saade Schnitt: Jasmin Tenucci, Saim Sadiq Musik: Abdullah Siddiqui Mit Ali Junejo, Rasti Farooq, Sarwat Gilani, Alina Khan, Sohail Sameer, Salmaan Peerzada, Sania Saeed Pakistan / USA 2022 127 Minuten Verleih: Filmperlen Kinostart: 9. November 2023 Festivals: Cannes 2022, Zürich 2022, Sundance 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Filmperlen #Spielfilm #Cannes2022 #Sundance2023

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Die Zeitspanne zwischen realen Ereignissen und ihrer fiktionalen Verfilmung wird gefühlt immer kürzer. Ein gewisser Abstand ermöglicht Reflektion. Die Nachrichten über den Hype rund um die GameStop-Aktien überschlugen sich 2021 und haben sich kaum gelegt, da bringt der australische Regisseur Craig Gillespie (I, Tonya) eine biographisch-historische Aufarbeitung ins Kino. Vorlage war ein Sachbuch mit dem griffigen Titel The Antisocial Network: The GameStop Short Squeeze and the Ragtag Group of Amateur Traders That Brought Wall Street to Its Knees von Ben Mezrich.

Mezrich hatte übrigens auch ein Sachbuch über Facebook verfasst, das ebenfalls verfilmt worden ist. David Fincher machte daraus The Social Network. Zurück zu Gillespie, der hatte einen der jungen Kleinanleger, die von Finanzhaien ob ihrer vermeintlichen Naivität schlicht als “Dumb Money” bezeichnet wurden, sprich einen Sohn, während der Pandemie-Zeit im Haus und kriegte die Entwicklung hautnah und in Echtzeit mit.

Muss man denn über die Finanzwelt Bescheid wissen? All die Fachbegriffe wie Leerverkäufe kennen? Nein. Dumb Money erklärt, was man braucht, und ist dabei auch nicht ganz so stilistisch überbordend wie dem sehr ähnlichen The Big Short (Regie Adam McKay, 2015), der die Gier der US-Finanzwelt exaltierter vorführte, damit noch pointierter den Finger in die Wunde legte, aber keine Identifikationsfigur hatte.

Gillespie und die Drehbuchautorinnen Lauren Schuker Blum und Rebecca Angelo machen keinen Hehl daraus, welcher Seite der Geschichte sie die Daumen drücken. Ja, Dumb Money ist eine David gegen Goliath-Story. Während die reichen Finanzjongleure mit gerade noch legalen Tricks noch reicher werden, aus Geld Geld machen, gehen alle anderen finanziell baden. Gerade die Covid-Pandemie zeigte eindrücklich, wer an Krisen gewinnt und wer nicht. Dumb Money ist somit nicht nur ein Film über das Gebaren an der Börse, sondern ein erstaunlich präzises Bild über die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen bzw. das Fehlen der Auswirkungen in den zwei diametral entgegengesetzten Akteursgruppen.

Im Mittelpunkt steht Keith Gill, wunderbar gespielt von Paul Dano, der im Keller seines Hauses als Finanz-Influencer sich für die Aktien von GameStop begeistert. Dabei ist die Ladenkette für Computerspiele ziemlich am Ende. So auf dem letzten Meter wollen die großen Akteure, zum Beispiel gespielt von Seth Rogen und Nick Offerman, mit deren Pleite Geld machen. Ihnen kommt gar nicht zupass, dass der Wert der Aktien plötzlich steigt, weil irgendein Nerd mit Stirnband und Katzen-T-Shirt sein Erspartes da reinsteckt und dafür überzeugend brennt. Und der Aktienwert steigt und steigt. Was wie ein kurzfristiger Trend wirkt, wie ein Spiel, wird richtig ernst, als all die kleinen Anleger, die über eine Schnittstelle wie der Robinhood-App, die einen leichten und kostengünstigen Zugang gewährte, und einer Plattform wie Reddit, wo diese sich vernetzen konnten, erkennen, welche Macht sie im Verbund haben. Sie können die mit dem großen Geld mal so richtig bluten lassen.

Dumb Money stellt uns ein paar dieser Kleinanleger exemplarisch vor. Studentinnen, die ihre Studiengebühren bezahlen müssen, eine Krankenpflegerin, die in Pandemie-Zeiten ihr Letztes gibt und ob ihrer horrenden Schulden sich nicht einmal eine Verschnaufpause leisten kann. Kleine Leute, für die jeder noch so kleine Gewinn viel bedeutet und die ihre Aktien trotzdem hielten. Gillespie weiß auch die Lockdown-Zeit visuell und emotional einzufangen. Das war eine Zeit, in der Bewegung höchstens auf Computerbildschirmen stattfand. Eine Zeit, in der erwachsene Kinder in ihre Elternhäuser zurückkehren mussten, weil sie ihre Jobs verloren haben. Eine Zeit, in der die Diskrepanz zwischen der Enge eines Kellers und Gärten mit Swimming-Pools die Ungerechtigkeiten noch deutlicher sichtbar machte.

Jetzt wäre die Geschichte, die sich erst 2021 zugetragen hat, fast nur noch eine Fußnote. Dumb Money überdramatisiert die Ereignisse nicht und bleibt wohl ziemlich nahe dran an den wahren Abläufen. Der Film, der zum Großteil von einem hervorragenden Darstellenden-Ensemble lebt, nimmt die Wendungen mit auf. Mit fiesen Moves wollte man die Kraft der Kleinanleger brechen. Gillespie lässt den durchaus auch humorigen Film zum emotionalen Drama werden, bei dem das Publikum sicherlich zwischen Genugtuung und Frustration, Schadenfreude und Wut hin und her schwanken wird.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Dumb Money Regie: Craig Gillespie Drehbuch: Lauren Schuker Blum, Rebecca Angelo Kamera: Nikolas Karakatsanis Schnitt: Kirk Baxter Musik: Will Bates Mit Paul Dano, Pete Davidson, Vincent D'Onofrio, America Ferrera, Myha'la Herrold, Nick Offerman, Anthony Ramos, Seth Rogen, Talia Ryder, Sebastian Stan, Shailene Woodley, Kate Burton, Clancy Brown, Rushi Kota, Larry Owens, Dane DeHaan, Olivia Thirlby, Andrea Simons USA 2023 104 Minuten Verleih: Leonine Kinostart: 2. November 2023 Festivals: Toronto 2023 / San Sebastián 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Leonine

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23 – Nichts ist so wie es scheint wird am 23. November 2023 in Anwesenheit von Gästen aus Cast & Crew im Kant Kino, Berlin in einer Sondervorführung gezeigt werden.

Aus dem Archiv von 1998

“Nichts ist so, wie es scheint”: so lautet der Untertitel zu 23. Eine Binsenweisheit. “Die Wahrheit ist da draußen”, das ist eine der aktuellen Varianten für Paranoiker. Spulen wir die Zeit zurück. Ein Jahrzehnt oder ein paar Jahre mehr. In den Nachrichten und Nachrichtenmagazinen waren Hacker ganz groß in den Schlagzeilen. Diese Hacker brachen in Atomkraftwerke ein und ins amerikanische Pentagon, überhaupt war nichts sicher vor ihnen. Tatsächlich ist nichts so, wie es scheint, und im allgemeinen sind Hacker nicht unbedingt Leute, die dem einfachen Bürger nur an seine Online-Bankkonten wollen. Vielmehr darf man getrost davon ausgehen, daß nichts so ist, wie es einem weisgemacht wird. Auch heute noch arbeiten politisch motivierte Hacker daran, Lücken im Netz aufzuweisen, die man allgemein, für den Seelenfrieden, unter den Teppich kehren will.

Karl Koch war ein Computer-Ass. Er kam aus einem konservativen, gut bürgerlichen Elternhaus, gegen das er rebellierte. Auf die politischen Mißstände der Zeit reagiert er hochsensibel. Zuerst demonstriert er nur in Brokdorf, später verschob er hochsensible Daten an den KGB. Warum? Wie so viele in den 80ern las Koch das Buch Illuminatus! von Robert Anton Wilson, dessen Theorie einer Weltverschwörung für Koch Erklärungen für seine politischen Fragen lieferte. Später nannte sich Koch Hagbard Celine, nach dessen Romanhelden. Gödel, Escher, Bach, in Kochs Zimmer waren die Wände voll von mathematischen Theorien. Zahlenspiele und Symbole für die einen, für ihn ein Weltbild. Die Zahl 23 ist bei Wilson der Geheimcode schlechthin. Laut Wilson starben alle großen Anarchisten an einem Dreiundzwanzigsten..

Auch Karl Koch verschwand an einem Dreiundzwanzigsten. Sein Talent war die Arbeit am Netz. Damals arbeitete man noch mit einfachen Geräten, aber Karl und sein Freund David hackten sich überall rein. Und sie taten das nicht ohne Grund. Über einen Kontakt in Berlin gaben sie die Informationen an die Russen weiter. Karl Koch meinte damit die Informationsbalance zwischen den Großmächten herstellen zu können, dies diktierte sein Gerechtigkeitssinn. Dafür bekam er Geld, mit dem Geld finanzierte er sich seine immer stärker werdende Drogensucht. Die Drogen verstärkten auch zunehmend seine Realitätsentfremdung, seine Paranoia wuchs. War der Tod von Olof Palme noch eine Bestätigung, daß eine böse Verschwörung den Tod des Politikers zu verantworten habe, so glaubte er später gar, daß der Reaktorunfall in Tschernobyl kein Zufall war.

Hans-Christian Schmid zeigt dem Zuschauer das Leben von Karl Koch in der Zeit zwischen dessen Abiturabschluß und seinem Verschwinden. Dem Regisseur war dabei der Mensch wichtig, nicht unbedingt der Hacker.

Bereits zur Zeit von Nach fünf im Urwald hat Du von diesem Projekt geschwärmt. Doch es dauerte jetzt über zwei Jahre, bis Du 23 fertigstellen konntest. Wo lag das Problem?

23 war weitaus aufwendiger als mein letzter Film. Im Herbst 1996 haben wir mit den Recherchen angefangen. Ein halbes Jahr lang waren wir in Hamburg, Hannover und Berlin unterwegs. Wir haben jede Menge Interviews geführt. Dann brauchten wir ein weiteres halbes Jahr für das Drehbuch. Für die eigentlichen Dreharbeiten hatten wir 25 Drehtage, das waren mehr, als wir bei Nach fünf im Urwald hatten. Für den Schnitt brauchten wir schließlich auch ein halbes Jahr. Wir hatten um die 16 Schnittfassungen.

Warum denn das?

Das ist immer so eine Frage, wann kann man jetzt sagen, das sei eine neue Fassung. Wir haben das erste Mal am Avid geschnitten, also elektronisch. Da ist man großzügiger. Viele Variationen sind möglich, je nach Gewichtung der einzelnen Teile. Wir überlegten uns, wie viele Fernsehbilder wir wo einstreuen können. Und dann gab es da eine komplette Liebesgeschichte im Buch, die haben wir auch schon gedreht, aber dann hatten wir dafür keinen Platz mehr, und wir mußten sie Schritt für Schritt wieder entfernen.

Wo gab es da eine Liebesgeschichte?

Das war so: Karl Koch hat nicht lange vor seinem Tod noch eine junge Frau kennengelernt. Mit ihr haben wir, glaube ich, die meisten Interviews geführt. Sie hat uns auch am meisten über ihm erzählt, wußte auch am meisten zu erzählen. Wir haben mit einem Drehbuchbetreuer zusammengearbeitet, David Howard, wir kannten ihn schon von Nach fünf im Urwald und Himmel und Hölle, und er sagte uns, wir könnten ruhig versuchen, so spät im Film noch eine Liebesgeschichte einzuführen, aber es würde nicht funktionieren. Uns war das egal. Es gab diese Geschichte ja, also wollten wir die da drin haben. Da gibt es diese Szene, wo Karl mit nacktem Oberkörper im Regen über diese Brücke läuft und zusammenbricht. Eine junge Frau fand ihn dort, brachte ihn ins Krankenhaus, und in diese Frau verliebte er sich. Wir hatten ein paar Szenen gedreht, im Wohnheim und in der Verfassungsschutzwohnung ganz zum Schluß. Alle, denen wir den Film so gezeigt hatten, waren entsetzt. “Was macht denn diese Frau jetzt hier bitte noch?” Es passte einfach nicht in den Film.

Viele, die diese Geschichte aus dem Buch von Clifford Stoll (Kukucksei) kennen, werden von 23 zwangsläufig etwas enttäuscht sein.

Ich habe nie behauptet, daß man die Geschichte von Clifford Stoll zu sehen bekommt. Es ist eine ganz andere Geschichte. Die erste Drehbuchfassung habe ich bereits zusammen mit einem Freund vor sieben oder acht Jahren entwickelt. Damals nannte ich das noch “Datenreisende” und es gab auch jemanden, der Stolls Rolle bekommen hätte. Wir konnten den Film nicht finanzieren. 1997 hat uns Clifford Stoll überhaupt nicht mehr interessiert. Wir wollten einen Film über Karl Koch machen. Jede Minute, die man ihm wegnimmt, um von einer anderen Figur zu erzählen, war mir zu schade. Mir geht es nur um Karl, um eine Freundschaft, um ein Lebensgefühl in Hannover, in den 80ern. Stoll war da kein Thema.

Viele Fakten hast Du doch ändern müssen.

Man ändert so wenig wie möglich und so viel wie nötig. Ein Film muß für ein Publikum funktionieren. Ich muß meine Geschichte gut erzählen, so daß die Leute sich nicht zwischendurch langweilen. Karl Koch war zwischenzeitlich eineinhalb Jahre in einem Wohnheim in Hannover. Aus dieser Zeit wissen wir nichts über ihn, der Wohnheimleiter erinnert sich nicht an ihn. Die Clique existierte damals auch nicht. Dramaturgisch überspringt man diese Zeit also.

Du beendest den Film am 23. Mai. Kommt das hin?

Mit allen sensiblen Details war ich sehr genau. Karl ist am 23. Mai in diesem Waldstück verschwunden und wurde an dem Tag vermisst gemeldet. Seine Leiche fand man am 2. Juni und die dpa-Meldung ging am 4. Juni raus. Damals gab es eine ganze Reihe von Artikeln, im Spiegel und im Stern, sowohl über das Auffliegen des Hackerringes als auch zu Karls Tod.

Woher kommt Deine Faszination für die Illuminati-Papiere?

Das Buch war damals Pflichtlektüre in der Clique. Genauso lasen wir Per Anhalter durch die Galaxis und Herr der Ringe. Mich faszinierte das. Ich bin nicht so abgedriftet wie Karl Koch, für mich war das eher eine intellektuelle Spielerei.

Karl Koch war ein hoch intelligenter Mensch. Wie erklärst Du es Dir, daß er auf so eine, sagen wir, Verschwörungstheorie hereinfällt?

Eben weil er ein hoch intelligenter, hoch sensibler Mensch war. Letzten Endes war für mich die Tatsache ausschlaggebend, daß es in fast jedem Schuljahrgang jemanden gibt, der bei einem Abitreffen, sagen wir nach zehn Jahren, fehlt. Da gibt es ein paar Leute, die nicht mehr am Leben sind. Vor nicht langer Zeit hat Andres Veiel einen Dokumentarfilm zu diesem Thema gedreht: Die Überlebenden. Der besuchte sein Abitreffen und da fehlten drei Freunde. Er machte sich daran herauszufinden und nachzuvollziehen, warum die es nicht gepackt haben. Warum haben sie nach dem Schulabschluß nicht ihren Platz im Leben gefunden? Ich glaube, es sind oft die sensibelsten und intelligentesten Menschen, die damit an irgendeinem bestimmten Punkt scheitern. Das fand ich auch bei Karl so spannend. Ich glaube, seine Intelligenz hat ihn eher behindert. Er war sicher intelligent genug gewesen, zu verstehen, daß Wilson da ein Spiel gespielt hat, doch ich glaube auch, daß Karl der Humor gefehlt hat. Wilson muß man mit Humor lesen. Wir haben mit Wilson auch darüber geredet, für ihn war das ein Spiel.

Karl Koch kam aus einer politischen Ecke. Die ganze Computerszene war in den 80ern noch hochpolitisch motiviert. Heute kann man davon ausgehen, daß Computeruser eher nur marktwirtschaftlich orientiert sind.

Die Leute vom Chaos Computer Club würden dir widersprechen. Die sind immer noch sehr politisch engagiert. Doch der durchschnittliche Internetuser ist wahrscheinlich nur kommerziell interessiert. Ich bin im gleichen Alter, in dem Karl Koch heute wäre, also 33. Das heißt, die Zeit damals war für mich genau wie für ihn eine sehr politisierte Zeit. Es gab eindeutige Feindbilder. Wir wußten, gegen wen wir sein können. Es gab den Ost-West-Konflikt, es gab die Friedensbewegung, es gab die großen Demonstrationen. Im Süden war das Wackersdorf, im Norden, wo Karl wohnte, war das Brokdorf und Gorleben. Das hat sich geändert. Es gibt heute immer noch wache und politisch interessierte junge Menschen, aber es ist etwas diffuser.

Die Brisanz, die dieser Fall damals hatte, ist heute eigentlich kein Thema mehr. Man weiß, was Hacker machen, was sie bewirken können. Was das Netz bringt und was es nicht bringt.

Darum geht es mir mit 23 doch gar nicht. Mich interessierte die menschliche Geschichte. Ich glaube nicht, daß die Leute ins Kino gehen, um sich einen möglichst lückenlosen Überblick über diese Zeit zu verschaffen. Für mich war ganz klar Karl Koch interessant, und dann erst mal länger nichts. Dann gab es diese Freundschaftsgeschichte zwischen Karl und David, dann diese Vierergruppe, die in Wirklichkeit eine Fünfergruppe war. Mich interessierte, warum sich Karl darauf eingelassen hatte, wie er so seine Allmachtsphantasien hatte, wie das mit den Vieren zu Ende ging, warum Karl von der Sache nicht mehr loskam. Die Tatsache, daß die Geschichte in Hannover spielt, noch dazu Mitte der 80er Jahre, und dann ging es noch um Computer, das hat uns beinahe davon abgebracht, diesen Film überhaupt zu machen. Wir fanden die 80er doof, Hannover ist doof, Computer sind doof. Unsere Produzenten, Jakob (Claussen) und Thomas (Wöbke) haben auch gesagt: “Mensch ej, muß das echt sein. Also könnt ihr diese Geschichte nicht vielleicht in der Gegenwart erzählen?” Aber in der Gegenwart hätte das nicht funktioniert. Da war Tschernobyl wichtig für Karl Koch, und auch die Ermordung von Olof Palme. Und eben auch dieses Lebensgefühl dieser Zeit war wichtig. Nun, mittlerweile gibt es ja so etwas wie ein 80er-Revival. Mir unverständlich, woher es kommt. Wahrscheinlich hat man die 70er durch und braucht etwas Neues. Die 80er waren scheiße. Die Mode war scheiße und die Musik war scheiße.

Findest Du?

Also... Sollen wir jetzt über Modern Talking diskutieren, über Miami Vice? Aber es war Teil dieser Geschichte und wir haben das dann mitgenommen. Das ist Hannover, das sind die 80er. Wir verstecken das nicht, machen es aber auch nicht zum Thema.

Zum Glück hast Du nicht den Fehler begangen, uns das Innere eines Computers visuell darzustellen, wie zum Beispiel Ian Softley mit dem Film Hackers das gelöst hat. So etwas kann tierisch in die Hose gehen, ist nach einem Jahr schon veraltet. Dafür ist die visuelle Darstellung von Karl Kochs Drogengeschichte doch fast ein Bruch.

Karl Koch war ein heftiger Drogenbenutzer. Als er aber sein Abitur machte und sein Vater starb, da war Karl noch clean. Der erste Kontakt zum Koks kam erst später. Vielleicht haben wir es nicht geschafft, das gut zu steigern. Insgesamt haben wir die Drogengeschichte trotzdem sehr zurückgenommen. Karl hat wesentlich mehr Zeug eingeworfen. Wir wollten am Anfang des Films ein bestimmte Niveau vorgeben und dann diesen Weg beschreiten, auf dem es immer weiter abwärts führt. Es ist ein großes Risiko, wenn ein Held von Anfang an zugedopt ist. Also, ich habe gerade erst Fear and Loathing in Las Vegas von Terry Gilliam gesehen und hatte so meine Probleme damit. Ich dachte, daß muß doch jetzt irgendwann irgendwie, bitte bitte, anders werden. Es ist doch wichtig, für eine Figur immer wieder Momente der Hoffnung aufzubauen. Karl Kochs Freunde hatten über die Jahre hinweg immer wieder das Gefühl, jetzt packt er es doch vielleicht, irgendwie schafft er es. Doch dann hatte Karl eine Phase der Angst, da schloß er sich in seine Wohnung ein und knallte sich bis zum Anschlag mit Koks zu, um irgendwie einmal alles zu löschen, um sozusagen seine Festplatte neu zu programmieren. Das mußten wir visuell irgendwie umsetzen.

Dein Film ist ziemlich pessimistisch, besonders im Vergleich zu Stolls Buch, das eher amerikanisch, lustig und heiter ist.

Aber was soll diese heitere Art? Clifford Stoll ist doch irgendwie ein widerlicher Komiker. Also, so habe ich den kennengelernt. Fakt ist doch, daß am Ende Karl Koch tot ist.

Ich würde gern auf das politische Motiv zurückkommen, das den Karl Koch bewegte. Von heute aus betrachtet, vielleicht weil die Zeit komplett anders ist, spielt da eine gewisse Naivität mit. Ich meine diesen Gedanken: Ich gebe den Russen jetzt das, was die Amerikaner haben, um dieses Gleichgewicht zu halten. Obwohl man diese Zeit selbst erlebt hat, kommt es einem eigenartig vor und wirklich blauäugig.

Die Jungs waren damals, glaube ich, auf einem Mega-Trip. Sie dachten, wir kapieren, wie die Computer funktionieren und ihr seid alle doof. Wir schaffen es hier mit unserem C64 oder unserem Atari, der noch nicht einmal eine Festplatte hat, in euren hochgesicherten Pentagon-Dingsda reinzukommen. Und das in Verbindung mit was weiß ich, am Anfang waren das wohl Amphetamine und ein bißchen Koks. Das macht dann auch ein bißchen glücklich und wach. Dann sagt man sich, ja logisch, gebt die Informationen dem KGB. Ideologisch passte das denen in den Kram. Ost und West würden die gleichen Informationen haben, Kohle gab es auch noch und dafür gab es dann wieder Koks oder sonst was. Das ist doch perfekt. Die Naivität kann ich soweit nachvollziehen, als daß ich vor ein paar Wochen meine Schülerzeitungsartikel heraus gekramt habe. Ich las so einen Artikel und dachte, was warst du doch naiv. Also so ein gut-böse-naiv. Ihr seid die Bösen, und wieso können wir das nicht alle ganz anders machen und glücklich sein. Das war damals so. Vielleicht ist es ein Teil des Älterwerdens, daß man realistischer wird.

Du hast größtenteils mit unbekannten Darstellern gearbeitet. Eine bewußte Entscheidung oder war es das Diktat des Alters?

Beides. Ich arbeite gern mit unbekannten Leuten. Es ist spannend, neue Gesichter zu entdecken. Vom Starkult halte ich gar nichts. Natürlich würde ich es nicht kategorisch ablehnen, mit Stars zu drehen. Ist jemand ein guter oder schlechter Schauspieler, ist jemand für die Rolle geeignet oder nicht... In Nach fünf im Urwald waren die Figuren 17, jetzt in diesem Film waren sie 20, da hat man kaum Möglichkeiten. Also, ich würde nie einen Schauspieler nehmen, der 25 ist und so tut, als wäre er 20.

23 hat einen fast monochromen Touch, wie habt ihr die Farbgebung hier erarbeitet?

Ich wollte diesen Film unbunt machen. Das hängt mit einem Fernseherlebnis zusammen. Irgendwann wurde der erste Schimanski im Fernsehen wiederholt und ich hatte nur gestaunt, wie blaß die ganzen Farben sind. Das war wohl eine schlecht gelagerte Kopie, aber der Klaus Eichhammer (mein Kameramann) und ich haben uns überlegt, wie man so etwas herstellen könnte. Es wäre doof, zu sagen, die 80er waren blasser, aber mir ist der Umgang mit Farbe sehr wichtig. Mir gefallen auch in der Malerei die eher monochromen Farbkompositionen und in der Photographie die Schwarz-Weiß-Bilder. Ich mag es nicht, wenn ein Film einfach nur bunt ist. Hannover Mitte der 80er Jahre war nicht bunt. Mit dem Verzicht auf gewisse Farbtöne haben wir eine eigene Stimmung geschaffen.

Man kann natürlich vom Konzept her Leuten Farben zuordnen. So hat Tom Tykwer das in Winterschläfer gemacht. Vier verschiedene Figuren, vier verschiedene Farben. Das kann einem aber auch künstlich vorkommen. Wenn ich jetzt Karl Koch immer nur grün oder rot gegeben hätte, dann hätte man irgendwann jeden Einrichtungsgegenstand definieren müssen. Wir sind einen anderen Weg gegangen. Wir machten eine Bleichbadüberbrückung, dadurch wurde der Film entsättigt. Auf Rot verzichteten wir. Wir haben uns in braunen und grünen Tönen aufgehalten. Das andere Konzept war, daß wir Handkamera verwendeten. So kommt man einer Authentizität näher für mein Gefühl. Also, man sollte nicht mit der Kamera rumwackeln, das ist auch genau das, was ein Dokumentarfilmkameramann auch nicht tut. Der versucht ja immer alles möglichst gut mitzubekommen, nur weiß er nicht, was passieren wird. Für einen Spielfilm bedeutet die Handkamera eine etwas größere Freiheit für die Schauspieler. Die Kamera reagiert auf den Darsteller und nicht umgekehrt, daß die Kamera agiert, indem sie eine Fahrt vorgibt, nach der sich der Schauspieler richten muß.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Glück für Deinen Film.

Eneh

Das Interview wurde von Elisabeth Nagy und Dirk Lüneberg am 22. Oktober 1998 in Berlin anlässlich des Filmstarts von 23 – Nichts ist so wie es scheint geführt.

Aus dem Archiv. Veröffentlichung 1998 im Magazin Zonic, Ausgabe 10 (online nicht verfügbar). Der Text wurde bis auf Verlinkungen nicht verändert und ist darum auch nicht gegendert.

#AusDemArchiv #Interviews #Filmgespräche

© Eneh

Aus dem Archiv von 2000

Filmscapes, so nennt Peter Sorel die Ausstellung mit einer Auswahl von ca. 60 seiner Filmfotos. Bilder, die bewegte Filmszenen in feste Einstellungen bannen. Die Idee kam in Budapest auf, wo der Ungarn-gebürtige Sorel die Dreharbeiten von István Szabós Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein begleitet hatte, seine erste Heimkehr nach Jahren. Das Camerimage-Festival, das Sorels Standfotos bereits in den Lebenswerk-Katalogen von Zsigmond und Kovács ausgiebig verwendet hatte, lud die Ausstellung nach Toruń ein. Auf Grund persönlicher Verbindungen, bot das Haus Ungarn in Berlin Raum, um auch den Berlinale-Gästen Einblick in die Welt des Filmes durch die Kameralinse von Peter Sorel zu geben. Die von Sorel gegründete Society of Motion Pictures Still Photographers feierte derweil ihr fünfjähriges Bestehen mit einer weiteren Ausstellung in den Räumen der American Academy.

Wer engagiert bei einem Filmprojekt den Setfotografen?

Kommt darauf an. Oft spielen persönliche Beziehungen eine Rolle. Bei Playing by Heart stellte mich Vilmos Zsigmond, der Kameramann des Filmes, dem Regisseur vor. Der schaute sich meine Bilder an und zeigte sie seinem Produzenten. Beide waren sich einig, daß ich ein guter Fotograf sei. Als ich im Filmgeschäft angefangen hatte, war das Studiosystem noch stärker, da war einiges leichter. Heute ist es so, daß zu allererst der Star, also der Schauspieler, gefragt wird. Meist kommt der schon mit seinem eigenen Troß an Leuten an. Das geht so weit, daß der Schauspieler auch in technischen Belangen Besetzungen verlangen kann. Erst dann fragt man den Regisseur und dann den Produzenten, ober er jemanden für den Job vorschlägt. Wenn auch die keine Idee haben, dann fragt man das Studio. Obwohl ich nie ein Freund des Studiosystems war, heute ist es weitaus schlimmer. Heute gleicht es einem Beliebtheitswettbewerb.

In Ihrer Filmografie befinden sich Mainstreamfilme wie Ghost, Thriller wie Seven, aber auch künstlerische Filme wie zuletzt der Film von István Szabó, Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein. Wonach wählen Sie ihre Projekte aus?

Das ist allein vom Script abhängig. Eigentlich mag ich keine Thriller. Seven war ein aussergewöhnlich gutes Buch und es war ein sehr guter Film. Ich mag die alltäglichen Geschichten. Jedem passieren doch immer wieder wunderbare Dinge, nicht wahr? Ein guter Autor kann daraus einen wunderbaren Film schreiben. Natürlich ist es schwierig, bei so einer Geschichte dann einen Arnold Schwarzenegger zu besetzen. In Amerika werden darum auch nur wenige dieser menschlichen Geschichten realisiert. Wir haben in den USA keinen Antonioni. Antonioni war kurz in Amerika. Man rief mich ab, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm zu arbeiten. Aber natürlich, sogar unentgeldlich, doch dann wurde aus dem Projekt nichts.

Wie weit haben Sie am Set freie Hand?

Das hängt von der Stimmung am Set ab. Meist von den Schauspielern, oder es kommt vor, daß der Regisseur ein nervöser Mensch ist. Ich habe eine Verkleidung um meine Kamera. Es gibt also kein klick, klick, klick. Man hört mich nicht, man sieht mich nicht. Ich bin nicht im Weg. Ich weiß, wohin der Dolly fährt. Also, technisch kann ich jederzeit arbeiten. Manchmal sagt der Regisseur jedoch: „sei mir nicht böse, aber das lass jetzt mal, mach das später.“ Am Schlimmsten ist es, wenn man mit zwei Schauspielern arbeitet, die beide gegenteilige Anweisungen geben. Der eine sagt, ich dürfe während der Proben nicht knipsen, der andere, daß ich bei den Proben meine Bilder machen darf, aber beim Dreh gefälligst nicht. Auf wen hört man dann? Eine zufriedenstellende Lösung gibt es dann nicht. Man muß mit den Schauspielern reden.

Diplomatie ist das halbe Leben.

Früher war auch das einfacher. Früher, was erzähle ich da, vor 30, 35 Jahren, als ich in diesem Job anfing. Damals wurde dem Fotografen ein gewisser Respekt entgegengebracht. Regisseure und Schauspieler ließen einen arbeiten. Heute ist das anders. Wenn ein Star 20 Millionen Gage bekommt, dann kann es schwierig werden. Plötzlich stört ihn dieser oder jener. Der ist im Weg, oder jener nimmt ihm das Licht. Es ist tatsächlich Diplomatie gefragt. Wenn ich die Schauspieler nicht bereits von einem anderen Film kenne, dann verbringe ich die erste Woche wirklich damit, die Schauspieler zu umwerben. Man lernt sich kennen, man lernt, wann man was machen kann. Mit dem Regisseur hat man bereits vor den Dreharbeiten geredet. Man bewirbt sich, zeigt ihnen seine Bilder. Jetzt gibt es eine neue Generation von Regisseuren, die sind gerade mal 30 Jahre alt, die waren noch gar nicht auf der Welt, als wir Easy Rider geschossen haben. Manchmal ist das auch ein Problem, wenn es den Regisseur stört, daß der Fotograf schon länger in dem Job ist.

Und wie ist es, wenn mehrere Generationen an einem Set zusammenkommen? Ich denke da an gerade an Playing by Heart, der demnächst ins Kino kommt. Da spielen Gena Rowlands und Sean Connery mit Ryan Phillippe und Angelina Jolie zusammen.

Playing by Heart war eine außergewöhnliche Erfahrung. Willard Carroll, der Regisseur, mochte mich und es war eine fantastische Besetzung. Angelina Jolie ist eine junge Schauspielerin, aber sie arbeitet absolut professionell. Die Arbeit mit ihr ist ein Vergnügen. Sie ist ganz anders, als andere in ihrem Alter. Sie weiß, man arbeitet mit dem Fotografen, man macht ihm nicht das Leben schwer. Die Schauspieler wissen doch, daß sie Schutz geniessen. Sie bekommen die Kontaktabzüge und Fotos, die ihnen nicht gefallen, werden auch nicht veröffentlicht. Mein schlimmstes Erlebnis hatte ich mit Julia Roberts. Sie bekommt einen Kontaktbogen in die Hand und kreist ein Bild an, das ihr eventuell gefallen könnte. Alle anderen dürfen nicht verwendet werden. Man weiß schon vorher, daß man den Job unter künstlerischen Gesichtspunkten vergessen kann. Mit solchen Leuten arbeite ich nicht gerne.

Wie wichtig ist Ihnen die Beziehung zu einem Kameramann?

Das ist am allerwichtigsten. Wenn diese Beziehung nicht stimmt, dann kann man nicht arbeiten. Man sollte möglichst auf einer Wellenlänge liegen. Ich rede auch gern über Beleuchtung. Mir stehen die Kameramänner also sehr nahe.

Oft bekommt man in dem Pressefotosatz ein Bild, da steht dann der Regisseur neben der Kamera ...

Wenn ich den Job habe, dann fotografiere ich auch den Kameramann. In der Ausstellung sind auch zwei Bilder von Darius Kondhji, aber die habe ich nicht am Set aufgenommen. Das war ein Jahr nach Seven. Kodak hatte eine neue Werbekampagne in Angriff genommen und trat an mich heran, ich solle Darius fotografieren.

Um American History X gab es Diskussionen, wie äthetisch man das Böse ablichten dürfe. Wie sehr darf man als Fotograf am Set kommentieren, oder lichtet man nur die Szene ab?

Man gibt den Film wider, das ist unsere Aufgabe. In dem Film war aber auch eine Szene, eine Idee des Regisseurs, in der der kleine Bruder einem schwarzen Jungen Rauch ins Gesicht bläst. Im Film wird das allerdings mit einer Einstellung über der Schulter gezeigt. Da habe ich dann die beiden Darsteller nach dem Dreh zurückgerufen, sie mögen sich doch bitte ans Fenster stellen, wegen der Beleuchtung. Ich brauchte die Einstellung, in der man den schwarzen Jungen genauso gut sehen konnte, wie den weißen. Das ist ja das Problem. Der Regisseur macht den Film im Schneideraum. Er fügt eine Geschichte aneinander, der der Zuschauer folgen kann. Da hat man dann einen Over the Shoulder-Blick und dann ein Close Up. Ich hasse Close Ups. Beide Darsteller sind gar nicht zusammen im Bild. Die Beziehung zwischen den beiden sieht man nicht. In einem Foto muß man sie aber sehen. Ein Foto braucht eine Geschichte, damit der Betrachter sofort sieht, worum es sich handelt.

Wie sehr geben Sie dem Image eines Stars nach?

Mich interessiert nur der Film. Wenn ich eine Szene nachträglich stelle, dann nur deswegen, weil ich nicht nur die Idee einer Einstellung sondern die Idee eines ganzen Filmes einfangen möchte. Aus einem anderen Grund bemüht man die Darsteller nicht.

Die Marketingabteilungen wollen jedoch Bilder von den Stars.

Stimmt. Wenn man heute beim Film arbeiten will, dann muß man nun einmal das tun, was das Studio will. Für die Marketingabteilungen ist eben der Star wichtig. Darum gibt es auch diese unglaublich schlechten Pressefotosätze. Oft weiß man anhand der Fotos nicht, worum es in dem Film überhaupt geht, aber der Star ist auf jedem Bild. Aber ich liefere diese Bilder. Ich mache zuerst, was sie wollen und dann, was ich will. Ich weiß, daß sie nur das benutzen werden, was ich nie im Leben benutzen würde, aber wir werden ja nicht gefragt. Das Maximum an Freiheit ist, daß man ein Foto nicht schießt, wenn man es nicht mag. Die Marketingabteilung weiß eh nicht, was nie zu sehen sein wird. Das weiß nur ich. Und es gibt Bilder, die ich nie machen würde, zum Beispiel, wenn jemand nackt ist. Selbst wenn der Schauspieler oder die Schauspielerin meine Anwesenheit erlauben würde. Aber sie sind nicht dumm, sie wissen, daß der Fotograf ein Freund sein kann, aber es ist nicht gewährleistet, wohin das Bild gelangen könnte, denn das hängt nicht vom Fotografen ab. Wenn es denn ganz furchtbar wichtig ist für einen Film, dann kann man anschließend etwas arrangieren und gewisse Körperpartien können abgedeckt werden.

Oft stehen auf den Pressefotos nicht einmal die Namen der Fotografen. Wem gehören eigentlich die Rechte an den Bildern?

75% der Bilder der Ausstellung gehören mir. Ein Bild wie das von Bruce Willis, wie er sein Lunchpaket verdrückt. Ich weiß, daß das Studio dieses Bild nie im Leben verwenden würde. Laut Vertrag gehören alle Bilder dem Studio und diesen Vertrag muß man unterzeichnen, sonst bekommt man den Job nicht. Doch ein Bild wie das von Bruce, da wußte ich, daß ich das irgendwann noch einmal verwenden will. Ich habe einen Standardtext, den ich dann dem Schauspieler vorlege, in dem er seine Einwilligung gibt. Bruce hat das ohne mit der Wimper zu zucken unterschrieben. Damit werde ich dann beim Studio vorstellig. Doch das Negativ gehört weiterhin dem Studio. Bei jeder Ausstellung, jeder Katalogveröffentlichung muß ich um Erlaubnis fragen. Verkaufen darf ich das Bild nicht. Die denken wohl, ich würde damit Millionen scheffeln. Schön wärs...

Vor fünf Jahren haben Sie die Society of Motion Pictures Still Photographers gegründet.

Das war meine Idee, genau vor fünf Jahren. Aber der Gedanke beschäftigte mich schon seit Jahren. Meine besten Freunde sind Kameramänner, zum Beispiel Vilmos Zsigmond und László Kovács. Die ASC ist wahrscheinlich die älteste Organisation in Amerika in der Filmbranche und sie ist ein fantastischer Verein. Man kann sich treffen und sich austauschen. Eine wichtige Sache. Wenn es so etwas für die Kameramänner gibt, warum gibt es das nicht auch für die Standfotografen? Am Anfang waren wir zu fünft, heute sind wir 23 aktive Mitglieder und 4 Ehrenmitglieder. Das ist ungefähr 10 % unserer Branche in Amerika. Die Organisation steht jedem offen, jeder kann sich bewerben, gleich welcher Herkunft. Wir sehen uns dann die Fotomappe des Bewerbers an und stimmen ab. Dieses Auswahlgremium besteht hauptsächlich aus dem Vorstand und drei Freiwilligen.

Und welche Aufgaben hat sich die Organisation gesetzt?

Vor fünf Jahren haben wir mit einer Ausstellung begonnen. Wir zeigten der Branche unsere Arbeiten. Wir stellten uns vor. Wir arbeiten übrigens in einer Branche, in der wir es immer schwerer haben. Inzwischen kann jeder einen Fotoapparat bedienen und Bilder machen. Man möchte für seine Arbeit die nötige Anerkennung bekommen. Doch wir haben zwei Hauptziele, vielleicht drei: Zu allererst möchten wir ein Forum bieten, in dem man sich mit Kollegen austauschen kann. Es soll die Möglichkeit bestehen, sich freundschaftlich, ohne Konkurrenzdruck, über Laboreinrichtungen und technischen Neuerungen zu unterhalten.
Eine konkrete Aufgabe ist es, dem Archiv der Motion Picture Academy Material zu beschaffen. Das Archiv der Academy ist das beste im Land. Was den Hollywood-Film anbelangt, gibt es so etwas kein zweites Mal. Sie haben alles, was sie je in die Finger bekommen konnten. Ein Beispiel: Die Erben von Mary Pickford haben dem Archiv eine ganze Wagenladung an Photos überlassen. Bilder, die man so nie gesehen hatte. Als wir mit unserer Arbeit begannen, stellten wir fest, daß das Archiv in den letzten 20 Jahren nur die sogenannten Pressefotosätze von den Studios bekommen hatte. Schlechte Bilder in noch schlechterer Qualität. Wir arbeiten also daran, daß jeder Fotograf jeweils bei einem Film fünf Bilder seiner Wahl an das Archiv gibt. Hochwertige Abzüge, mit Silberanteil, nicht Plastik, so daß der Abzug in 30 Jahren nicht verblasst oder gar verschwindet.
Ferner habe ich den persönlichen Wunsch, der noch wie ein Traum ist, daß in einer nahen Zukunft auch das Studio uns unterstützt. Inzwischen werden wir ja anerkannt und geschätzt. Früher war es noch so, daß man nach Abschluß von Dreharbeiten sich ein paar Bilder aussuchen konnte. In den letzten 15 Jahren gibt es so etwas nicht mehr. Die Studios wissen, daß sie die Bilder auch noch in 50 Jahren in einem Package verwenden können. Ich würde aber gerne die Rechte an einigen Bilder für die Society haben. Nicht um sie zu Geld zu machen, sondern damit die Society sich ein eigenes Archiv aufbauen kann. Dann könnten wir ohne zu fragen Ausstellungen veranstalten und Bücher verlegen.

Ist die Gestaltung von Filmplakaten eigentlich eine Nebenbeschäftigung oder ein Hobby?

Eine Nebenbeschäftigung. Bei weit mehr als der Hälfte der amerikanischen Filme werden die Plakate nicht vom Setfotografen gestaltet. Man nimmt ein Foto des Stars und packt das auf das Plakat. Doch bei den Filmen, bei denen ich engagiert bin, da läßt man mich meist auch das Plakat machen. Bruce Willis ist ein gutes Beispiel. Kurz vor Beendigung der Dreharbeiten kommt normalerweise der Präsident der Marketingabteilung ans Set und legt dem Star des Filmes ein Konzept vor. Der wählt dann den Entwurf aus, der ihm gefällt. Willis jedoch wehrt dann ab. Wozu einen Fremden beauftragen, wenn ich doch schon da bin. Das Plakat zu Mercury Rising stammt zum Beispiel von mir. Ich rede dann mit der grafischen Abteilung über meine Ideen. Zuletzt habe ich das Plakat zu Magnolia gestaltet. Ein seltsamer Film. Am Ende regnet es Frösche vom Himmel. Zehntausende von Plastik-Fröschen. Das ist so ein bizarrer Einfall, sehr grafisch, das mußte ich einfach aufgreifen. Diese Frösche waren absolut lebensecht, ich hätte schwören können, sie seien echt. Die waren aus so einem elastischen Plastik. Leider wurde die Szene nachts gedreht. Ich habe mich dann mit den Jungs vom Set abgesprochen. Ich legte mich auf den Boden und bat fünf Leute, diese Frösche so in Luft zu werfen, daß sie in meine Richtung fallen würden. Man hat dann diese Idee auch verwendet. Oft ist es so, daß die Marketingleute sich wehren. Ich als Fotograf solle ihnen nicht sagen, was denn nun gut aussehen würde, aber oft übernehmen sie doch meine Entwürfe.

Eneh

Das Interview wurde am 30. November 1999 in Toruń (Polen) anlässlich der Ausstellung “Filmscapes” geführt.

Aus dem Archiv an Texten für den Film & TV Kameramann (heute Film & TV Kamera), 2000.

Kurzbiographie

Peter Sorel wurde als Péter Szentmiklósi 1938 in Budapest geboren. Bereits mit 13 Jahren interessierte er sich für die Fotografie. Den ungarischen Aufstand von 1956 erlebte er als Jura-Student. Er verließ Ungarn und lebte bis 1959 in einer österreichischen Flüchtlingsunterbringung. Dort begann er auch wieder zu fotografieren. Er verliebte sich in ein Mädchen und gemeinsam wanderten sie in die USA aus. Unter anderem arbeitete Sorel in einem Fotolabor, wo er die Abzüge berühmter Fotografen vergrößerte und sich besonders auf dem Gebiet der Schwarzweiß-Fotografie fortbilden konnte. Bei einer Veranstaltung in Los Angeles zur Erinnerung an 1956 lernt er 1959 Vilmos Zsigmond und László Kovács kennen. Die beiden ermutigen Sorel beim Film Fuß zu fassen. Bei zahlreichen Low Budget Filmen arbeitete er als Standfotograf und Kameraassistent. 1964 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1972 wurde er in die amerikanische Gewerkschaft aufgenommen, nicht zuletzt Dank des Erfolgs von Easy Rider. Fortan konnte er auch an großen Filmprojekten arbeiten. Neben seiner Arbeit als Standfotograf, gestaltet er häufig auch die Plakate zu “seinen” Filmen.

Filmografie (Auswahl) 1968: Easy Rider (Dennis Hopper) 1975: One Flew Over the Cuckoo´s Nest (Milos Forman) 1976: Close Encounters of the Third Kind (Steven Spielberg) 1979: Blues Brothers (John Landis) 1981: Missing (Constantine Costa-Gavras) 1988: Die Hard (John McTiernen) 1989: Ghost (Jerry Zucker) 1989: Dick Tracy (Warren Beatty) 1990: Dead Again (Kenneth Branagh) 1993: Fatal Instinct (Carl Reiner) 1995: Seven (David Fincher) 1997: American History X (Tony Kaye) 1999: Magnolia (Paul Thomas Anderson)

#AusDemArchiv #Interviews #SMPSP #Standfotografie #Filmgespräche

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Eine kleine Terrier-Hündin unternahm einmal eine Reise in die Arktis. Das ist sicherlich nur eine Fußnote in der Enzyklopädie der Entdeckungsreisen. Die Geschichte, die die Drehbuchautoren Kajsa Næss und Per Schreiner erzählen, hat sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen. Titina war eine streunende Hündin in den Gassen der italienischen Hauptstadt, als sie dem Ingenieur Umberto Nobile zulief, der sie bei sich aufnahm. Nobile baute “fliegende Schiffe”. Es war der norwegische Polarforscher Roald Amundsen, der, nachdem er schon den Südpol mit seiner Mannschaft als Erster erreicht hatte, sich dem Nordpol aus der Luft nähern wollte. Für eine Expedition per Luftschiff fragte er Nobile an, der eines seiner Flugobjekte umbaute, so dass dieses 1926 unter dem Namen “Norge” zum Nordpol aufbrach. Nobile war sicherlich nur der Kapitän und Ingenieur, der zusammen mit Amundsen auch noch diesen Flecken Erde erkunden wollte, aber seine Leistung war schließlich keine, die man so beiseiteschieben sollte.

Es war eine Zeit der Entdeckungen und es war eine Zeit der Wettläufe. Wer als Erster etwas entdeckt und vollbringt, dem fliegen Anerkennung und Ruhm zu. Um es kurz zu machen, Nobile und Amundsen stritten sich um den Ruhm. Den Namen Amundsen kennt vielleicht heute auch nicht mehr jedes Kind, aber von Umberto Nobile haben noch viel weniger Leute gehört. Dabei sind beide Namen eng verknüpft. Die norwegische Regisseurin Kajsa Næss erzählt in ihrem Animationsfilm, übrigens nach sehr erfolgreichen Kurzfilmen ihr Langspielfilmdebüt, von der Reise, die diese beiden Forscher gemeinsam unternommen haben und von der Konkurrenz zwischen den beiden. Immer wieder baut Næss Archivaufnahmen von Amundsen, Nobile und auch seinem Hund mit ein, so dass das Publikum die doch so einfach wirkende Geschichte einordnen kann. Denn die Erzählperspektive ist die der kleinen Hündin. Titina kümmert sich nicht um Ruhm und ihr ist sicherlich auch egal, ob sie sich auf einem Luftschiff über der Arktis oder in den italienischen Gassen befindet. Sie ist eine unparteiische Beobachterin.

Die Animation ist klar und flächig, aber sehr detailreich. Kajsa Næss fängt sowohl die italienischen Städte, die norwegischen Häfen und die arktische Landschaft wunderbar ein. Ihr Film lief zum Beispiel auf dem tschechischen Filmfest Zlín, das sich dem Kinder- und Jugendfilm verschrieben hat und wo die Kinderjury “Titina” in ihrer Kategorie ausgezeichnet hat. Auch das sächsische Kinderfilmfest Schlingel in Chemnitz hatte den Film im Programm und das Internationale Trickfilmfestival Stuttgart führte “Titina” sogar im Hauptwettbewerb. Næss zeigt die Rivalitäten, aber zeigt die Hauptfiguren in all ihrer Komplexität, ihren unterschiedlichen Ambitionen und Intentionen. Bei ihr sind diese historischen Figuren keineswegs Helden, sondern widersprüchliche Menschen mit Fehlern und Kanten. Und gerade dadurch gibt sie ihnen etwas sehr Menschliches.

Der Animationsfilm “Titina” ist ein Abenteuerfilm für kleine und große Zuschauende. Es geht vordergründig um Entdeckerdrang und Konkurrenz. Dazu kommt noch eine Prise Nationalstolz für eine norwegische Leistung oder eben für eine italienische Leistung. Denn nicht nur bei Fußball-Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen gilt es als Nation über andere zu triumphieren. Dieser Aspekt wird durchaus mit eingebaut. Und so macht sich der im Streit unterlegene Nobile zu einer zweiten Expedition auf, um die Reise zu wiederholen.

Sein Flugschiff heißt nun “Italia”. Es ist keine Geschichte des Erfolges, es ist vielmehr eine behutsame Erzählung, was Eitelkeit und der Drang besser, schneller, Erster zu sein, mitunter kostet. Für einen Hund spielt all das keine Rolle. Und auch Amundsen wollte dem einstigen Freund in der Not beistehen. Wer die Geschichte nicht kennt, dem werde ich sie auch nicht verraten. So viel sei dennoch gesagt, “Titina” erzählt von einer Expedition, aber auch von einem Zusammenhalt, vom Bedauern und vom Verzeihen. Themen, die zumeist vernachlässigt werden.

Eneh

Spielfilm, Animationsfilm, Kinderfilm Originaltitel: Titina Regie: Kajsa Næss Drehbuch: Kajsa Næss, Per Schreiner Kamera: Cecilie Semec Schnitt: Anders Bergland, Jens Christian Fodstad, Zaklina Stojcevska Musik: Kåre Vestrheim Land Norwegen / Belgien 2022 Länge 92 Minuten Verleih: Grandfilm Kinostart: 2. November 2023 Festivals: Zlín 2023 / Schlingel 2023 / Trickfilmfest Stuttgart 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Animationsfilm #Kinderfilm #Grandfilm

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“Anselm – Das Rauschen der Zeit” heißt Wim Wenders' Hommage an den Universalkünstler und persönlichen Freund Anselm Kiefer. Wenders und Kiefer kennen einander seit gut 30 Jahren. Beide sind 1945 geboren und haben ähnliche Nachkriegserfahrungen machen können. Das Schweigen über die Vergangenheit war Kiefers Sache nie. Seine Kunst sollte der Gesellschaft durchaus auch einen Spiegel vorhalten. Wim Wenders führt sein Publikum allerdings nicht in eine Biographie ein, sondern ermöglicht ihm, zumal in 3D, so wie er es bereits bei seinem Film über die Tänzerin und Choreographin Pina Bausch gemacht hatte, das monumentale Werk des Künstlers sinnlich zu erfahren.

“Anselm” mag als Dokumentarfilm gehandelt werden, aber vielmehr ist es ein Essay, ein Experimentalfilm. Gleichzeitig ist es aber auch in Teilen ein Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Anselm Kiefers Themen des Verfalls und des Krieges, des Todes und der Zerstörung werden hier mit der gesichtslosen Figur der idealisierten Frau, herunter gebrochen auf ein Brautkleid, eingeführt. Es sind flüsternde Stimmen, die das Publikum sowohl verwirren als auch hypnotisieren. Erst dann geht es in einer der Fabrikhallen, die Kiefer gemietet hat, um sie als Atelier zu nutzen. Riesige Räume, die nur die Kamera aus der Höhe fassen kann, sonst hätte man das Gefühl, man gehe zwischen den wuchtigen Werken, die nicht nur aus Farbe, sondern aus organischen Materialien wie Sand und Stroh und Stoff bestehen, verloren.

Der Meister selbst radelt durch diese Hallen und radelt quasi auch durch das, was man eine biographische Einordnung nennen könnte. Doch Wenders fordert sein Publikum subtil. Er erklärt den Künstler nicht, er erklärt auch die Werke nicht. Er ermöglicht jedoch eine Interpretation. Man schaut Kiefer beim Denken zu und manchmal bedeutet das auch, dass man ihn auf einer Wiese mit einer Sonnenblume sieht. Wenders führt kein Interview. Kiefer erklärt sich auch nicht selbst. Um trotzdem auch auf die Vergangenheit zu kommen, springt sein Sohn Daniel Kiefer ein und spielt ihn als jungen Mann zu einer Zeit, als dieser sich durchaus skandalträchtig gegen das Vergessen stemmte. Wenders geht sogar noch einen Schritt zurück und lässt ein Kind (seinen Großneffen Anton Wenders) den nachdenklichen und staunenden Anselm der Nachkriegszeit spielen, als die Spuren des Krieges und seiner Verwüstung noch alles beherrschten.

Es ist nicht nur allein die 3D-Technik, die Kiefers Kunst auf eine Weise erfahrbar macht, sondern auch die Perspektive, die die Kamera von Wenders treuen Weggefährten an selbiger, Franz Lustig, und dem Stereografen Sebastian Cramer, einnimmt, wenn sich Bildelemente überlagern oder den Künstler winzig neben seine Bilder werden lässt. Darüber hinaus wendet Wim Wenders eine Tonspur mit Geräuschen, Flüstern, Originalstimmen mit Zitaten von Inspiratoren wie Paul Celan und Ingeborg Bachmann und einer suggestiven Musik an, die Kiefers Sinne für Mythos und Geschichte spiegeln.

“Anselm – Das Rauschen der Zeit” ist im Wesen eine poetische Annäherung an Anselm Kiefer. Eine Museumsausstellung könnte Anselm Kiefer nur in Teilen gerecht werden. Wim Wenders hat dafür die Leinwand und er weiß sie zu nutzen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Anselm – Das Rauschen der Zeit Regie: Wim Wenders Kamera: Franz Lustig Schnitt: Maxine Goedicke Musik: Leonard Küßner Mit Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders Deutschland 2023 93 Minuten Verleih: DCM Kinostart: 12. Oktober 2023 Festivals: Cannes 2023 / Hamburg 2023 / Zürich 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Dokumentarfilm #DCM

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Luc Bessons neues Drama “DogMan”, das auch dem Genre Thriller zugeordnet werden kann, wird das Publikum spalten. Einige werden darin eine kalkulierte, oft alberne Comic-Schmonzette sehen, die an den nicht unähnlichen “Joker” (2019 mit Joaquin Phoenix) nicht ganz herankommt, andere werden über dramaturgische Schwächen hinwegsehen und zu Herzen gerührt sein.

Premiere feierte “DogMan” in Venedig, wo sogleich, und das soll nicht unter den Teppich gekehrt werden, kritisiert wurde, dass das Festival Besson, einer unter den problematischen Regie-Männern, eine Bühne geben würde. Darüber ging wohl verloren, dass die Teilnahme an einem der großen A-Festivals, für einen für Gewalt- und Action-Filmen bekannten Regisseur sehr wohl eine Überraschung war.

Seine frühen Regiearbeiten wie “Im Rausch der Tiefe” (1988), “Nikita” (1990) und “Léon – Der Profi” (1994) sind Klassiker geworden. Mit “Das fünfte Element” (1997) wechselte er erfolgreich ins Science-Fiction-Genre, um dann aber mit “Angel-A” zu enttäuschen. Jahrelang arbeitete Besson als Produzent, sein letzter, etwas überdimensionierter Film war wohl “Valerian – Die Stadt der tausend Planeten” (2017).

“DogMan”, der von einer engen Verbindung von Mann und Hund handelt, und der bitte nicht mit “Dogman” von Matteo Garrone von 2018 verwechselt werden sollte, knüpft in der Tat an die alte Handschrift von Besson an. Besson wirft hier alles in die Waagschale. Sein Film ist episch, tragisch, komisch und skurril. Er schreckt vor religiösem Pathos und zahlreichen Klischees nicht zurück. Und doch rührt seine Hauptfigur, die lautmalerisch Doug heißt, zu Herzen, während die unzähligen Hunde jede Szene für sich erobern. Kann man so treuherzigen Kampftieren böse sein?

Mit Doug, für dessen Rolle Besson den amerikanischen Schauspieler Caleb Landry Jones (“Three Billboards Outside Ebbing, Missouri”) gewinnen konnte, hat “DogMan” einen tragischen Antihelden, eine von der Gesellschaft ausgeschlossene Figur, die sich gar nicht darum bemüht, wieder ein Teil dessen zu werden. Doug ist von außen betrachtet ein Einzelgänger, aber er hat seine Familie. Seine Familie sind seine Hunde, die ihn bedingungslos lieben und unterstützen und für ihn neckische Raubzüge vollbringen. Neben der Hundeschar, für die es einen Stab an 15 Hundetrainer*Innen gab, braucht es Präsenz, um zu bestehen. Caleb Landry Jones' Spiel wird in Erinnerung bleiben, soviel steht fest.

Wie Doug zu seinen Hunden kam, und sie spirituell und emotionell als seine Retter annahm, erzählt Doug im Gespräch in seiner Gefängniszelle. Denn nachdem er bzw. seine Hunde eine ganze Gang an Latino-Schurken trickreich ausgelöscht haben, kann sein Weg nur noch in die eigene Auslöschung bzw. in eine spirituelle Erlösung führen. So wählt denn Besson dramaturgisch die Erzählung durch Rückblenden und verknüpft diese mit den Gewalterfahrungen, die sein Gegenüber, die Polizeipsychologin Evelyn (Jojo T. Gibbs), selbst gemacht hat. Die Welt nach Luc Besson ist eine gewalttätige. Die Hunde dagegen lieben einen Menschen bedingungslos und konsequent. Die Wahlfamilie ist hier die wahre Familie.

Subtil ist Luc Besson nicht. Mit breitem Pinselstrich malt er seine Figuren und setzt der Dramaturgie immer noch einen drauf, auch wenn das bedeutet, das Genre zu wechseln. Doch Besson schafft es, Mitgefühl zu wecken. Doug wählt die Distanz zu seinen Mitmenschen und auch zu seinem Publikum.

Geschunden und mit Behinderung lebt er seine Lebensfreude aus, indem er singt. Für kurze Zeit löst er sich von den physischen Fesseln seines Rollstuhles und performt französische Chansons in Gestalt einer Drag-Queen. Zu kritisieren gäbe es daran so einiges und doch schafft es Besson seiner Figur eine Seele einzuhauchen, die das Publikum erkennt, wenn es nicht sogar eine Träne vergießt. Hier besinnt sich Luc Besson an seine alten Filme und damit hebt er sich auch von den kalten Thrillern nach dem Millenium ab. Wie gesagt, nicht jedem wird “DogMan” gefallen, aber das Wagnis sollte man unbedingt eingehen.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: DogMan Regie: Luc Besson Drehbuch: Luc Besson Kamera: Colin Wandersman Schnitt: Julien Rey Musik: Eric Serra Mit Caleb Landry Jones, Christopher Denham, Marisa Berenson, Michael Garza, Clemens Schick, Jojo T. Gibbs, Eric Carter, Avant Strangel, Grace Palma, James Payton, Derek Siow, John Charles Aguilar, Naima Hebrail Kidjo, Ambrit Millhouse, Lincoln Powell, Corinne Delacour, Aven Campau, William Sciortino, Luing Andrews Frankreich / USA 2023 114 Minuten Verleih: Capelight Pictures Kinostart: 12. Oktober 2023 Festivals: Venedig 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #CapelightPictures

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Jean Newman (Rosy McEwen) ist Sportlehrerin. Sie ist beliebt an ihrer Schule. Sowohl im Lehrkörper als auch bei den Jugendlichen. Was keiner an der Schule weiß, ist, dass sie lesbisch ist. “Blue Jean”, das Langspieldebüt der Britin Georgia Oakley (“Little Bird”), spielt in der restriktiven Thatcher-Zeit.

1988 wurde unter Margaret Thatcher die sogenannte “Section 28”-Gesetzeserweiterung parlamentarisch verabschiedet. Fortan durfte die ohnehin schon konservative britische Gesellschaft mit “Homosexualität” nicht mehr belästigt werden. Jede Förderung derselbigen war ein Verstoß.

Für Jean bedeutet dies, dass sie, sollte herauskommen, dass sie lesbisch sei, sie mit sofortiger Wirkung vom Schuldienst ausgeschlossen werden würde. Somit wird sie nicht nur in ein Doppelleben gezwungen, sie kann aus reinem Selbstschutz sich auch nicht den Gegenbewegungen anschließen, so wie es ihre Lebensgefährtin Viv (Kerrie Hayes) tut.

So fern ist diese Zeit gar nicht. Immer noch werden LGBTQ-Menschen unterdrückt oder gar mit dem Tod bedroht. Auch heute gibt es entsprechende Gesetze, die Darstellungen von Homosexualität verbieten. Auch innerhalb der EU. Was machen Gesetze dieser Art mit den Menschen, die von diesen ausgegrenzt werden? Georgia Oakley, geboren 1988, berichtet, dass sie selbst gar nicht wusste, dass es die “Sektion 28” gab. Sie selbst war damals im schulpflichtigen Alter und wunderte sich, dass sie so gar keine Vorbilder für ihr Empfinden fand. Erst die Beschäftigung mit den Auswirkungen dieses Gesetzes öffnete ihr die Augen.

Georgia Oakleys Figuren sind Menschen, wie du und ich. Oakley stellt die Verordnungen und die Nachrichten der Zeit in den Hintergrund, der allerdings allumfassend die davor handelnden Figuren einengt. Aus eben jenen Nachrichten erfahren wir von der Stimmung im Land. Auch wenn die Hauptfigur, Jean, diese Nachrichten wegschalten möchte.

Um diese bedrückende Atmosphäre geht es Oakley hauptsächlich. Sie unterstreicht die Stimmungen mit einer spezifischen Farbgebung, die man bewusst oder unbewusst mit aufnimmt. Pastelltöne kennzeichnen die heteronormativen Lebenswelten. Kräftigere Farben werden in jenen Bereichen eingesetzt, in denen Jean in ihrer Freizeit verkehrt.

“Blue Jean” ist ein wirklich wichtiger Zeitepochenfilm über die damaligen Repressionen. Dabei sind die Figuren der Jean, einer Lehrerin, ihrer Freundin und Aktivistin Viv und einer Schülerin an Jeans Schule Stellvertreterinnen für einen konkreten Konflikt, für den es hier keine einfache Lösung gibt.

Lois (Lucy Halliday) ist eine der Schülerinnen von Jean. In der Schule wird sie gemobbt. Lois, die neu in die Klasse gekommen ist, positioniert sich in der Folge abwehrend gegen das It-Girl der Klasse. Jean trifft Lois in ihrer Freizeit zufällig in einer Lesbenbar. Das Erkennen des jeweils anderen bringt beide in eine Abhängigkeitssituation. Wenn Lois Jeans Identität aufdeckt, ist sie ihren Job los. Wenn Jean Lois verleugnet, zerstört sie ein Leben, das ihr als Lehrerin doch anvertraut worden ist.

“Sektion 28” bedeutet nicht nur die Stigmatisierung von Homosexualität. Es sollte im Schulbereich ausschließlich negativ darstellt werden, zugunsten traditioneller Familienbilder. Ein Spagat den Jean nicht packt. Sie trifft eine falsche Entscheidung.

“Sektion 28” wurde erst, man mag es kaum glauben, im November 2003 abgeschafft. Georgia Oakleys Debüt ist ein überzeugender Film, der seine Figuren mit allen Schattenseiten vermittelt. Mit leisen Tönen wird eine Hauptfigur mit ihren Schwächen darstellt. Jean ist alles andere als eine Aktivistin. Ihr Zögern, ihr Nichthandeln setzen sie in einen Konflikt mit ihrer Freundin, die Haltung fordert, und es bricht einem das Herz, wie sehr ein noch junger Mensch wie Lois ein Platz in der Gesellschaft verwehrt wird.

“Blue Jean” lief letztes Jahr auf dem Filmfestival in Venedig und wurde dort mit dem Publikumspreis der Sektion »Giornate degli Autori« ausgezeichnet. Die British Independent Film Awards zeichneten darüber hinaus die Darstellungen der beiden Hauptfiguren, Rosy McEwan und Kerrie Hayes (als Nebendarstellerin) aus. Georgia Oakley gewann den Preis als beste Drehbuchdebütantin.

In Deutschland wurde “Blue Jean” im Rahmen des Queerfilmfestes vom Verleih Salzgeber vorgestellt und seit letzter Woche läuft der Film regulär im Kino. “Blue Jean” ist sowohl vom Setting, vom Schauspiel und der Umsetzung ein eindrucksvolles Debüt und absolut empfehlenswert.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Blue Jean Regie: Georgia Oakley Drehbuch: Georgia Oakley Kamera: Victor Seguin Schnitt: Izabella Curry Musik: Chris Roe Mit Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday, Lydia Page, Becky Lindsay, Maya Torres, Ellen Gowland, Amy Booth-Steel, Stacy Abalogun, Izzy Neish, Kate Soulsby, Lainey Shaw, Farrah Cave, Deka Walmsley, Gavin Kitchen, Emily Fairweather, Aoife Kennan, Scott Turnbull, Dexter Heads Großbritannien 2022 97 Minuten Verleih: Salzgeber Kinostart: 5. Oktober 2023 Festivals: Venedig 2022 / Zürich 2022 / Rotterdam 2023 / Sydney 2023 TMDB

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#Filmjahr2023 #Filmkritik #Spielfilm #Salzgeber #GeorgiaOakley

© Eneh