Cineneh

Filmjahr2024

Bella Baxter (Emma Stone) ist das arme Wesen, dass erst lernen muss, Besteck zu gebrauchen. Wie eine Ente watschelt sie durch das Herrenhaus ihres Ziehvaters, Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe). Der heißt nicht zufällig so. Er trägt den Schöpfer, Gott, im Namen, und ist entstellt, während sie die Schöne und die Unschuld ist. Nur eben noch ganz un-erzogen und Kind-gleich.

Dennoch lebt dieses Wesen im Körper einer erwachsenen Frau. Trotz einer Kamera, die hier zu Beginn einen subjektiven, wenn nicht gar verzerrten Blick auf den Raum gibt, der hier zum Ausgangspunkt von Bella Baxters Geschichte wird, bemerkt man, dass so einiges seltsam ist. Als hätte man Körperteile auseinandergenommen und sie nicht wieder “richtig” zusammensetzen können. Doch in der Veränderung liegt der Schlüssel zu neuen Erkenntnissen. Bella ist sich zuerst nur “Gott” bewusst, der sie, zugegeben mit viel Hingabe und auch Zärtlichkeit, zu erziehen trachtet. Dafür holt er auch einen Assistenten (Ramy Youssef) ins Haus, der ihre Entwicklung minuziös protokollieren soll.

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos galt 2009 mit seinem Film Dogtooth als Entdeckung. Mit The Lobster, Untertitel Hummer sind auch nur Menschen, eine skurrile Verwandlungsfantasie, etablierte sich Lanthimos im Arthouse-Bereich. Weit zugänglicher war sein Porträt von Queen Anne in The Favourite – Intrigen und Irrsinn, der Humor mit Traurigkeit (oder umgekehrt) zu verbinden wusste. Neben zahlreichen Auszeichnungen konnte The Favourite in seinem Jahrgang fast alle Europäischen Filmpreise für sich verbuchen. Bereits hier hatte Lanthimos Emma Stone eine Nebenrolle gegeben. Dass weit mehr in ihr steckt, beweist sie mit Poor Things. Womit Lanthimos für Emma Stone wohl genauso gern ein Dr. Baxter wäre.

Emma Stones Bella, ein frankensteinisches Geschöpf, saugt Wissen auf, wie ein verdorrter Schwamm. Vor unseren Augen erstrahlen ihre Augen, wann immer sie etwas entdeckt. Abgeschottet von der Welt, will sie hinaus aus dem Herrenhaus. Einmal hinausgekommen, kann man sie nicht mehr halten.

Mitnichten begnügt sie sich mit einem Assistenten. Sie lernt den Lebemann Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) kennen und brennt mit ihm durch. Noch ein Mann, der sie formen will nach seinem Ermessen und noch ein Mann, dessen Fassade sie einreißt, dessen Charakter sie entlarvt und den sie an sich selbst zerbrochen zurück lassen wird.

Konventionen und Gepflogenheiten, die guten Sitten und die Regeln des Zeitalters, hier die Viktorianische Zeit, gelten aus der Sicht eines Wesens, das frei von all diesen Hemmschuhen sich aus sich heraus entwickelt hat, nichts. Das darf man sich mal vorstellen. Natürlich entdeckt sie auch ihren Körper. Und was man damit anstellen kann. Und sie hat Freude daran. London hat sie da schon längst verlassen und nachdem sie über die Meere geschippert ist, landet sie dort, wo böse Mädchen weiterkommen. Es ist ein Spaß.

Yorgos Lanthimos hat sich für Poor Things das Buch des Schottischen Autors Alasdair Gray vorgenommen. Sein Roman Arme Dinger: Episoden aus den frühen Jahren des schottischen Gesundheitsbeamten Dr. med Archibald McBandless, ursprünglich 1992 veröffentlicht und 2000 auch auf Deutsch übersetzt, ist die Vorlage, aus der Lanthimos zusammen mit dem australischen Drehbuchautoren Tony McNamara, der auch schon für The Favourite verantwortlich war, dem Kanon der Frankenstein-Adaptionen ein neues Kapitel hinzufügt.

Bella weiß zuerst nichts von ihrer Herkunft. Aber Herkunft ist hier nur ein weiterer Puzzlestein im großen Ganzen. Bella auf ihrer Reise zur Selbstermächtigung und Erkenntnis zu begleiten ist das eine. Poor Things, den man gerne mehrmals anschauen möchte, um mehr und mehr der Referenz- und Zitat-Kaskaden einfangen zu können, handelt von der Lust an der Erforschung und der Freunde am Wissen. Das ist in einer vermehrt wissensfeindlichen Mainstreamzeit schon mal außergewöhnlich. Poor Things funktioniert als Komödie genauso gut, wie auf der Metaebene, die die Vorlagen aufgreift und das Publikum damit anlockt.

Aber machen wir uns nichts vor. Es ist ein männlicher Blick, der hier Bella Baxter ein- und vorführt. Bella hält in ihrer offenen und ehrlichen Art und ohne Worte zu verklausulieren den anderen Figuren zwangsläufig den Spiegel vor. Das filmische Geschöpf aus Vorlage, Umsetzung und Inszenierung wiederum sollte nun uns den Spiegel vorhalten. Nur Bedenken kommen hier nicht auf. Wissen ist Lust, Lust ist gut. Bella optimiert sich ohne auch nur einmal auf die Bremse zu treten. Da lässt der Film keinen Raum mehr übrig, etwas Zweifel ist also schon angebracht.

Poor Things feierte seine Premiere 2023 auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig und gewann dort prompt den “Goldenen Löwen” als besten Film. Seitdem sammelt auch dieser Film in allen darstellerischen als auch künstlerischen Gewerken die Preise ein. Damit gilt Poor Things als einer der besten und wichtigsten Filme des Kinojahres 2023 mit hohen Chancen für eine Nominierung am 21. Januar 2024 auf den vordersten Plätzen bei den 96. Academy Awards, die am 10. März 2024 verliehen werden.

Eneh

Spielfilm Originaltitel: Poor Things Regie: Yorgos Lanthimos Drehbuch: Tony McNamara Vorlage: Alasdair Gray Kamera: Robbie Ryan Montage: Yorgos Mavropsarides Musik: Jerskin Fendrix Mit Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Suzy Bemba, Jerrod Carmichael, Kathryn Hunter, Vicki Pepperdine, Margaret Qualley, Hanna Schygulla Großbritannien / Irland / USA 2023 142 Minuten Kinostart: 18. Januar 2024 Verleih: Walt Disney Studios Festivals: Telluride 2023 / Toronto 2023 / Viennale 2023 TMDB

zuerst veröffentlicht: der Link führt zum BAF-Blog

#Filmjahr2024 #Filmkritik #Spielfilm #WaltDisneyStudios

© Eneh